Am Sonntag war ich in der Hannah-Arendt-Ausstellung im Deutschen Historischen Museum. Pädagogisch sehr wertvoll ist ihr Leben in die Wirklichkeit eingebettet. Zu den Exponaten rund um den Eichmann-Prozess, über den sie im „New Yorker“ schrieb und dabei den Terminus „Banalität des Bösen“ prägte, womit sie etliche alte Freundschaften aufs Äußerste strapazierte, vor allem zu Gershom Scholem, taucht „Der Stellvertreter“ auf, mit dem Rolf Hochhuth Furore 1963 machte. Hannah Arendt sah den gleichen Reflex in der Rezeption am Werk: die ideologische Ablenkung von der Sache, um die es recht eigentlich geht.
Aus dem zurecht berühmten Interview mit Günter Gaus, einer Sternstunde des Journalismus, läuft jene Passage in Endlosschleife, in der Hannah Arendt erzählt, wie sie in New York 1943 zum ersten Mal vom industriellen Mord an den Juden in den Vernichtungslagern erfährt. Was dort geschehen war, lag jenseits ihres Vorstellungsvermögen, auch wenn sie völlig illusionslos war, was den Charakter der Menschen und den Verlauf der Geschichte anbelangte.
Wir erfahren von ihrer Skepsis gegenüber der deutschen Studentenbewegung, die sie für unpolitisch hielt. Manch einer der altgewordenen 68er-Zauseln wird nicht amüsiert sein. Damals phantasierten sie über die sozialistische Revolution und ignorierten die real existierende DDR. Ernst nahm Hannah Arendt die französische Bewegung, mit der sich phasenweise die Arbeiterschaft soldarisierte. Auch die amerikanische Bewegung imponierte ihr, die sich am Vietnamkrieg entzündete.
Die Ausstellung geht nicht chronologisch vor, das ist gut so. Sie setzt 16 thematische Schwerpunkt, vom Antisemitismus über den Kolonialismus und en Nationalsozialismus bis zum Stalinismus. Dabei wird überwältigend erhellt, wie eigensinnig diese wunderbare Frau war, wie unerschrocken. Zu den schönsten Texten gehört der über das Urteilen, eine Aufforderung an uns, selber zu denken, auch eine Zumutung, denn aus welchem Grund sollten wir uns der Anstrengung unterziehen, die Sachverhalte vor den Gerichtshof unserer eigenen Vernunft zu ziehen? Weil erst die Reflexion uns zu verantwortlichen Zeitgenossen macht, war ihre Kantsche Antwort.
Uns begegnet Hannah Arendt als ultimative public intellectual, tief eingegraben in die Auseinandersetzungen der Zeit. Das war sie auch, aber nicht nur. Sie war das intellektuell früh reife Kind, das wie selbstverständlich Kant und Hegel las. Als junge Studentin spazierte sie selbstsicher und wissbegierig im Bannkreis der Philosophie herum. Und dann begegnete sie Martin Heidegger, der ein junger, charismatischer Professor war und Vorlesung ohne Notizen, geschweige denn ausgeschriebene Manuskripte, absolvierte und die Studenten faszinierte. Den „heimlichen König der Philosophie“ nannten sie ihn in Marburg, seiner ersten Station als Professor der Philosophie. Manchmal kam er in Skikluft in die Vorlesung, im Sommer trug er Lodenanzug und Kniebundhosen, die Studenten nennen ihn den „existentiellen Anzug“. Ein Ereignis. Ein Phänomen. Ein Bruch mit der herrschenden Philosophie und der akademischen Rolle des Philosophen.
Hannah Arendt schreibt über den Ruf, der Heidegger vorauseilt: „Das Gerücht sagt es ganz einfach: Das Denken ist wieder lebendig geworden, die totgeglaubten Bildungsschätze der Vergangenheit werden zum Sprechen gebracht, wobei sich herausstellt, dass sie ganz andere Dinge hervorbringen, als man misstrauisch vermutet hat. Es gibt einen Lehrer; man kann vielleicht das Denken lernen. Dies Denken, das als Leidenschaft aus dem einfachen Faktum des In-die-Welt-Geborenseins aufsteigt und so wenig einen Endzweck haben kann, wie das Leben.“
In Marburg tauchte diese junge Frau mit ihrem Bubikopf in modischer Kleidung auf und erregte Aufsehen. Wegen ihres grünen Kleides hieß sie bei den Studenten „die Grüne“. Ein Freund erzählt, wie in der Mensa an ihrem Tisch das Gespräch verstummte, sobald sie das Wort ergriff. Auch sie war ein Ereignis. Eine Phänomen.
Von ihrem Verhältnis zu Martin Heidegger wussten nicht einmal ihre besten Freunde, zu denen bald Benno von Wiese und Hans Jonas gehörten. Es muss eine große Liebe gewesen sein, für beide. So groß wie die Liebe auch war, so einseitig bestimmt blieb sie. Martin Heidegger legte die Grundbedingung: Heimlichkeit. Er nahm Hannah ernst, weil sie sein Denken verstand und selber dachte. Er bekannte, dass er ohne sie „Sein und Zeit“ nicht hätte schreiben können. Sie blieben einander tief verbunden, weit über ihre Affäre hinaus. Hannah beendete die heimliche Liaison, als sie zu Karl Jaspers nach Heidelberg wechselte, der ihr zuerst ein Mentor und später ein Freund war.
In Hannah Arendts Abkehr von der Philosophie und im Übergang zur politischen Theorie sah Martin Heidegger einen Verrat. „Er wird Hannah Arendts Bücher nicht lesen oder doch nur sehr flüchtig, und was er da liest, das wird ihn kränken,“ schreibt Rüdiger Safranski in seinem Buch „Ein Meister aus Deutschland“.
Was ihr Heidegger und was sie ihm war, kommt in der Ausstellung nicht vor. Darin liegt ein entscheidender Mangel. Als sie 1949 nach Deutschland kam, traf sie auch Heidegger und wartete auf ein Wort der Selbstkritik oder doch nur eine klärende Andeutung über sein Leben im Nationalsozialismus, über seine Irrtümer, über seine Philosophie. Den Zusammenhang seines Denkens mit dieser Zeit meißelte sie heraus: „Hannah Arendt“, schreibt Safranski, habe die These entwickelt, „dass in der deutschen Version des Existentialismus, beginnend bei Schelling über Nietzsche bis hin zu Heidegger, die Tendenz immer stärker geworden sei, das vereinzelte menschliche Wesen als einen Ort der Wahrheit dem unwahren gesellschaftlichen Ganzen gegenüberzustellen.“ Für sie habe sich die Frage gestellt: „Wie sollte sie Heidegger, den sie politisch unter die Verfolger rechnen musste, eine Treue bewahren, ohne die Übereinstimmung mit sich selbst aufzugeben?“
Gute Frage. Sie ließ sich nicht theoretisch lösen, nicht philosophisch. Sie blieb ein fundamentaler Widerspruch. Ich habe mir gedacht, sie hat vor diesem Problem kapituliert. Die Behelfslösung bestand in der Unterscheidung des Privaten vom Politischen. Die Kapitulation fand im Privaten statt.
Heidegger war einer der Deutschen, von denen Hannah Arendt bei ihrem Aufenthalt 1949 sagte, dass sie das Vergangene vergangen sein lassen wollen. Mit seinem reuelosen Schweigen war er der ultimative Repräsentant der Nachkriegszeit. Er hätte bestens in die Themensetzung gepasst, die der Ausstellung im Deutschen Historischen Museum zugrunde liegt.
Ohne ihr widerspruchsreiches Verhältnis zu Heidegger ist Hannah Arendt nicht zu verstehen. Deshalb entbehrt die Ausstellung der Tiefenschärfe, die ihr Denken und ihre Existenz auszeichnet.