Henry ist gestorben. Henry habe ich für eine Weile gut gekannt. Wir waren Freunde. Unsere Wege trennten sich, wie das so ist, wenn der eine aus einer normalen Familie stammt und der andere aus einem uralten Adelsgeschlecht. Manchmal wollte es der Zufall, dass ich irgendwo las, was ihm widerfahren war. Heirat. Erbfolge. Eine Geschichte, die sich um Kokain drehte. Vielleicht verfolgte Henry meinen Weg aus der Ferne so sporadisch wie ich den seinen.
Als ich 15 war, zog ich es vor, in ein Internat zu gehen. Die Lehrer am Schiller Gymnasium in Hof hatten mich auf dem Kieker, was ich ihnen aus der salomonischen Sicht von heute nicht einmal verdenken kann. Ich war faul, ich schwänzte den Unterricht. Ich war schlecht in Mathe und Physik. Ich war verwundbar, weil man mit zwei 5 im Zeugnis in Bayern durchfiel. Ich war 15 und in der 9. Klasse, mächtig pubertär. Die Herausforderung nahm ich an, kam durch ohne 5, wollte mich aber nach Bad Wiessee ins Internat begeben. Davon hatte mir Schnolzo erzählt, ein Freund, den ich beim Skifahren kennengelernt hatte.
Schnolzo war unfreiwillig dort, seine Eltern wollten es so. Ich wollte freiwillig dorthin, meine Eltern waren überrascht, aber einverstanden. So kam ich ins Internat. Genauer gesagt waren Internat und Schule getrennt. Das Internat war in Bad Wiessee, die Schule in Tegernsee. Jeden Morgen fuhren wir mit dem Schiff über den Tegernsee und nach der Schule zurück.
Wir waren höchstens 30 Schüler, darunter wenige Mädchen. Henry bezog das Zimmer gegenüber. Er war Neuling wie ich. Dieser Umstand verband uns. Wir mochten uns. Henry trug eine Brille und besaß Vergangenheit. Aus mehreren Internaten war er rausgeflogen, zuletzt aus St. Blasien. Henry war nicht der Schlaueste. Er ging in die achte Klasse, war genauso alt wie ich, aber zwei Klassen unter mir, also zweimal sitzengeblieben. Henry hatte ein Lernproblem.
Mit vollem Namen hieß Henry Heinrich Maximillian Egon Karl Prinz zu Fürstenberg. Er durfte und musste in Donaueschingen mit Durchlaucht angesprochen werden. Der Titel kommt aus dem Mittelhochdeutschen und bedeutet ursprünglich hell leuchten. Na ja, eine helle Leuchte war Henry nicht, aber ein netter Kerl, an den ich mich gerne erinnere.
Den gewaltigen sozialen Unterschied bemerkten wir immer dann, wenn ein Hubschrauber einschwebte und Henry fürs Wochenende heimholte. Er trug dann Blazer mit Einstecktuch und war weniger Henry als wochentags. Seinem Gesicht sahen wir an, dass ihm nicht wohl war, zur Familie zu fliegen. Wir bedauerten ihn und beneideten ihn zugleich. Hubschrauber! Schloss! Durchlaucht! Riesenvermögen! Sonntagabend war er zurück und wieder ganz Henry.
Bei der Erinnerung an Henry frage ich mich natürlich, warum ich ihn nicht mal angerufen oder geschrieben habe. Wie man sich eben nicht nur sinnvolle Fragen stellt, wenn jemand stirbt, den man kannte. Ich war nur für ein Jahr im Internat. Henry pflügte viele Internate durch.
Er sei nach langer Krankheit gestorben, heißt es in Nachrufen. Ruhe in Frieden, Henry.