Gestern las ich eine Todesanzeige in der Zeitung, zwei Menschen waren am selben Tag gestorben, ein Paar, ein Ehepaar. Heute morgen um 4.30 Uhr bin ich aufgewacht, weil mir die Anzeige nicht aus dem Sinn ging.
Ich kannte den Mann, Wolfram Bickerich. Als ich ich zum „Spiegel“ kam, war er schon da. Gemeinsam leiteten wir das Ressort D 1, wie es im Kosmos des damals ungeheuer stolzen, ungeheuer arroganten Magazins hieß. Ein kleines, aber ungemein wichtiges Ressort, denn dort landeten die unfertigen Manuskripte aus der Bonner Redaktion (wir sind weit von der Wiedervereinigung entfernt) an. Geschrieben von vorzüglich verdienenden Kollegen, die intern Trüffelschweine genannt wurde, weil sie Woche für Woche „News“ anschleppten – Informationen, die in raunenden Artikel mündeten. An jedem Freitag (das Blatt erschien noch Samstags), den Rudolf Augstein werden ließ, kämpften sie um ihre Sätze und taten dann am Montag bei Belobigung so,, als hätten sie die Artikel Wort für Wort selber geschrieben.
Wolfram Bickerich war einer von den Bonnern. Da er schreiben und denken konnte, hatte ihn die Chefredaktion nach Hamburg geholt. Er saß in seinem nicht eindrucksvollen Büro, hing schräg im Stuhl, die Schuhe ausgezogen, war mit Schere und Kleber ausgerüstet. Die Manuskripte zerschnitt er, klebte die Teile neu zusammen und redigierte mit seiner krakeligen Handschrift zielsicher, so dass druckbare Artikel entstanden. Computer standen noch nicht auf den Schreibtischen.
Er imponierte mir mit seiner Ruhe, seiner Geduld, seiner Sicherheit. Ich fand, er ließ sich viel zu viel von den Bonnern gefallen. Er war ein Pastorensohn und trug die Bürde mit Ironie und Abgeklärtheit. Solidarisch mit mir war er in einem gewissen Maße, aber eben nur soweit, wie seine Sonderstellung ungefährdet blieb. Denn mich bekämpften die „Bonner“. Ich war keiner Ihren. Ich kam von der „Zeit“, die analysierte, aber keine Skandale aufdeckte – klein, fein und unwichtig aus der Sicht des „Spiegel“. Was jedoch noch schlimmer war: Solche Gestalten wie mich holte die Chefredaktion, um mehr Denken und besseres Schreiben ins Haus zu bringen.
Es wird wohl ein knappes Jahr später gewesen sein, als Bickerich erkrankte. Multiple Sklerose, die mildere Form. Dann leistete er sich, was wohl nicht zum ersten Mal vorkam. Ich weiß es nicht mehr ganz genau, er gab wohl einen Artikel oder eine wichtige Information an die Konkurrenz weiter. Dummerweise konnte es ihm nachgewiesen werden. Aus Schwäche oder Geltungsbedürfnis neigte er zu Intrigen, die zumeist unglücklich ausgingen. Er wurde als Ressortleiter abgesetzt.
Ich hatte genug von ihm gelernt, so dass ich überleben konnte, trotz der Denunziationen der „Bonner“. Wenig später trat der Paradigmenwechsel im Hause Augstein ein und Stefan Aust wurde alleiniger Chefredakteur. Längere Zeit kam ich nicht gut aus mit ihm, schätzte dann aber mehr und mehr die Sicherheit, mit der er das Blatt revolutionierte: Namenzeilen, bunte Fotos, große Geschichten.
Als ich Wolfram Bickerich kennenlernte, wohnte er mit seiner Frau in einem Kapitänshäuschen in Blankenese. Als ihm die Ärzte MS bescheinigten, rieten sie ihm zu Stressabbau. Daraufhin trennte er sich von seiner Frau und zog in eine kleine Wohnung. Es gab in seinem Leben aber auch Brigitte Blobel, blond, charmant, temperamentvoll, erfolgreich als Autorin der „Bunten“, als Autorin von Frauenromanen und Kinderbüchern. Sie besaß eine schöne Wohnung in einer grauen Jugendstilvilla an der Aussenalster. Sie sagte zu Bickerich, wie er mir sagte: Was willst du alleine leben, komm zu mir, wir haben freie Bahn und deine Krankheit macht meiner Liebe nichts aus.
Was für ein Satz. Was für eine Größe. Die beiden wurden ein Paar. Sie heirateten. Und sie blieben es, bis zum Tod. Vielleicht bis in den Tod.
Öfter war ich bei Ihnen eingeladen. Ich hatte mich scheiden lassen und meine Frau wurde ebenfalls mit MS diagnostiziert, allerdings die harte Version. Das verband uns. Sie gaben Essen, luden umsichtig eine wunderschöne Frau ein, Hamburger, Typ Trophywife. Frau Blobel sagte, vergnügen Sie sich mit ihr, sie ist allein und interessant, Sie müssen sie ja nicht gleich heiraten. Ich war erstaunt, ich mochte das, ich mochte sie, ich fühlte mich wohl. Und hielt mich von der Schönheit fern.
Sie zogen weg. Erst nach Norddeutschland, dann weiter nach Südafrika, soviel ich weiß, dann nach Mallorca, wo wir uns über den Weg hätten laufen können. Ich bin nicht gut im Aufrechterhalten von lohnenswerten Bekanntschaften. Ich bekam mit, dass er ein Buch über Helmut Kohl schrieb. Ich dachte öfter an ihn über die Jahre. Er ging am Stock, wenn er mal, was selten war, im „Spiegel“ auftrat. Meine frühere Frau saß im Rollstuhl und starb im Jahr 2010, wie traurig.
Gestern stand im „Tagesspiegel“ eine Todesanzeige für Brigitte Blobel und Wolfram Bickerich, beide 81 Jahre alt geworden, beide gestorben am 7. August 2024. Ich verneige mich.