„Die Armee geht gut und gründlich vor“

Dror Moreh, 62, ist ein international erfolgreicher israelischer Dokumentarfilmer, der mit „The Gatekeepers“, einer Serie über sechs frühere Inlandsgeheimdienstchefs, 2013 für einen Oscar nominiert war. Vor einem Jahr veröffentlichte er die Serie „The Corridors of Power“ über den Westen im Umgang mit Genoziden wie in Bosnien und Ruanda. Moreh lebt in Tel Aviv und Berlin.

t-online:Herr Moreh, wie geht es Ihnen und wo leben Sie?

Moreh: Ich lebe in Tel Aviv und Berlin. Israel ist mein Heimatland. Nie zuvor habe ich eine derartige Gefühlsmischung aus Traurigkeit und Frustration, Angst und Ungläubigkeit empfunden. Vor allem habe ich Zorn auf die Hamas wegen dieser Unmenschlichkeit am 7. Oktober – der Grausamkeit an Babies, Kinder, Frauen, Jugendlichen, Alten und Holocaust-Überlebenden. Sie haben sie massakriert und bei lebendigem Leib verbrannt. Acht Jahre lang hab ich an meiner Serie „The Corridors of Power“ gearbeitet, die sich mit den Antworten des Westens auf Genozide und Verbrechen gegen die Menschlichkeit seit dem Fall der Berliner Mauer befasste – von Bosnien bis Ruanda, von Darfur bis Syrien. Dafür habe ich hunderte Stunden Archivmaterial angeschaut. Nichts davon glich der Abscheulichkeit der Hamas.

Sind Freunde oder Bekannte unter den Geiseln?

Ja, einige unter ihnen kenne ich. Und wissen Sie, sämtliche Geiseln gehören zu meiner erweiterten Familie, so empfinde ich das.

Sind Freunde unter den Soldaten, die Krieg im Gaza führen?

Ja, auch Verwandte von mir sind jetzt dort.

Jaffa, wo Sie wohnen, ist der Teil Tel Avivs, in dem Araber neben Israelis wohnen. Nimmt die Spannung wieder zu wie damals vor zwei Jahren beim letzten Gaza-Konflikt?

Nein, kein Vergleich mit vor zwei Jahren. Ich weiß, dass viele Araber die Barbarei der Hamas verabscheuen; am 7. Oktober wurden ja auch etliche Araber getötet. Es stimmt zwar, dass es Stimmen gibt, die glücklich über den 7. Oktober sind, aber die Mehrheit der arabischen Israelis ist weit davon entfernt.

Sie haben international renommierte Dokumentationen über die israelischen Geheimdienste gemacht. Hat Sie das Versagen am 7. Oktober überrascht?

Ich war geschockt. Denn was an diesem Tag an Gräueltaten geschah, sollten sie kommen sehen, sollten sie verstehen und verhindern. Sie haben kläglich versagt und sie wissen es.

Wie erklären Sie sich, dass weder der Mossad noch Shin Bet wahrnahmen, was sich anbahnte?

Vor allem beim Shin Bet und der militärischen Aufklärung, die für die Beobachtung der Hamas verantwortlich sind, liegt das Versagen. Der Mossad trägt geringere Verantwortung, da er für Aufklärung außerhalb Israels zuständig ist.

Aber was ist der Grund für das Versagen?

Es gibt einen berüchtigten Begriff im Establishment der Dienste: Das Konzept. Damit ist gemeint, dass die Geheimdienste gemeinsam ein Konzept aus den Informationen erarbeiten, die sie gesammelt haben. An diesem Konzept halten sie dann fest. An dieser Starrheit litten wir im Krieg 1973, als der militärische Geheimdienst Informationen und Zeichen besaß, dass ein Krieg bevorstand, aber da gab es eben das Konzept, das besagte, dass Syrien und Ägypten nicht angreifen würden. Tatsächlich brach der Krieg aus. Dasselbe passierte am 7. Oktober. 

Die Chefs von Mossad und Shin Bet entschuldigten sich für ihre Blindheit, im Unterschied zu Premier Benjamin Netanjahu. Kann er politisch überleben, wenn nach dem Krieg die Schuldfrage gestellt wird?

Ich glaube, Netanjahu hat sich vollkommen isoliert von dem, was wirklich in Israel los ist – von der enormen Wut, dem Zorn und dem Abscheu, der ihm und seiner Familie entgegenschlägt. Meiner Ansicht nach ist das schon lange so. So sieht es auch die Mehrheit im militärischen Establishment. Netanjahu ist die größte Gefahr für das Überleben Israels und er sollte so schnell wie möglich aus dem Amt entfernt werden. Ich hoffe, dass er den Rest seines Lebens in einer kleinen Gefängniszelle verbringt.

In einer Ihrer Dokumentationen interviewten Sie sechs ehemalige shin-Beth-Chefs, die Kritik daran übten, was sie selber getan hatten.

Sie rügten, dass die Politiker nicht imstande waren, militärische Erfolge des Verteidigungsapparates in politische Lösungen umzusetzen, zumal in Zeiten relativer Ruhe ohne Terrorismus – oder es gar nicht wollten. Netanjahu ist der Premierminister, der die meiste Zeit seit der Ermordung von Jitzak Rabin regiert hat. Er tat immer wieder alles dafür, jede Hoffnung auf Frieden erstickte. Er förderte die Hamas, indem er zuließ, dass ihr hunderte Millionen Dollar zuflossen, während er die Autonomiebehörde im Westjordanland demütigte. Diese Politik ist am 7. Oktober auf schreckliche Weise explodiert.

Die Bodenoffensive ist weniger umfassend als erwartet. Das Ziel ist das Eliminieren der Hamas-Führung. Ist dieses Ziel realistisch?

Ich glaube, dass die Armee gut und gründlich vorgeht. Gaza ist ein hoch kompliziertes Kriegsgebiet. Die Hamas versteckt sich hinter und unter der Zivilbevölkerung. Sie macht das genauso wie der IS in Syrien. Nicht nur kümmern sie sich nicht um die Zivilisten, vielmehr ist ihnen daran gelegen, dass möglichst viele von ihnen sterben. Babies, Frauen und Kinder dienen ihnen als menschliche Schutzschilder. Wenn viele Zivilisten sterben, das ist die Logik, wird die internationale Gemeinschaft Israel stoppen.

Vorgestern hat Moussa Abu Marzouk, einer der Hamas-Anführer, in aller Schamlosigkeit gesagt, worum es geht: „Die Tunnel in Gaza dienen dem Schutz der Hamas-Kämpfer, nicht dem der Zivilisten. Der Schutz der Zivilisten liegt in der Verantwortung der Vereinten Nationen und Israels.“

Und erreicht die Armee das Ziel?

Das Ziel ist es, die Hamas-Führung auszuschalten, so dass sie künftig Gaza nicht mehr regieren kann. Der Preis wird hoch und schrecklich sein, aber er ist notwendig nach allem, was wir am 7. Oktober erlebt haben. Ich hoffe darauf, dass der Krieg dazu führt, dass sich danach eine neue Führung im Gaza um die Zivilbevölkerung kümmert. Die Hamas ist auf Zerstörung Israels und der Auslöschung des Volkes aus.

Bei einer Invasion fragt sich immer, wie die Armee wieder herauskommt. Sie waren ein Elite-Soldat: Wie sollte die Exit-Strategie Ihrer Meinung nach aussehen?

Na, da muss ich Sie enttäuschen, ich habe nur wie jeder Israeli meinen Wehrdienst geleistet. Aber Ihre Frage will ich mit einem Zitat des ehemaligen Inlandsgeheimdienstchefs Ami Ayalon beantworten, der in meinem Film „The Gatekeepers“ sagte: „Clausewitz, ein weiser Mann, sagte vor fast 200 Jahren, dass der Sieg schlicht darin besteht, eine bessere politische Wirklichkeit herzustellen.“ Nach der politischen und militärischen Eliminierung der Hamas hoffe ich darauf, dass in Israel eine neue Führung eine bessere politische Wirklichkeit mit moderaten arabischen Staaten in der Region erschaffen kann. Es wird schwer, es wird hart, aus heutiger Sicht erscheint es so gut wie unmöglich, aber dazu gibt es keine Alternative.

Präsident Macron schlägt vor, dass Israel zur Zwei-Staaten-Lösung zurückkehren sollte. Hat er recht?

Recht hat er schon, aber es würde Jahrzehnte dauern, bevor wir dieses Ziel erreichen könnten. Statt dessen sollten wir uns nach meiner Meinung bescheidenere Ziele für die Zukunft setzen. Aus heutiger Sicht ist Koexistenz eine Utopie. Dafür muss sich viel auf beiden Seiten ändern, in der Führung, aber auch in Erziehung und Bildung.

Der israelische Philosoph Omri Böhm schlägt eine Ein-Staat-Lösung vor, aber mit einer Föderation aus den sieben Millionen Israelis mit sieben Millionen Arabern.

Ich bin Pragmatiker. Das ist eine unrealistische Utopie ohne jede Chance auf Erfolg in der realen Welt.

Herr Moreh, vielen Dank für das Gespräch.

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.