Die israelischen Streitkräfte werden also täglich vier Stunden die Waffen ruhen lassen, mit denen sie den nördlichen Teil des Gaza-Streifens an der Küste ohnehin in eine Trümmerwüste verwandelt haben. Das Ziel ist es, die Hamas soweit zu schwächen, dass sie nicht mehr imstande sein wird, dieses Gebiet zu regieren.
Von der Hamas wissen wir, dass sie Tausende ihrer Kämpfer zum Ermorden möglichst vieler Zivilisten hinüber nach Israel schickte. Dass sie ihre Stellungen mitten unter ihren eigenen Zivilbevölkerung aufgebaut hat, sei es in Tunneln, sei es in der Nähe von Krankenhäusern. Ansonsten ist die Hamas eine anonyme Größe.
Nicht mehr gänzlich anonym allerdings, denn einige ihrer politischen Führer, die sich erstaunlicherweise in Doha aufhalten, haben sich jetzt zu Wort gemeldet. Dabei geben sie einen Einblick in ihre Denkweise und die Begründung für diesen Krieg.
Dass Israel Rache für das Inferno am 7. Oktober üben würde, war ihnen nicht nur klar, sondern es war sogar die erwünschte Konsequenz. Dass jetzt viele Tausende Männer, Frauen, Kinder im Gaza sterben, hilft ihnen beim Erreichen ihres Zieles – den Status quo im Nahen Osten zu zerschmettern. Es sei notwendig gewesen, die ganze Gleichung auf den Kopf zu stellen, anstatt nur einen der üblichen Konflikte zu provozieren, sagt Khalil al-Hayya, der zum engsten Führungszirkel der Hamas gehört, und ergänzt: „Uns ist es gelungen, das palästinensische Problem wieder in den Vordergrund zu rücken. Jetzt ist die ganze Region aus ihrer Ruhe gerissen.“
Versteht man Hamas-Anführer wie al-Hayya recht, sind sie froher Hoffnung, dass der Krieg mit Israel zum Dauerzustand wird, so dass sich die Aussicht auf Koexistenz mit arabischen Staaten zerschlägt. „Ich erhoffe mir, dass ein permanenter Krieg an allen Grenzen Israels tobt und die arabischen Länder an unsere Seite zieht,“ sagt Taher el-Nounou, ein Hamas-Berater.
„Die New York Times“ hat den mörderischen Überfall am 7. Oktober rekonstruiert. Ihn habe eine kleine Gruppe aus Kommandeuren im Gaza ersonnen – ohne Abstimmung mit der Führung in Doha oder der Hisbollah im Libanon, den Brüdern im Geiste, welche die Juden aus dem Nahen Osten vertreiben wollen. Offenbar waren die Gleitflieger und Kämpfer aus den Tunneln selber überrascht, wie leicht sie nach Israel eindringen konnten und auf welch geringen Widerstand sie dort stießen. Die israelische Führung hatte, in maximaler Fehleinschätzung der Gefahrenlage, mehrere Divisionen ins Westjordanland verlegt.
Oberflächlich gesehen, herrschte ja tatsächlich Ruhe im Gaza in den Monaten vor dem 7. Oktober. Israel war dabei, das Verhältnis zu Saudi-Arabien zu normalisieren – ausgerechnet Saudi-Arabien, das die Palästinenser als ihren Patron ansahen. Zwei Jahre zuvor hatten Bahrain und die Vereinten Arabischen Emirate Friedensverträge mit Israel geschlossen. Auch Katar und Oman haben mittlerweile Israel anerkannt. Die Region war drauf und dran, sich mit Israels Existenz auszusöhnen.
Keines dieser Länder bezog die Palästinenser bei ihren Verträgen ein, genauso wenig wie Jahrzehnte zuvor Jordanien und Ägypten Rücksicht auf sie genommen hatten. Für arabische Länder sind die Palästinenser kein Machtfaktor, sobald es um ihre eigenen Interessen geht. „Nur eine gewaltige Aktion konnte diese Entwicklung unterbrechen,“ sagt Hamas-Führer al-Hayya.
Die entscheidende Figur innerhalb Gaza ist seit 2017 Yaya Sinwar. Er ist 61 Jahre alt und gründete die Kassam-Brigaden, die berüchtigt dafür waren, Selbstmordattentäter nach Israel zu schicken, vorzugsweise an Bus-Haltestellen. Im Jahr 1989 wurde Sinwar verhaftet und wegen Mordes an vier Palästinensern, die er für israelische Spione gehalten hatte, auf lange Zeit ins Gefängnis geschickt. Im Jahr 2011 kam er dann frei. Sinwar war einer von mehr als Tausend Gefangenen, die im Austausch mit Gilad Shalit, einen entführten israelischen Soldaten, zurück nach Gaza durften.
„Für mich ist es eine moralische Pflicht, alles dafür zu tun, dass diejenigen Gefangenen, die noch in israelischer Haft sind, bald freikommen,“ sagte Sinwar in einem Interview im Jahr 2018. Aus diesem Grund ließ er am 7. Oktober so viele Menschen wie möglich nach Gaza verschleppen. Mehr als 240 sollen es sein.
Mit dieser Hamas ist kein Ausgleich denkbar. Insoweit liegt es nahe, ihre militärische Führung auszuschalten. Dass daraus kein Krieg in Permanenz entsteht, wie es sich al-Hayya und die anderen erhoffen, ist mehr als zu wünschen. Aber wie geht es weiter?
In nicht allzu großer Ferne müssen die arabischen Länder, die diplomatische Beziehungen mit Israel unterhalten, ihren Beitrag zu einer politischen Lösung leisten. Dabei kommt es auf die USA an, das jetzt schon zu Mäßigung aufruft und Vorschläge für eine Zukunft der Region unterbreitet. Gut möglich, dass sich der israelische Premier Benjamin Netanjahu gegen das Unvermeidliche am längsten sträuben wird.
Veröffentlicht auf t-online.de, am Samstag.