Anfang August besuchte Armin Laschet das Lager Moria. Hinterher sagte er viel Richtiges: Die Flüchtlinge lebten in einer „Situation der Perspektivlosigkeit“, er sprach von einem „Aufschrei der Verzweifelten“, er sagte, Europa dürfe die griechische Regierung nicht allein lassen und der Umstand, dass die EU-Ratspräsidentschaft momentan bei Deutschland liege, biete Hoffnung auf „eine dauerhafte Lösung“ für die Geflüchteten.
Als Laschet von seinem Aufenthalt in Moira erzählte, erntete er kaum mehr als höfliche Aufmerksamkeit. Moira war fern, Moira war uninteressant. Das hat sich vier Wochen später schlagartig geändert.
Auf einer ehemaligen Militäranlage entstand im Oktober 2015 auf Lesbos ein Aufnahmezentrum für Flüchtlinge, das rasch zum größten europäischen Flüchtlingslager heranwuchs. Um das eigentliche Camp zogen Migranten Zelte und provisorische Behausungen hoch. Schlägereien, Messerstechereien zwischen Migranten aus unterschiedlichen Ländern gehören dort zum Alltag.
14 000 Menschen leben auf engem Raum unter erbärmlichen Verhältnissen. Sie wissen nicht, wie es weitergeht, was aus ihnen wird, ein Tag ist wie jeder andere, ohne Aussicht auf Veränderung, jeder ist sich selbst der Nächste, Hilflosigkeit und Wut und Zorn und Gewalt gehören zum Alltag. Dass sie auf die Idee kamen (oder gebracht wurden), ihr Lager in Flammen aufgehen zu lassen, damit Europa dort draußen sich ihrer erinnert, ist verständlich.
Europa erinnert sich jetzt. Europa muss sich um Moira kümmern. Möglichst vernünftig. Möglichst umsichtig. Das ist das Schwerste überhaupt, weil so viele Interessen dagegen stehen.
Ende September wird die Europäische Union über die Flüchtlinge auf den griechischen Inseln beraten. Ohne Deutschland geht nichts, da hat Armin Laschet recht. Mit Deutschland geht mehr, aber auch nicht viel. Verbindliche Regeln für eine Verteilung der Flüchtlinge wären ein echter Fortschritt, aber allenfalls 10 von 27 könnten sich darauf einlassen. Der Einfluss Deutschlands ist in diesem Fall nicht besonders groß.
Zu den unangenehmen Einsichten in diesen Tagen gehört es, dass Europa eben nur bedingt eine Wertegemeinschaft bildet. Sie ist grundsätzlich eine Wirtschafts- und Währungsunion, also eine Interessenallianz. Interessen können genauso trennen, wie sie verbinden. Spätestens seit 2015 treibt die EU auseinander. Im Umgang mit den Flüchtlingen ist an die Überwindung der Gegensätze gar nicht zu denken, nicht einmal zwischen Deutschland und Österreich.
Zu den klügsten Menschen, die sich mit Migration und ihren Folgen beschäftigen, gehört Gerald Knaus. Er ist Österreicher, hat den Think Tank „European Stabilität Initiative“ gegründet, lebte in der Ukraine, in Bosnien und im Kosovo. Ein erfahrener Mann, urteilskräftig und klarsichtig. Er sagt, Angela Merkel habe vor fünf Jahren „Europas Ehre und Seele gerettet“, aber um einen Preis, dem Aufstieg rechtspopulistischer Parteien in Europa, besonders im Osten – den Feinden Europas. Sie seien besonders radikal dort, wo es nur eine Hundertschaft Flüchtlinge gebe, zum Beispiel in Ungarn.
Knaus ist alles andere als ein Romantiker. Auf ihn geht das Tauschgeschäft Milliarden gegen geschlossene Grenzen zwischen der EU und der Türkei vom 18. März 2016 zurück. Heute schlägt er eine Erneuerung des Abkommens vor, um die humanitäre Krise auf den griechischen Inseln zu beenden.
Ob sie will oder nicht, muss die Europäische Union aufs Neue mit der Türkei verhandeln. Präsident Erdogan hat schon einmal die Grenzen aufgemacht, damit Europa nicht vergisst, auf wen es hier ankommt und man muss ihm jederzeit zutrauen, dass er einen neuen Grund zur Erpressung findet, zum Beispiel um Griechenland in Schwierigkeiten zu stürzen, mit dem er im Konflikt um die Ausbeutung der Gasvorkommen im östlichen Mittelmeer liegt. Da ist es nur eine Frage der Zeit, wann er wieder Tausende Flüchtlinge losschickt. Verlässlich an ihm ist allein die absolute Unberechenbarkeit.
Auf Moira werden jetzt neue Unterkünfte gebaut. Immerhin. Am menschlichen Elend ändert das wenig. Vermutlich werden sich nach einigem Zögern ein paar willige EU-Länder finden, die einen Gutteil der 12 000 Menschen aufnehmen. Immerhin.
Gerald Knaus sagt dazu, es gebe kein Recht auf Migration, das nicht, aber es gebe den Respekt vor dem humanitären Grundsatz, Menschen nicht in die Gefahr zu stoßen. Darauf sollte sich Europa einigen.
Veröffentlicht auf t-online.de, heute