Treulos davon

Wir haben eine neue Wohnung bezogen. Darin fühlen wir uns sehr wohl, wir genießen das Urbane, dieses Abends-auf-die-Straße-gehen, Leute zu treffen, die wir erst seit kurzem kennen, die aber schon vertraut sind, im Restaurant über der Straße oder gleich nebenan oder einen Block weiter. Der Hund muss sich erst noch an die Stadt gewöhnen, denn er ist ein Landei, ein Waldhund, dem so ziemlich alles fremd hier ist, die Gerüche, die Geräusche, seltsame Menschen, die unverhofft an den Tisch treten, weil sie uns Zeitungen verkaufen wollen.

An mir fällt mir wieder einmal auf, wie treulos ich sein kann. Ich konnte schon immer gut weg gehen. Aus Städten. Aus Wohnungen. Bekannte, auch Freunde hinter mir lassen. Zuerst war Mainz, immerhin die Stadt, in der ich zehn Jahre gelebt hatte, zehn entscheidende Lebensjahre mit Studium, Promotion, Heirat, Geburt eines Sohnes. Dann Hamburg. Zwischendurch Amerika. Eine sehr schöne Wohnung in Winterhude, eingetauscht gegen eine Eigentumswohnung an der Elbchaussee. Dann Berlin. Jetzt zweiter Umzug innerhalb Berlins.

Ich bin weiß Gott nicht mehr der Jüngste und verlasse dennoch ohne Wehmut jetzt wieder einen sehr schönen Stadtteil mit viel Wald und zwei Seen. Tausche Urbanität ein. Das Alte streife ich ab und stürze mich ins Neue. Ohne Nostalgie. Warum ist das so?

Vielleicht liegt der Grund darin, dass ich in einer Stadt aufgewachsen bin, die man verlassen musste, wenn man vorankommen wollte. Also Übung im Weggehen früh in mir angelegt. Na ja, andererseits sind viele meiner Mitschüler zurückgegangen und haben ans Frühere angeknüpft. Für mich kam es nicht in Frage. Ich habe nicht einmal darüber nachgedacht. Das Verlassen muss tiefer in mir liegen.

Vielleicht ist eine existentielle Unruhe in mir angelegt. Sie könnte ihre Ursache in frühem Leid durch schwere Krankheit haben. Daraus mag eine innere Unabhängigkeit von äußeren Umständen entstanden sein. Diese Freiheit hat mir die Tuberkulose verschafft. Das ewige Lesen, das eine existentielle Note besaß, weil es mich vor der Langeweile, der Wiederkehr derselben Abläufe Tag für Tag bewahrte. Dazu diese Angst vor einer Operation und die Verstörung darüber, dass Menschen, die ich kannte, plötzlich starben. Da blieb eben die Notwendigkeit zum Rückzug auf mich selber.

Ich erzähle immer, mein heutiges Leben habe damals in Kutzenberg begonnen, in der Lungenheilanstalt, in die ich am Tag vor meinem 18. Geburtstag eingeliefert worden war. Die Selbstbeschäftigung war mir auferlegt. Es gab den Zwang zur Anpassung und der Zwang führte dazu, dass aus mir ein anderer wurde. Auch vorher hatte ich gelesen, aber jetzt bekam das Lesen eine andere Funktion für mich. Der Weg ins Innere vollzog sich nicht freiwillig. Die Freiheit, die mir die Krankheit verschaffte, war der Ausgang aus der Not, in die sie mich stürzte.

Natürlich frage ich mich, was aus mir geworden wäre, wenn ich nicht in Kutzenberg gelandet wäre. Wenn mein Leben einfach auf der Bahn weitergegangen wäre, auf der ich gestartet war. Wahrscheinlich wäre ich Lehrer geworden wie mein Bruder. Wahrscheinlich wäre ich im Mainzer Umland geblieben. Auch kein schlechtes Leben.

Die Unruhe hatte ihren Preis. Meine erste Ehe ging auch deswegen in die Brüche, weil meine Frau sich in der neuen Stadt Hamburg einsam fühlte. Ihre Kindheitsfreundin zog weg und dann war da niemand Vertrautes für sie, während ich viele Stunden arbeiten ging. Ein paar Jahre später wechselte ich nach Bonn aus beruflichen Gründen. Zu viel Veränderung für sie. Keine Kontinuität. Kaum war sie eingewöhnt, wollte ich weiterziehen. Scheidung.

Dabei bin ich eigentlich gar nicht sonderlich unruhig. Ich suche nicht nach Veränderung, ich sehne mich auch nicht danach. Aber wenn es sich anbietet, das Leben neu einzurichten, in einer anderen Stadt, in einem anderen Land, in einer anderen Wohnung, dann bin ich dabei. Eher als Unruhe ist es Neugierde, die mich antreibt. Neugierig kann man auch ohne Wohnung- oder Stadtwechsel sein. Man kann am selben Fleck bleiben und sich mit einer Philosophin beschäftigen oder mit einer Autorin. Judith Shklar lief mir über den Weg, ich hatte sie nicht gekannt. Sie ist das Äquivalent zu Hannah Arendt, ohne Ausflug in die Metaphysik. Chimamanda Ngozi Adichie wurde mir empfohlen und daraufhin las ich alles von ihr. Bob Dylan beschäftigte mich, weil ich herausfinden wollte, ob er zurecht den Literaturnobelpreis bekam (hat er).

Aber damit ist nicht verständlich gemacht, warum ich mit Städten auch Menschen verlasse Freunde, mit denen ich Zeit verbracht hatte, die mir gerade noch wichtig waren und dann plötzlich nicht mehr. Aus den Augen, aus dem Sinn. Moralisch ist dieser blinde Fleck fragwürdig. Man macht das nicht, man bleibt in Kontakt mit Menschen, die einem etwas bedeuten. Ich bringe es trotzdem fertig, als würde ich denken, alles hat seine Zeit und dann eben tschüs. Ich denke aber in dieser Phase des Übergangs gar nicht darüber nach, ob ich die Verbindung aufrechterhalten möchte oder nicht. Es passiert mir. Und diese Gedankenlosigkeit macht es noch schlimmer.

Ich würde es nicht mögen, wenn mich jemand so zurückließe, wie ich andere zurück lasse. Ich mag es auch nicht an mir. Es macht mich aber anscheinend sogar aus, dass ich zu dieser Treulosigkeit fähig bin. Mir fallen, während ich dies schreibe, etliche Namen ein, bei denen ich mich entschuldigen müsste.