Ach Charlie, alter Stoiker, ausgerechnet du musst zuerst gehen, wenn wir mal kurz von Brian Jones absehen, der schon 52 Jahre tot ist. Als du mit den Stones vor vier Jahren in Berlin gespielt hast, habe ich mich wieder mal gefragt: Was geht dir wohl durch den Kopf, wenn du diesen beiden zuschaust – dem ewigen Herumhampler und Beckenkreiser Mick Jagger und dem hart an seiner Selbstvernichtung arbeitenden Keith Richard? Du hattest sie so lange vor deiner Nase, auf wer-weiß-wie-vielen Touren in wer-weiß-wie-vielen-Städten auf sämtlichen Kontinenten. Im Januar 1963 bist du zu den Stones gestoßen. Vor 58 Jahre. Meine Güte.
Charlie Watts machte viele Fisematenten nicht mehr mit, die weder Mick noch Keith je ablegen möchten. Für immer jung, für immer zu enge Hosen, für immer Zigaretten und sonst noch was zwischen den Zähnen, für immer Frauen, die nicht unbedingt über 30 sein müssen, für immer Kinder. Mick bekam mit 73 noch ein Kind von einer 29jährigen. Das war vor seiner Herzoperation, Gott möge ihm ein langes Leben schenken.
Charlie hingegen: das weiße Haar penibel gekämmt, das Gesicht erstaunlich glatt, im Alter sah er wie ein Sioux aus, fand ich. Mit Krawatte und Anzug betrat er wie nebenbei die Bühne. Seit 1964 war er mit Shirley Ann verheiratet, das war noch vor dem Welterfolg der Stones. Was für eine Kontinuität in diesem irren Pop-Geschäft, was für ein bruchloses Leben. Er selber sagte über sein Verhältnis zu Glamour und Exzessen: Eigentlich habe ich mich nie bemüht, die Stereotypen eines Rockstars zu erfüllen. In den Siebzigern haben Bill Wyman und ich beschlossen, uns einen Bart wachsen zu lassen. Das hat uns erschöpft, mehr ging nicht.“
Charlie Watts ging nicht gern auf Tour. Er mache von jedem Bett, in dem er unterwegs schläft, eine Skizze, sagte er mal. Da kamen Berge zusammen, keine Frage. Als Hugh Hefner die Stones zu sich nach Hause einlud und rein zufällig viele seiner Bunnys herumstolzierten, interessierte sich Charlie für das Spielzimmer mit Billardtisch, Tischfußball und Spielautomaten.
Groupies mied er und Groupies schwirrten um die Stones wie Motten ums Licht. Man muss für möglich halten, dass er seiner Frau treu war oder jedenfalls sich darum bemühte. Auf der Bühne war er ein Herr, dizipliniert, ruhig, distanziert, auch asketisch. Vielleicht amüsierte er sich über die exaltierten Zuschauermassen, vielleicht befremdeten sie ihn. Er bearbeitete sein Schlagzeug und blieb irgendwie immer bei sich. Er war eben nicht Keith Moon, der Alleszertrümmerer, und er war schon gar nicht Ginger Baker, der mindestens genauso selbstzerstörerisch lebte wie Keith Richard.
Er war anders und legte Wert darauf. Vielleicht haben die Stones gedacht, dass er eines Tages einfach aufhört, weil er keine Lust mehr hat auf Flugzeuge, Hotelbetten und „Brown Sugar“. Aber „Sympathy for the Devil“ mochte er immer noch, da bin ich mir fast sicher. Zuerst in Hamburg 2017, kurz darauf in Berlin wirkte er geradezu beseelt, als die Stones diesen Song spielten. Natürlich nur einen Wimpernschlag lang ließ er die Maske fallen und war der leidenschaftliche Drummer, der Keith und Mick voran peitscht.
Anfang August kam die Meldung, dass Charlie Watts wahrscheinlich nicht auf der Amerika-Tour der Stones dabei sein kan. Er wollte sich einer medizinischen Behandlung unterziehen, das klang rätselhaft, aber hat irgendjemand gedacht, dass er, der Makellose, Ungewöhnliche, ans Sterben gehen würde?
Ruhe in Frieden, Charlie, alter Stoiker.
Veröffentlicht auf t-online.de, heute.