Ein palästinensischer Mandela?

Der Nahe Osten ist eine Region, aus der fast nur negative Nachrichten kommen. Da ist es schon etwas Erfreuliches, dass der große Krieg ausgeblieben ist. Bisher. Man soll vorsichtig bleiben. Schlimmer geht immer.

Die zentrale Instanz im Vernichtungskampf gegen Israel bleibt Iran. Das Mullah-Regime hat es verstanden, ein paar Marionetten aufzubauen, die es nach Belieben einsetzen kann. Wie das geht, führen gerade die bestens ausgerüsteten Huthi-Rebellen vor. Mit Drohnen, Marschflugkörpern und ballistischen Antischiffraketen griffen sie Handelsschiffe im Roten Meer an, bevorzugt in der Meerenge von Bab-el-Mandeb, wo nur 29 Kilometer zwischen Afrika und der Arabischen Halbinsel liegen. 

Folge: Die fünf größten Container-Reedereien der Welt schicken ihre Schiffe nicht mehr durchs Rote Meer, die Ölkonzerne stoppen ihre Transporte auf dieser Route. Normalerweise wird hier 40 Prozent des Handels zwischen Europa und Asien abgewickelt. Diese Lieferketten sind fürs erste unterbrochen.

Weitere Folge: Eine maritime Koalition zum Schutz des Roten Meeres soll entstehen. Dazu gehören Großbritannien, die USA, Kanada und Norwegen, auch Bahrain, der einzige arabische Staat. Saudi-Arabien, das Krieg gegen die Huthis führt, hält sich fein heraus.

Aus iranischer Sicht ist die Entwicklung grandios, wird doch der Westen tief in den Konflikt im Nahen Osten hineingezogen. Auf diese Weise war die Intervention der Huthi fast optimal wirksam und besaß zudem einen enormen Überraschungseffekt. Dagegen verblasst der Einsatz der Hisbollah, der anderen iranischen Marionette, die Tag für Tag Raketen aus dem Libanon auf Israel abschießt.

Wie ist die Sicht Israels auf die Dinge? Die große Zäsur war der Mord an den drei Geiseln, die israelische Soldaten in ihrer Angst für Feinde hielten. Man muss sich das vorstellen: Die Drei hatten sich aus der Geiselhaft befreit, zogen ihre T-Shirts aus, damit klar war: Wir tragen keine Bombengürtel, wir sind harmlos, erschießt uns nicht. Wahrscheinlich waren sie nach ihrer Selbstbefreiung umhergeirrt, hatten sich vor Verfolgern versteckt – und dann sahen sie israelische Soldaten, glaubten sich gerettet, machten auf sich aufmerksam, wehten mit weißem Tuch. Und dann erschossen sie zwei Soldaten in grotesker Verkennung der Lage.

Krieg ist in allen Facetten schrecklich. Feindliches Feuer ist der Normalfall, aber auch freundliches Feuer kommt nicht selten vor. Der Krieg à la Gaza tötet aber auch zahllose Zivilsten, von denen niemand wissen kann, was sie dachten, was sie wollten, ob sie die Hamas bewunderten oder verachteten. Und er tötet Kinder und ihre Mütter. Wie lassen sich diese Toten rechtfertigen?

Wer es gut mit Israel meint, was die amerikanische Regierung zweifellos tut, der redet auf Benjamin Netanjahu ein: Stell das Bombardement auf Gaza ein, dort steht ja eh kein Haus mehr, nimm mehr Rücksicht auf Zivilisten, denk darüber nach, was nach dem Krieg kommt.

Ja, was kommt danach? Netanjahu denkt in militärischen Kategorien. Da sich, was man ahnen konnte, die Hamas nicht absolut, total eliminieren lässt, könnte die Armee eine entmilitariserte Zone im Gaza einrichten. Allerdings wäre sie dann auch dort gebunden und selber eine Zielscheibe für die nächste radikalisierte Generation der Hamas, die vermutlich gerade durch den Krieg entsteht.

Eine klassische Benjamin-Netanjahu-Lösung – Einfrieren des Status quo. Er rühmt sich, dass in Israel niemand mehr über eine Zwei-Staaten-Lösung spricht. Ein Politiker lobt sich für das Ende der Politik, wie seltsam.

Über eine politische Lösung wird gerade in Ägypten geredet. Dorthin ist Ismail Hanija gereist. Er ist der politische Führer der Hamas, der in Katar sicher und warm lebt und bisher wenig durch konstruktive Beiträge aufgefallen ist. Jetzt zieht er sich den Zorn der militärischen Führung im Gaza zu, indem er davon redet, dass der Krieg beendet werden müsse, damit die Politik zurückkehren könne. Er schlägt vor, einen palästinensischen Staat im Gaza, im Westjordanland und in Jerusalem einzurichten.

Natürlich klingt das nach Utopie. Seit dem Tod von Yitzak Rabin, getötet im Jahr 1995 durch einen jüdischen Fanatiker, ist die Zwei-Staaten-Lösung tot. Wer sie wiederbeleben will, muss langfristig denken und Etappen vorschlagen. Das kann allenfalls ein Nachfolger für Netanjahu auf sich nehmen.

Aber wer unter den Palästinenser wäre ein Ansprechpartner? Marwan Barghouti wäre einer, so sagen viele, die über den Krieg, die Hamas und auch über Mahmud Abbas hinaus denken. Barghouti ist 64 Jahre alt und sitzt seit 21 Jahren in einem israelischen Gefängnis, verurteilt zu fünfmal lebenslänglich. Das Gericht warf ihm vor, er habe einen Terror-Angriff auf ein Restaurant in Tel Aviv organisiert, bei dem drei Gäste starben. Auch beim Mord an einem griechisch-orthodoxen Mönch und bei einem weiteren Angriff mit Schusswaffen soll er Regie geführt haben. Soweit die Gründe für die lange Haftstrafe.

Außenstehende können nicht beurteilen, wieweit das Strafmaß zurecht und wieweit zu unrecht zustande kam. Aus dem Gefängnis heraus setzt sich Barghouti jedenfalls seit Jahren für einen unabhängigen Palästinenser-Staat ein. Er scheint im Gaza wie im Westjordanland beliebt zu sein, über die Lager hinweg. Etliche Nahost-Kenner sind der Ansicht, er könnte sogar ein palästinensischer Nelson Mandela sein – ein Versöhner, ein Brückenbauer wie damals der südafrikanische Präsident, der die Apartheid überwand und beliebt auf der ganzen Welt war.

Glaubt man das – ein Mandela in Palästina? Man möchte es schon glauben, man möchte auch mal zuversichtlich sein in dieser Region, die jede Zuversicht austreibt.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.