Kleiner Churchill in Camouflage

Wolodymyr Selenskji hat eine Festwoche hinter sich gebracht, mit der er überaus zufrieden sein kann. Kreuz und quer reiste er durch Westeuropa und versicherte sich der Solidarität der Verbündeten. Er dankte und bat um mehr  – um Waffen aller Art, um Hilfe beim Aufbau der zerbombten Infrastruktur.

Im Westen wundert man sich noch immer über diesen schmalen Mann, der als Comedian begann, schon mitten im Prozess der Entzauberung als Präsident stand und sich seit dem 24. Februar 2022 in einen kleinen Churchill in Camouflage verwandelte. Er verkörpert den unbedingten Willen nach nationaler Unabhängigkeit und Selbstbestimmung. Sobald er argwöhnt, dass die internationale Aufmerksamkeit nachlässt, wie etwa durch den Gaza-Krieg, macht er sich auf den Weg nach Amerika oder Europa.

Seine Sorge ist durchaus begründet. Weder in den USA, noch in Frankreich oder Deutschland ist die militärische, finanzielle und moralische Unterstützung unumstritten. Wo die Rechte an Schlagkraft gewinnt, wächst auch die Skepsis, ob das Engagement für die Ukraine noch angemessen ist. Ausgerechnet Italien, das den G-7-Gipfel ausrichtete, wackelt nicht unter der nationalkonservativen Giorgia Meloni.

In Berlin blieben AfD und BSW der Bundestagssitzung mit dem Ehrengast Selenskji fern. Die Absenz war nur konsequent, denn beide Parteien quellen über vor Verständnis für Wladimir Putin, wollen das billige russische Gas wieder nach Deutschland fließen lassen und glauben fest daran, dass ein Deutschland unter ihrem Einfluss von Moskau nichts zu befürchten hätte. Sie sind Beschwichtigungskünstler, Sarah Wagenknecht mehr noch als Alice Weidel. Beide sind zu Appeasement-Freaks geworden. „Wer als Europäer nicht sieht, dass Putins Planspiele nicht im Donbass enden, muss blind sein,“ schrieb die „Süddeutsche Zeitung. 

Im Krieg sieht es nicht gut aus für die Ukraine. „Der Schlüssel für alles ist die Luftverteidigung,“ sagte Selenskji auf der Berliner Konferenz zum Wiederaufbau der Ukraine. Die russische Luftwaffe zerstört seit März systematisch Kraftwerke, Umspannwerke und das Stromnetz. Die Lebensadern des Landes sind schwer getroffen. Daran ändert auch nichts, dass ukrainische Soldaten jetzt mit westlichen Waffen Ziele auf russischem Territorium angreifen dürfen.

Ohne steten Nachschub aus dem Westen kann die Ukraine nicht standhalten. Mit mehr und schnellerer Hilfe wäre sie in besserer Lage, kein Zweifel. Ihr fehlt es an Panzern, Granaten, Artillerie – eigentlich an allem, auch an Soldaten.

Der Krieg mit seiner grausamen Logik beherrschte das Denken, wo immer Selenskji in der vorigen Woche auftauchte. Der Westen hat ein schlechtes Gewissen, das  ihn fast schon zu einem Übermaß an Solidaritäts-Bekundungen veranlasst. Taurus-Raketen zum Beispiel wären eine große Erleichterung an der Front.

Wo der Krieg dominiert, kann nicht richtig über Frieden nachgedacht werden.  Vor einigen Wochen legte China einen einseitigen Plan vor, der auf Putins Wunschvorstellungen hinauslief, die er nicht zufällig vor der Schweizer Konferenz wieder vorlegte: Anerkennung der annektierten Gebiete, Verzicht auf Nato-Mitgliedschaft. China macht es sich erstaunlich einfach. Und von Putin ist nicht mehr als imperialer Zynismus zu erwarten.

Staatschefs, Regierungschefs, Minister und Diplomaten aus rund 100 Nationen und Organisationen trafen sich in der Schweiz und nannten ihr Stelldichein pathetisch eine Friedenskonferenz. Allenfalls könnte sie ein Prolog dazu gewesen sein, da sie ja eine entscheidende Lücke aufwies. Russland fehlte, war auch gar nicht eingeladen worden. War das klug? Na ja, unter den Umständen war nichts anderes als Abwesenheit denkbar.

Eine Absage erteilte China. China versteht sich als Vermittler, wofür es jedoch die einseitige Parteinahme für Russland aufgeben müsste, um glaubwürdig zu erscheinen. Brasilien, Indien und Südafrika schickten nur untergeordnetes Personal. Saudi-Arabien entsandte überraschend doch noch einen Vertreter.

Der Sinn der Konferenz auf dem Birkenstock war ein erneuter Akt der Solidarität mit der gepeinigten Ukraine. Von hier „kann nur ein Signal an Putin ausgehen, dass er sich einer globalen Unterstützerfront gegenübersieht, die nicht nur aus EU- und Nato-Staaten besteht“, sagte Wolfgang Ischinger, der als als Ex-Diplomat und Sicherheitsexperte erfahren in Krisen und Kriegen ist.

Nicht sämtliche Teilnehmer waren mit der Abschlusserklärung einverstanden, zum Beispiel Indien und Saudi-Arabien. Die Ukraine aber sah ihre Wünsche erfüllt: Übergabe des Atomkraftwerks Saporischschja unter ukrainische Kontrolle; Verzicht auf die Androhung, Atomwaffen einzusetzen; Austausch aller Kriegsgefangener und Rückkehr der verschleppten Kinder.

Wann ernsthaft über Frieden geredet werden kann, steht in den Sternen. Möglich werden Verhandlungen erst dann, wenn sich der Krieg erschöpft hat und die Generäle hier oder dort ihrem Oberbefehlshaber gestehen, dass weiteres Töten und Sterben zu nichts führt. Die Alternative wäre Putins Entfernung von der Macht, da für ihn nur ein Siegfrieden in Frage kommt.

Viel hängt vom 5. November ab, wenn Amerika seinen Präsidenten wählt. Noch vier Jahre Biden wäre für die Ukraine eine Riesenerleichterung. Noch mal vier Jahre Donald Trump würde Putin frohlocken lassen.

Wolodymyr Selenskji hat fürs Erste seine Ziele erreicht. Der Westen bleibt an der Seite der Ukraine. Der kleine Churchill in Camouflage kommt bald schon wieder, diesmal nach Washington. Dort feiert die Nato, vor kurzem 75 geworden, ihren Jubiläumsgipfel.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.