Herrin des Verfahrens

Malu Dreyer ist eine sympathische, intelligente, menschenfreundliche Frau. Das lässt sich über nicht allzu viele Politiker und Politikerinnen sagen. Sie beherrschte zweifellos ihr Metier, denn sonst wäre sie nicht elf Jahre lang Ministerpräsidentin eines mittelgroßen Landes geblieben. Natürlich hat es auch Versäumnisse und Skandale in dieser Amtszeit gegeben, wobei die Katastrophe im Ahrtal hervorsticht.

Imponiert hat mir, dass sie mit ihrer Krankheit nicht hinter dem Berg hielt. Sie sagte, sie habe Multiple Sklerose und sei mit ihrer Krankheit im Reinen. Mehr ließ sich dazu nicht sagen, es war, wie es war. Sie wollte auch nicht mehr darauf angesprochen werden und erwartete Diskretion. Sie war Ministerpräsidentin, es ging um Politik, nicht um MS.

Es ließ sich aber gar nicht vermeiden, das sie bei jedem öffentlichen Auftritt  unter Beobachtung stand. Sie ließ sich am Arm zum Podium geleiten. Ihr Gehen wandelte sich zum Staksen, da bei MS zuerst die Zehen und Füße taub fallen. Längere Strecken ging sie nicht mehr zu Fuß, sondern ließ sich im Rollstuhl schieben.

MS ist tückisch, weil der Körper nach und nach ausgeknipst wird. Dafür sorgt die Entzündung des zentralen Nervensystems, die das Gehirn und das Rückenmark umfasst. Die Ursache for diese Krankheit ist unerforscht. Deshalb sprechen Ärzte von komplexen Gründen für den Ausbruch der MS. Es versteht sich, dass diese Krankheit individuell verschieden verläuft.

Selbstverständlich bin ich kein Experte. Nur musste mich in einer bestimmten Lebensphase über diese Krankheit eingehend informieren. Meine Frau erkrankte nach der Scheidung an MS und fast zur selben Zeit bekam auch mein Mit-Ressortleiter beim „Spiegel“ die gleiche niederschmetternde Prognose. Sie hatte die progrediente Variante, die unaufhörlich voranschreitet. Er hatte eine andere Form, in der sich Schübe und Ruhephasen ablösen.

Wer an MS leidet, verändert sich, was denn sonst. Ein Gutteil der Energie richtet sich auf den Umgang mit der Krankheit. Ärzte empfehlen den Patienten, von jetzt an Stress und Hektik möglichst zu vermeiden. Im Normalberuf lässt sich die Anpassung an die neuen Umstände einrichten. Wie weit sie gelingt, hängt vom Temperament und von der Selbstdisziplin ab und auch davon, wie stark das Selbstbewusstsein von der Arbeit determiniert wird.

In der Politik ist es schwieriger, sich mit der Krankheit zu arrangieren. Eine Ministerpräsidentin ist nur bedingt Herrin ihres Terminkalenders. Das Quantum an Reisen durchs Land und die Eröffnung etwa von Feuerwehrfesten lässt sich nicht von heute auf morgen verringern, am wenigsten zu Wahlzeiten. Zudem gehört Malu Dreyer dem Vorstand ihrer Partei an, was zweifellos eine zusätzliche Belastung bedeutete. Sitzungen der SPD ziehen sich gerne in die Nacht hinein, wenn der Weltgeist es verlangt. Politik ist eben eine Lebenskrafträuberin.

Andererseits ist Rheinland-Pfalz ein überschaubares Land und wechselt Regierungen nicht besonders häufig. Malu Dreyer blieb beliebt, so dass ihre Koalitionspartner zwar wechselten, aber die Nummer 1 zuverlässig die Nummer 1 blieb. Sie bewahrte sich ihre Heiterkeit. Sie war die Malu, die Wahlen gewann und sich nicht anmerken ließ, wenn es ihr nicht so gut ging. nwieweit der souveräne Umgang mit ihrer Krankheit bei ihrer Popularität ins Gewicht fiel, lässt sich nicht recht beurteilen.

Die Opposition hat sich gehütet, öffentlich über die geschwächte Ministerpräsidentin herzuziehen. Allenfalls hinter vorgehaltener Hand fielen die leisen, gemeinen Sätze, in Besorgnis gehüllt und stets anonym: Kann sie noch regieren, schaut nur, wie sie geht, wie sie im Rollstuhl sitzen muss – wie lange hält sie durch?

Ziemlich lange. Mehr noch gibt Malu Dreyer ein vorzügliches Beispiel für das richtige Timing beim Rückzug. Sie geht zu ihren Bedingungen. Sie hängt nicht an ihrem Amt, wie so viele an ihren Ämtern hängen. Sie war und ist die Herrin des Verfahrens. Eine große Leistung, zu dem man sie nur beglückwünschen kann.

Ob und in welchem Maße die Krankheit ihre Entscheidung bestimmt und beschleunigt hat, bleibt ihr Geheimnis. Sie sollte es lüften, vielleicht in einem Buch, das sie ja jetzt in Ruhe schreiben kann.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.