Wie wär’s mit ein bisschen Demut?
Heute sind es rund 57 000 Menschen, die bislang an Corona gestorben sind. Diese Zahl entspricht in etwa den Einwohnern von Frankfurt/Oder. Natürlich wird sie auch weiterhin von Tag zu Tag steigen, so dass bald Friedrichshafen mit seinen knapp 62 000 Einwohnern als Vergleichsgröße dienen kann. Und wie viele werden es im Sommer sein, wenn hoffentlich die meisten von uns geimpft sind: 80 000? 100 000? Noch mehr?
Seltsamerweise ist von den Toten im Großkonzert der Beschwerden, was in Deutschland alles schief läuft und wer dafür verantwortlich ist, am wenigsten die Rede. Sie sind nur eine abstrakte Zahl, die das RKI morgendlich vorträgt und denen nicht einmal das Minimum an Pietät zuteil wird, das wir ihnen schulden. Eigentlich ist es beschämend, dass weder Politiker noch Ökonomen noch Virologen noch Journalisten noch irgendwer sonst an diejenigen erinnern, die nun wirklich das Opfer der Pandemie sind.
Ja, es stimmt, dass wirtschaftliche Existenzen bedroht sind. Aber es stimmt noch mehr, dass der Egoismus der Überlebenden die Verstorbenen von gestern und die Sterbenden von morgen schlicht ignoriert. Wie wäre es mit ein bisschen Demut?
Vermutlich ist es unvermeidlich, dass Unruhe und Ungeduld zunehmen weil das Land nunmehr seit über einem Jahr mit Covid-19 lebt und kein Ende des Schreckens abzusehen ist. Der Drang zum kleinen Verstoß nimmt zu. Die Aggression auf der Straße oder dem Markt beim versehentlichen Anrempeln oder Zunahnekommen ist unüberhörbar. Der Ärger über Ursula von der Leyen oder Jens Spahn oder Peter Altmeier oder Angela Merkel oder summarisch über das „Totalversagen der Regierung“ wird schriller und böser. Das ist so verständlich wie ungerecht. Wie wär’s mit ein bisschen Innehalten?
Ab und zu hilft es, die Dinge zu sortieren. Ich versuch’s mal:
1.) Alle erwarten mit angehaltenem Atem die flächendeckende Verbreitung der Virusmutationen aus Großbritannien und Südafrika. Dann wird die Zahl der Infizierten wieder exponentiell steigen, das heißt sich wöchentlich verdoppeln. Deshalb werden die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten spätestens am 15. Februar beschließen, die Restriktionen zu verlängern. Auf Wochen. Auf Monate?
2.) Das größte Problem sind die schlechten Nachrichten, die auf schlechte Nachrichten folgen. Der Lockdown, der auf Lockdown folgt und verlängert und verlängert wird. Die Aussicht, die trübe bleibt und uns zermürbt. Die Hoffnung auf das Impfen als entspannendes Gegenprogramm, ist fürs Erste verweht. Heute versucht Niedersachsen, das Trübe wenigstens mit den Bedingungen für einen Lichtblick zu verbinden.
Ministerpräsident Stephan Weil will beim Impfgipfel einen Stufenplan für Lockerungen vorlegen, abhängig von den Inzidenzien: Je besser die Lage, desto weniger Restriktionen. Das ist ebenso schwierig wie verdienstvoll und wir müssen uns vorstellen, dass sich die anderen Ministerpräsidenten abweichender Vorstellungen nicht enthalten können. Aber sie sollten sich zur Abwechslung mal mit ausschweifenden Einreden mäßigen, denn die Ungeduld im Land wächst im Gleichmaß zur eifersüchtigen Demonstration abweichender Weisheit der üblichen Verdächtigen, egal ob es sich um Winfried Kretschmann oder Manuela Schwesig handelt.
3.) Großbritannien, Israel und selbst Amerika sind mit dem Impfen viel weiter gediehen als Europa. Der Grund ist die jeweils nationale Selbstversorgung und im Vergleich dazu die umständliche Abstimmung und Vertragsfassung innerhalb der Europäischen Union. Der „Spiegel“ stellt dabei Ursula von der Leyen als Schuldige heraus, doch sie inspiriert das Magazin ohnehin seit Jahren zu Höhenflügen an überzogener Kritik. Solange die Verträge mit den Konzernen nicht ungeschwärzt vorliegen, können wir nicht wissen, wer schlecht verhandelt hat.
Dabei drängte sich vorige Woche ein Mann als Beelzebub geradezu auf: Pascal Soriot, der Vorstandsvorsitzende von AstraZeneca. Er legte einen eleganten Auftritt in vollendeter Schnödigkeit hin, als er kühl mitteilte, sein Konzern gedenke der EU nur einen Bruchteil des vertraglich vereinbarten Impfstoffs zu liefern. Er konnte das, weil sich ein Rechtsstreit über Monate hinzöge, und die EU auf den britisch-schwedischen Konzern angewiesen bleibt, egal ob er Großbritannien bevorzugt behandelt hat oder nicht.
4.) Seit ein paar Tagen gelten chinesische und russische Impfstoffe als denkbare Alternative. Soviel man weiß, und wieder kann man nicht alles wissen, sind sie nicht annähernd den Regularien unterworfen gewesen, die in anderen Teilen der Welt die Norm bilden. Mehr Vertrauen erwecken Konzerne wie Sanofi, Johnson & Johnson und Glaxo Smith Kline, deren Vakzine gerade die entscheidenden dritte Prüfungsphase durchlaufen. Die EU hat mit allen dreien Verträge auf viele Millionen Dosen abgeschlossen.
5.) Niemand kann wissen, wie lange der Spuk noch anhalten wird. Die Politik ist auf die Geduld ihrer Bürger angewiesen. Dass die Bundestagswahl allmählich anfängt, lässt sich am Verhalten der SPD ablesen. Es kann aber auch sein, dass das alte Spiel, billige Punkte auf Kosten anderer zu machen, diesmal nicht verfängt.
Angela Merkel muss diese Spiel nicht mehr spielen, es wäre aber gut, wenn sie nicht nur in Pressekonferenzen erklären würde, was nun wieder beschlossen wurde. Ab und zu mal eine Rede an uns alle, wie sie die Sache sieht und wie lange es dauert, bis im Stundentakt geimpft wird und wann die Pandemie uns in Ruhe lässt: Damit ließe sich unsere Geduld stärken.
Und ein paar angemessene Worte für die vielen Toten der Pandemie sind überfällig.
Veröffentlicht auf t-online.de, heute.
Was zum Lesen aus der SZ: Zugabe für Angela Merkel
Angela Merkel hat in ihrer Kanzlerschaft schon einiges erlebt, aber härter als Trump und Corona geht es wohl kaum. Es könnte also vieles besser werden, jetzt, wo für sie bald Schluss ist.
VON NICO FRIED
Berlin – Es ist der 21. Januar 2021, aber wenn er endet, wird Angela Merkel nicht zu sich selbst sagen, so, das war jetzt mein letzter 21. Januar im Amt. Auch nicht, wenn der 22. Januar vorbei ist. So denke sie nicht, behauptet die Kanzlerin, dafür habe sie zu wenig Zeit. Und überhaupt: Alles nun in Verbindung zu bringen mit dem sich allmählich nähernden Ende ihrer Kanzlerschaft, das sei sowieso vor allem eine Perspektive von Journalisten. „Meine Perspektive ist mitten im Leben und möglichst gut regieren.“
Mitten im Leben, das klingt fast fröhlich, aber das ist seit nunmehr einem Jahr vor allem mitten in der Corona- Krise, in der auch der Tod eine bedeutende Rolle spielt. Die Kanzlerin ist an diesem Donnerstag mal wieder zu Gast in der Bundespressekonferenz, sie kommt in letzter Zeit häufiger zu den Berliner Journalisten. Rumreisen und Reden halten, so wie sie das sonst gemacht hat, das gehe ja zurzeit nicht. Sie glaube aber, dass es ein „großes Bedürfnis gibt, auch von mir zu wissen, was uns leitet“. Also die weiße FFP2-Maske abgesetzt, ein Glas Wasser eingeschenkt, zweimal geräuspert, und schon beginnt Merkel ihren Bericht. Sie sagt, man habe es mit einer „gespaltenen Situation“ zu tun. Corona wird diese Kanzlerin wohl bis zum Ende ihrer Amtszeit begleiten. Vielleicht entspannt sich die Lage, wenn der Sommer die Temperaturen steigen lässt und die Zahl der Impfungen auch. Aber vorher könnte auch alles noch viel schlimmer werden. Die Infektionszahlen sinken, das ist die gute Nachricht. Trotzdem warnt Merkel vor einer Ausbreitung der Mutation des Virus. B.1.1.7 heißt die Mutation. Die Bezeichnung mancher Viren haben manche Menschen inzwischen schneller parat als das Datum ihres Hochzeitstags.
Eine dritte Welle könne noch dramatischer werden, weil B.1.1.7 ansteckender ist als das bisherige Virus und noch größere Schäden anrichten könne, sagt die Kanzlerin. „Das mutierte Virus ist da, das können wir jetzt nicht mehr wegkriegen.“ Es gehe darum, seine Ausbreitung zu stoppen.
Hört das denn nie auf?
In acht Monaten findet die Bundestagswahl statt. Sie wünsche sich, dass die Regierungsbildung danach „superschnell“ vonstatten gehe, wird Merkel später sagen. Das ist ein Satz mit Doppelsinn. Einerseits spielt sie natürlich auf die Erfahrung nach der Bundestagswahl 2017 an, als es Monate dauerte, bis die alte große Koalition auch wieder die neue war. Andererseits klingt es ein wenig so, als könne die Kanzlerin es kaum erwarten, aus dem Amt rauszukommen. Wenn ein Nachfolger oder eine Nachfolgerin vereidigt sein wird, verschwindet Angela Merkel aus der Politik. Endgültig. Weil es immer noch Zweifler gibt, sagt sie das am Donnerstag noch einmal klipp und klar: keine politische Funktion mehr.
Sie sieht in diesen Zeiten eher Söder als Joe Biden und Schwesig statt Kamala Harris. Ist halt so
Aber ist sie wirklich froh, wenn es endlich vorbei ist? Wenn man Merkel so reden hört, wenn man ihr ernstes Gesicht sieht, in dem auch Spuren der Anstrengung nicht zu verbergen sind, dann fragt man sich schon, ob sie sich das eigentlich so vorgestellt hat, diese letzte Phase ihrer Zeit an der Macht. Für Merkels Kanzlerschaft hatte sich die Geschichte in den vergangenen 15 Jahren schon ein paar Krisen ausgedacht, aber dass die härteste ausgerechnet ganz am Ende zuschlägt, ist schon eine Prüfung der besonderen Art.
Dass Merkel gar nicht an das Ende ihrer Amtszeit denkt, kann jedenfalls schon deshalb nicht stimmen, weil sie selbst zuletzt immer mal wieder darüber geredet hat. In ihrer Neujahrsansprache sagte sie an die Adresse der Bürger, es sei „aller Voraussicht nach das letzte Mal, dass ich mich als Bundeskanzlerin mit einer Neujahrsansprache an Sie wenden darf“. Und in ihrer Rede auf dem CDU-Parteitag am vergangenen Wochenende leitete sie mit einer ähnlichen Formulierung eine Bilanz ihrer Regierungszeit ein, in die sie derart tief abtauchte, dass für ein paar freundliche Worte zur scheidenden CDU-Vorsitzenden Annegret Kramp- Karrenbauer kein Platz mehr war. Warum auch immer. Ihre Amtszeit dauere bis zum Ende dieser Legislaturperiode, sagt Merkel. Bis zum letzten Tag trage sie die Verantwortung und zwar immer mit „angespannter Aufmerksamkeit“. Da gebe es keinen Unterschied „zum fünften Tag meiner Amtsausführung“.
Dieser fünfte Tag war der 26. November 2005. Es war ein Samstag. Merkel telefonierte zum ersten Mal als Kanzlerin mit Wladimir Putin. Sie verabredete sich zum ersten Mal mit Recep Tayyip Erdoğan. Und sie bereitete sich auf einen ersten europäischen Gipfel in Barcelona vor. Damals war Merkel die Neue, und alle anderen waren neugierig. Jetzt, am 21. Januar 2021, hat gerade wieder etwas begonnen, aber nicht in Berlin, sondern in Washington.
Wahrscheinlich hat auch Merkel am Mittwoch einige Bilder von der Amtseinführung Joe Bidens gesehen. Merkels Art, ihre Erleichterung über das Ende der Amtszeit von Donald Trump auszudrücken, ist typisch für diese Kanzlerin. Sie tritt nicht nach, sie verpackt ihre Freude in überaus staatstragende Worte: Mit dem neuen Präsidenten, sagt sie am Donnerstag, „beruht die Zusammenarbeit auf einem breiteren Fundament“.
Wenn man bedenkt, wie schwierig und fruchtlos die vergangenen vier Jahre mit Donald Trump waren, dann könnte es schon sein, dass Angela Merkel sich noch ein bisschen mehr Zeit mit dem neuen Präsidenten wünschen würde, jetzt, da bestimmt nicht alles plötzlich leicht wird, aber vielleicht manches leichter. Wie viel sich zwischen Joe Biden und Angela Merkel überhaupt noch entwickeln wird, kann niemand sagen. Bisher ist ja noch nicht einmal klar, wann die Pandemie eine erste persönliche Begegnung zulässt. Wenn es so schnell stattfinden soll wie bei Donald Trump vor vier Jahren, dann müsste Merkel spätestens Mitte März nach Washington fliegen – schwer vorstellbar in diesen Zeiten. Also bleibt es einstweilen bei Markus Söder statt Joe Biden und bei Manuela Schwesig statt Kamala Harris. Weit mehr als ein Dutzend Konferenzen hat Merkel 2020 mit den Ministerpräsidenten der Länder wegen der Corona-Krise absolviert. Die meisten dauerten viele Stunden. „Ich schätze diese Zusammenarbeit, auch wenn sie manchmal mühselig ist“, sagt Merkel mit dem Anflug eines Lächelns um den Mund.
Wenn ihr eine gewisse Kühle unterstellt wird, dann lässt sie das jedenfalls nicht ganz kalt
Am vergangenen Dienstag waren es wieder sieben Stunden und es gab jede Menge Ärger. „Wir alle löschen jeden Tag das Feuer“, hat sie irgendwann in der Sitzung gesagt, als sich die Diskussion mal wieder verhakt hatte. „Wir alle sind erschöpft.“ Am Donnerstag bezieht sie das auf die Bürgerinnen und Bürger. Ihre Prognose sei immer gewesen, dass der Winter sehr schwer werde und an den Nerven zehre. Wenn sie an all die Einschränkungen denke für Kinder und Eltern, für Lehrer und Erzieher, aber auch für Künstler, dann „wäre es doch verwunderlich, wenn die Geduld nicht auf eine sehr harte Probe gestellt würde“.
Trotzdem muss es ja weitergehen. Und man habe ja auch den Impfstoff, auch wenn „mit Recht“ darüber diskutiert werde, warum er am Anfang so knapp sei. Aber man wisse, „wie wir den Weg aus dieser Krise finden können“. Mahnung und Hoffnung, Vorsicht und Optimismus. Es wirkt, als trete Merkel Gaspedal und Bremse gleichzeitig. 2016 hat sie lange überlegt, ob sie ein Jahr später noch einmal für die Kanzlerschaft kandidieren solle. Damals, in ihrer dritten Legislaturperiode, lag die Flüchtlingskrise hinter ihr, auch kein politisches Vergnügen für die Kanzlerin. Doch mit Corona in der vierten Legislaturperiode kam es noch ein bisschen härter. Sie bedaure es nicht, noch einmal angetreten zu sein, sagt Merkel. Sie habe lange auf der Entscheidung rumgekaut, aber sie stehe dazu.
Merkel hat da einen sehr eigenen Blick. Das Faszinierende an der Politik, sagt sie, sei, dass man morgens, wenn man ins Büro komme, nicht wisse, was bis zum Abend alles passiere. Man müsse flexibel reagieren und „zum Wohle der Deutschen“ mit dem umgehen, was die Realität mit sich bringe. Dabei sei es wichtig, dass man nicht um jeden Preis an dem festhalte, was man einmal entschieden habe, sondern sich und die eigene Politik immer wieder prüfe.
Politiker sagen gerne mal – und auch Angela Merkel hat das schon gesagt – dass andere darüber urteilen müssten, ob sie ihrer Aufgabe gewachsen waren. Doch mit Blick auf die Corona-Krise präsentiert die Kanzlerin sich mit bemerkenswertem Selbstbewusstsein: „Es ist eine sehr spannende Zeit, ich konnte die Dinge bewältigen, aber es ist sehr fordernd.“
Und noch etwas ist interessant an der Perspektive Merkels. Die Pandemie, sagt sie, habe ja auch „Schwächen aufgedeckt“. Sie meint damit zum Beispiel die Rückstände in der Digitalisierung. Bei dieser Art der Betrachtung kann Merkel die Naturwissenschaftlerin in sich nicht verbergen. Was für einzelne Bürger, für Schüler, Eltern und Lehrerinnen ein fortwährendes Ärgernis bedeutet, betrachtet sie auch analytisch, systemisch, fast wie einen Großversuch.
Es ist dieses Denken, das dazu führt, dass Merkel die wissenschaftlichen Zusammenhänge epidemiologischer Entwicklungen oder statistischer Projektionen ausführlich zu erklären vermag. Das ist eine ihrer Stärken, weil sie wie wenige andere den Eindruck vermitteln kann, dasssie genau weiß, wovon sie redet. Aber es ist auch dieser bisweilen sehr distanzierte Blick, der Merkel immer mal wieder den Vorwurf eingebracht hat, ihr mangele es an Empathie.
Es ist auch diese Haltung, die es oft wie auswendig gelernt klingen lässt, wenn Merkel Bedauern oder Mitgefühl zum Ausdruck bringt. Sie sagt fast immer, es breche ihr das Herz – bei den Waffelbäckern und Glühweinverkäufern, die wegen der Infektionsgefahr ihre Buden vor Weihnachten schließen mussten, aber auch wenn sie über Menschen spricht, die in Alten- und Pflegeheimen einsam sterben mussten. Es gibt keinen Grund an der Aufrichtigkeit ihres Gefühls zu zweifeln – aber sein Ausdruck ist nur ein Textbaustein. Wahrscheinlich kennt die Kanzlerin ihre rhetorische Schwäche an dieser Stelle. Es macht jedenfalls den Eindruck, als lasse es sie nicht kalt, wenn ihr eine gewisse Kühle unterstellt wird. Das dürfte auch der Grund gewesen sein, weshalb sie am Dienstag so angefasst reagierte und in der Videokonferenz mit den Ministerpräsidenten inmitten der Debatte über Schulschließungen und Home-Office verärgert ausrief: „Ich lasse es mir nicht anhängen, dass ich Kinder quäle und Arbeitnehmer vernachlässige.“
Merkel kann sich denken, dass auch Politiker aus ihrer Koalition in Gesprächen hintenrum den Grund für ihre harte Haltung bei den Schulen darin sehen, dass sie selbst keine Kinder hat. Es ist ein Motiv mit einer gewissen Tradition, gerade in der SPD. Im Wahlkampf 2005 hatte die damalige Ehefrau von Kanzler Gerhard Schröder, Doris Schröder-Köpf, der CDU-Kandidatin vorgehalten, mit ihrer Biografie nicht die Erfahrungen der meisten Frauen zu verkörpern, die Kinder erziehen und sich gleichzeitig um ihren Beruf kümmern müssten. „Das ist nicht Merkels Welt.“
Im Fernsehduell konterte Schröder die Kritik Merkels an dieser Einmischung später mit dem Satz: Meine Frau „lebt das, was sie sagt, und ich füge hinzu: Das ist nicht zuletzt der Grund, warum ich sie liebe.“ Merkel hat sich über diese Replik sehr geärgert. 2015, in einer Debatte über die gleichgeschlechtliche Ehe, war es dann der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth, der sich im Bundestag eine Bemerkung nicht verkneifen konnte. Als es um die Fortpflanzung als Zweck der Ehe ging, rief er von der Regierungsbank aus: „Und was ist mit der Bundeskanzlerin?“Roth entschuldigte sich später bei Merkel. Trotzdem könnte es durchaus damit zu tun haben, dass sie eine gewisse politische Perfidie vermutet, dass Merkel besonders gereizt reagiert, wenn sie allzu großer Härte gegenüber Kindern geziehen wird.
In der Pressekonferenz am Donnerstag ist auffallend oft von den Schülern die Rede, die besondere Opfer brächten. Und auch von den Eltern und Lehrern. Merkel sagt, Kitas und Schulen sollten unbedingt als Erstes wieder öffnen. Das ist ein gewagtes Versprechen, wenn man bedenkt, dass die Kanzlerin vor einigen Monaten verkündet hatte, Kitas und Schulen sollten am besten gar nicht erst wieder geschlossen werden. Aber das ist eben auch so eine Position, die man morgens noch hat, wenn man ins Kanzleramt fährt, und die sich bis zum Abend ändern kann. Man muss flexibel sein, hat die Kanzlerin gesagt. Andere Betroffene spielen an diesem Donnerstag keine so große Rolle. Die Friseure erwähnt Merkel nur einmal, und das auch nur in einer eher humoristischen Bemerkung darüber, dass es „aus praktischen Gründen“ angeraten sei, alsbald auch wieder die Salons zu öffnen.
Sie meine das „eher anekdotisch“, sagt Merkel, verrät aber nicht, welche Matte auf welchem Schädel im Kanzleramt sie zu dieser Einschätzung gebracht haben könnte. Künstler nennt sie einmal, Restaurantbetreiberinnen oder Hoteliers gar nicht.
Ein Jahr Corona-Krise. Merkel kommt in der Bewertung durch die Bürger insgesamt gut weg, die Zustimmungswerte zu ihrer Politik sind hoch, wenn auch nicht mehr ganz so hoch wie in den ersten Monaten. Als Merkel zuletzt wieder einige Wissenschaftler ins Kanzleramt einlud, um über die pandemische Lage zu sprechen, musste sie sich Kritik anhören, es kämen nur Experten zu Wort, die ihr nach dem Mund redeten. Merkel weist das zurück. Sie lade jeweils Fachleute zu dem Thema ein, das besonders wichtig sei, am Montagabend sei das die Mutation des Virus gewesen. Trotzdem verfolge sie auch „die anderen Meinungsbildungen“, sagt die Kanzlerin und fügt den schönen Satz hinzu: „Wir sind ja nicht jemand, der ignorant ist.“
Sie referiert über das Impfen, überProduktionsstätten, am Ende sogar über Kochsalzlösung
Beim Impfen könnte es besser laufen, das weiß auch Merkel. Ob sie sich da persönlich für Fehler entschuldigen müsse, wird sie gefragt. Sie entschuldigt sich für gar nichts und sagt nur, dass niemand an jedem Tag alles richtig mache.
Aus ihrer Sicht ist und bleibt es eine Erfolgsgeschichte, dass es überhaupt nach so kurzer Zeit einen Impfstoff gibt, und dass er bereits am Tag der Zulassung auch produziert gewesen sei und verteilt werden konnte. „Ich verstehe die Ungeduld“, sagt die Kanzlerin. Aber weder gebe es Grund für Kritik an der Firma Biontech, die den ersten zugelassenen Impfstoff entwickelt hat, noch an der Beschaffung durch die Europäische Kommission. Lang und breit kann Merkel über die Verteilung der Produktionsstätten in den USA und Europa referieren. Und auch über neue Produktionsstätten, die mit Unterstützung der Bundesregierung nun entstünden, zum Beispiel in Marburg. „Ich betreibe keine Impfstoffherstellung“, sagt Merkel. Deshalb könne sie auch nicht garantieren, wann genug Dosen für alle vorhanden seien. Aber sie könne helfen, dass alle notwendigen Rohstoffe für Herstellung verfügbar seien. Kochsalzlösung, zum Beispiel. „Das klingt trivial“, sagt Merkel, aber das Zeug scheint nicht so einfach zu besorgen zu sein.
Acht Monate sind es noch bis zur Bundestagswahl. Die könnten für die Kanzlerin noch verdammt schwierig werden. Vor allem – wer hätte das gedacht – wenn es an Kochsalzlösung mangelt.
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Das wird wieder nichts, wie schade, wie absehbar
Momentan spielt sich die Politik in Amerika auf drei Ebenen statt, die natürlich miteinander verbunden sind. Da ist der neue Präsident, der im Akkord Direktiven unterschreibt, welche die Direktiven seines Vorgängers außer kraft setzen. Erstaunlich, wie geschmeidig der Apparat gleich nach der Vereidigung Joe Bidens angesprungen ist.
Auf der zweiten Ebene schwärmen FBI-Agenten aus und verhaften Tag für Tag Leute, die sich beim Aufruhr im Capitol selber filmten oder gefilmt wurden, als hätten sie nichts zu befürchten. Es war wie beim Lynchen in früheren Tagen, als die Mörder ebenso wie der skandierende Mob sicher sein konnten, dass weder die Polizei noch das FBI und schon gar nicht ein Richter sie je zur Rechenschaft ziehen würden. Auch Trumps Sturmtruppen fühlten sich unverwundbar beim Verwüsten im Kapitol, mit dem Präsidenten als Schutzherrn und Anführer in einem.
Jetzt ist der Mann mit den Hörnern genauso in Untersuchungshaft wie der Typ mit dem Camp-Auschwitz T-Shirt oder der Mann mit den Stiefeln auf Nancy Pelosis Schreibtisch. Und die Proud Boys und Three Percent und wie diese Fascho-Gruppen auch heißen mögen, sind enttäuscht von ihrem Führer, der jetzt so tut, als hätte er mit ihnen nichts am Hut, rein gar nichts. Eine hübsche Pointe nach bitteren Tagen.
Auf der dritten Ebene findet ein Verfahren statt, das Donald Trump zur historischen Figur erheben wird, egal wie es ausgeht: das Impeachment für einen Präsidenten, der nicht mehr Präsident ist. Davon werden die Geschichtsbücher erzählen, keine Frage.
Morgen wird der Senat zu einer speziellen Sitzung einberufen. Der Vorsitzende Richter im Obersten Gericht vereidigt die 50 Republikaner und die 50 Demokraten, denn der Senat verwandelt sich im Amtsenthebungsverfahren in ein Gericht, das dann über die Anstiftung zum Aufruhr urteilen wird.
Natürlich ist das ein politischer Prozess, der am 9. Februar beginnen wird. Die entscheidende Frage ist, ob 17 republikanische Senatoren mit den Demokraten gemeinsame Sache machen und Trump sozusagen posthum verurteilen. Die 67 ist die entscheidende Zahl, denn nur mit Zweidrittel-Mehrheit kommt es zur Verurteilung. Ein Schuldspruch würde bedeuten, dass Donald E. Trump kein öffentliches Amt mehr anstreben darf. Amerika hätte Trump so weit los, wie Amerika ihn los haben kann.
Präsdent Joseph Robinette Biden Junior sagt öffentlich kein Wort über Trump oder das Impeachment. Anderes hat er zu tun. Um das Wesentliche, zum Beispiel die Pandemie, kümmert er sich und hofft ansonsten darauf, dass seine Minister und Mitarbeiter möglichst schnell vom Senat bestätigt werden. Arbeit ist seine Devise. Tun ist für ihn wichtiger als Reden, das ohnehin nicht seine Stärke ist.
Das Impeachment ist nicht Bidens Erfindung. Niemand weiß, ob er dazu ermunterte oder davor warnte. Ob er es für moralisch nötig erachtet, aber für einen politischen Fehler hält. Das Urteil hat ja Rückwirkungen auf ihn. Gelingen nützt ihm, na klar. Scheitern schadet ihm, was sonst. Da Scheitern wahrscheinlicher ist als Gelingen, hält sich Biden dem Impeachment fern.
Die Demokraten haben es ja schon einmal versucht. Vor einem Jahr war das Unterfangen von Anfang an aussichtslos. Keiner der republikanischen Senatoren erweckte auch nur den Anschein, dass er für das Impeachment stimmen würde. Sie blockierten und hintertrieben das Verfahren. Sie machten sich lustig darüber. Sie demütigten die Demokraten.
Niederlagen schwächen. Niederlagen mit Ansage noch mehr. Die moralische Empörung über den amoralischen Präsidenten war zwar verständlich, wer hätte sich nicht empört. Aber kalte Machtpolitik ist manchmal besser als ein heißes Herz.
Diesmal ist die Aussicht auf Erfolg prinzipiell günstiger. Der 6. Januar veränderte viel. Der Sturm aufs Kapitol mit fünf Toten war eine nationale Katastrophe, angestachelt von Trump und belobigt von ihm („We love you, you are very special“), bevor ihn seine Anwälte zur Vernunft brachten und ihm aufschrieben, dass er nicht gut fand, was sich da im Heiligtum der amerikanischen Republik ereignete, ohne sein Zutun, selbstverständlich.
Etliche Republikaner wandten sich seither von Trump ab. Aber sind es genug? Und machen sie auch, wovon sie laut und leise reden? Klappt das Impeachment diesmal?
Gehen wir mal die Möglichkeiten durch:
- Es finden sich 17 Republikaner im Senat für das Impeachment. Dann darf Donald Trump nie mehr ein öffentliches Amt anstreben. Seine Schuld am Sturm aufs Kapitol ist ein für allemal in Stein gemeißelt. Die Demokraten erleben die größtmögliche Genugtuung für vier Jahre der Verachtung und Demütigung. Präsident Biden segelt auf einer Erfolgswelle.
- Es finden sich einige Republikaner, aber nicht genügend, nicht 17. Der zweite Versuch, mit Trump abzurechnen, ist allenfalls ein Achtungserfolg, mehr aber nicht. Die Demokraten gehen in die Geschichte ein und zwar als die Partei, die einen Präsidenten zweimal vergeblich amtsentheben wollten. Trump und die Trumpisten frohlocken. Fox News schüttet ganze Kübel Hohn aus.
- Wieder findet sich nur ein einziger Republikaner, Mitt Romney, der für die Amtsenthebung stimmt. In der demokratischen Partei beginnt eine Auseinandersetzung darüber, wer eigentlich Nancy Pelosi dazu angetrieben hat, zweimal auf gut Glück gegen Trump vorzugehen, ohne Aussicht auf Mehrheit im Senat. Präsident Biden muss sich rechtfertigen, warum er dem Verhängnis freien Lauf ließ, anstatt einzugreifen. Führungsschwäche ist der Vorwurf, der ihm anhaftet.
Ich tippe auf die zweite Möglichkeit: einige, aber zu wenige republikanische Senatoren machen mit. Mitt Romney hat schon angekündigt, er werde pro Impeachment stimmen. Mario Rubio nennt das ganze Verfahren bescheuert („stupid“) und verlangt, dass der neue Präsident den alten begnadigt, genauso wie Richard Nixon begnadigt wurde. Einige andere halten es für verfassungswidrig, Trump im Nachhinein seines Amtes zu entheben, unabhängig von der Verantwortung für den 6. Januar.
Besonders interessant verhält sich der republikanische Anführer im Senat, Mitch McConnell, der kälteste Machtpolitiker, den ich kenne. Seit dem 6. Januar rückt er von sich selber ab – er, der Trump Gefolgschaft leistete, über die Lüge von der gelinkten Wahl hinweg. Jetzt tut er geradewegs so, als könnte er mit den Demokraten stimmen, was wirklich eine Sensation wäre, also nicht eintreten wird. Gegen seine Gewohnheit gibt er seinen Kollegen diesmal keine Anweisung, wie sie abstimmen sollen: Das Impeachment sei eine Gewissensentscheidung, sagt er.
Klingt gut, aber auch tückisch: Jeder Senator ist persönlich verantwortlich und muss in seinem Heimatstaat Rechenschaft ablegen. Die Trumpisten kündigen Abtrünnigen schon heute Rache an, spätestens bei der nächsten Senatswahl in zwei Jahren. Für jeden republikanischen Senatoren geht es um Risikoabwägung, nicht um Moral. Für Unsicherheit sorgt, dass niemand genau weiß, wer in der Partei die Oberhand hat, die Trumpisten oder die Traditionalisten.
Die republikanischen Senatoren sind unsichere Kantonisten. Deshalb dürften die Demokraten auch diesmal an den Mehrheitsverhältnissen scheitern. Vermutlich haben sie sogar damit gerechnet, es aber trotzdem versucht, aus moralischen Gründen. Manchmal aber kann das moralisch Richtige politisch problematisch sein. Mal schauen, welche Folgen sich ergeben.
Veröffentlicht auf t-online.de, heute.
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Was für die Ewigkeit: Amanda Gormans Gedicht
Ihren Namen kannte ich nicht, sie ist 22 Jahre alt, was soll da schon sein. Wer auch immer in Bidens Team auf die Idee verfiel, Amanda Gorman dorthin zu stellen, wo der große Robert Frost bei der Amtseinführung von John F. Kennedy gestanden hatte, tat der Welt einen Gefallen.
Eine zarte junge schwarze Frau im knallgelben Mantel tritt ans Mikrophon und rezitiert ein Gedicht, das sie geschrieben hat. Jeder fragt sich, was kommt jetzt, wir schauen hin, wir hören hin, zuerst gespannt, dann gebannt. Hier kommt noch mal der Text von „The Hill, we climb“, pathetisch und klar, gesprochen und gesungen, in jeder Zeile das Amerika, das ich liebe, und in Lyrik verwandelt, worum es heute geht, worum es Joseph Robinette Biden Junior geht und gehen muss:
Amanda Gorman: (00:00)
Mr. President, Dr. Biden, Madam Vice President, Mr. Emhoff, Americans and the world:
When day comes we ask ourselves where can we find light in this never-ending shade? The loss we carry a sea we must wade. We’ve braved the belly of the beast. We’ve learned that quiet isn’t always peace. In the norms and notions of what just is isn’t always justice. And yet, the dawn is ours before we knew it. Somehow we do it. Somehow we’ve weathered and witnessed a nation that isn’t broken, but simply unfinished. We, the successors of a country and a time where a skinny black girl descended from slaves and raised by a single mother can dream of becoming president only to find herself reciting for one.
Amanda Gorman: (01:10)
And yes, we are far from polished, far from pristine, but that doesn’t mean we are striving to form a union that is perfect. We are striving to forge our union with purpose. To compose a country committed to all cultures, colors, characters, and conditions of man. And so we lift our gazes not to what stands between us, but what stands before us. We close the divide because we know to put our future first, we must first put our differences aside. We lay down our arms so we can reach out our arms to one another. We seek harm to none and harmony for all. Let the globe, if nothing else, say this is true. That even as we grieved, we grew. That even as we hurt, we hoped. That even as we tired, we tried that will forever be tied together victorious. Not because we will never again know defeat, but because we will never again sow division.
Amanda Gorman: (02:22)
Scripture tells us to envision that everyone shall sit under their own vine and fig tree and no one shall make them afraid. If we’re to live up to her own time, then victory won’t lie in the blade, but in all the bridges we’ve made. That is the promise to glade, the hill we climb if only we dare. It’s because being American is more than a pride we inherit. It’s the past we step into and how we repair it. We’ve seen a forest that would shatter our nation rather than share it. Would destroy our country if it meant delaying democracy. This effort very nearly succeeded.
Amanda Gorman: (03:07)
But while democracy can be periodically delayed, it can never be permanently defeated. In this truth, in this faith we trust for while we have our eyes on the future, history has its eyes on us. This is the era of just redemption. We feared it at its inception. We did not feel prepared to be the heirs of such a terrifying hour, but within it, we found the power to author a new chapter, to offer hope and laughter to ourselves so while once we asked, how could we possibly prevail over catastrophe? Now we assert, how could catastrophe possibly prevail over us?
Amanda Gorman: (03:56)
We will not march back to what was, but move to what shall be a country that is bruised, but whole, benevolent, but bold, fierce, and free. We will not be turned around or interrupted by intimidation because we know our inaction and inertia will be the inheritance of the next generation. Our blunders become their burdens. But one thing is certain, if we merge mercy with might and might with right, then love becomes our legacy and change our children’s birthright.
Amanda Gorman: (04:36)
So let us leave behind a country better than one we were left with. Every breath from my bronze-pounded chest we will raise this wounded world into a wondrous one. We will rise from the gold-limbed hills of the West. We will rise from the wind-swept Northeast where our forefathers first realized revolution. We will rise from the Lake Rim cities of the Midwestern states. We will rise from the sun-baked South. We will rebuild, reconcile and recover in every known nook of our nation, in every corner called our country our people diverse and beautiful will emerge battered and beautiful. When day comes, we step out of the shade aflame and unafraid. The new dawn blooms as we free it. For there is always light. If only we’re brave enough to see it. If only we’re brave enough to be it.
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Kann er, was er sich zutraut?
Gewonnen hat der Kandidat, der die beste Rede hielt, ein Plädoyer für die liberale Demokratie, welche die CDU inzwischen verkörpert, was nicht selbstverständlich ist, betrachtet man ihre Geschichte. Gewonnen hat Armin Laschet, weil er Integration mit Abgrenzung verbindet, Bonhomie mit Bestimmtheit. Ob das mehr ist als das Weiter-so-wie-Angela-Merkel wird sich bald schon abzeichnen.
Wahlen werden in Demokratien gemeinhin in der Mitte gewonnen, auch deshalb bevorzugt die CDU ihren Laschet. Sie allein ist annähernd noch eine Volkspartei. Volksparteien definieren sich mathematisch, sie müssen mehr als 40 Prozent haben. So hoch kam die CDU nicht mit der amtierenden Bundeskanzlerin und so viel wird sie auch im September nicht erreichen, egal ob Armin Laschet oder Markus Söder Bundeskanzler wird. Das neue 40 plus ist 30 plus.
Armin Laschet ist nun Bundesvorsitzender der CDU. Den Anspruch auf die Kanzlerschaft hat er nicht verbal erhoben, aber er hat den größten Bogen geschlagen, zu Trump und dem Sturm aufs Kapitol, und das will etwas bedeuten. Laschet ist ein Mann, den man nicht unterschätzen sollte. Er ist gewitzt und erfahren. Er hat einen langen Atem. Er holt im letzten Moment auf. Diese Erfahrung hat Friedrich Merz jetzt hinter sich und Markus Söder vor sich.
Laschet oder Söder also. Die Union befindet sich ab jetzt im Wahlkampf mit sich selbst, bevor sie in den Bundestagswahlkampf zieht. Was für einen Kanzler aber braucht das Land?
Am besten einen, der Unterschiedliches miteinander verbindet. Tatkraft mit sozialem Sinn. Entschiedenheit mit der Fähigkeit, die Entscheidungen zu erklären, zu kommunizieren. Kalte Sachlichkeit mit Empathie. Ernst mit Humor, denn sonst ginge er in den Mühlen unter, die unentwegt mahlen. Dazu muss er eine enorme Standfestigkeit besitzen und auch ungerechte Behandlung durch Presse und Parteifreunde ertragen. In digitalen Zeiten, in denen Hass und Hetze gedeihen, ist ein Panzer wichtiger denn je.
Das ist ziemlich viel von einem einzelnen Menschen verlangt, denn am Ende kommt es auf den Kanzler an, so trivial das auch klingen mag. Die Anforderungen kommen einerseits von den Wählern, aber mehr noch vom Amt. Ein Berater von Willy Brandt sagte mal, er würde es seinem Hund nicht wünschen, das auszuhalten, was ein Kanzler aushalten muss.
Dabei hat die Nachkriegsrepublik ausgesprochenes Glück mit seinen Kanzlern gehabt. Die meisten von ihnen haben nicht aus Zufall lange regiert. Sie wollten nicht nur unbedingt Kanzler sein, sie füllten das Amt auch aus und prägten das Land, bis hin zu Angela Merkel, die so lange Kanzlerin gewesen sein wird wie Helmut Kohl, den sie ins Abseits schickte.
Große Schuhe stehen bereit, egal ob für Laschet oder Söder. Wer auch immer es wird, muss die AfD bekämpfen und die Wirtschaft nach Corona aufrichten. Dazu kommt die Entfremdung von der Schutzmacht Amerika, die Joe Biden mindern mag, aber der Schwerpunkt der Weltpolitik hat sich längst nach Asien verlagert. Europa sollte mehr sein, als es ist, das weiß jeder, und dem nächsten Bundeskanzler wächst die Aufgabe zu, Europa zu definieren, weil Deutschland nun einmal Führungsmacht ist, nicht nur ökonomisch.
Der nächste Kanzler muss Amerika umwerben und eine Haltung gegenüber China entwickeln, die Export aus deutschem Interesse und Distanz wegen der Menschenrechte verbindet. Keine Minute Ruhe wird er haben, Stress ohne Ende, denn immer steht die nächste Krise schon bevor, auch die nächste Landtagswahl und dazu finden sich beständig Neider, Nörgler und Brunnenvergifter, auch in der eigenen Partei.
Heute darf Armin Laschet, der nette Mann aus Aachen, der es in seiner Rede schaffte, von seinem Vater zu erzählen und zugleich die liberale Demokratie in angemessenen Farben zu zeichnen, ein bisschen feiern, coronamäßig eben. Ab morgen wird er vermessen, kommen die berechtigten Fragen auf, ob er kann, was er sich zutraut, und wie er sich mit Markus Söder arrangieren wird und ob er das überhaupt kann.
Wer sich in die Küche wagt, muss die Hitze aushalten.
Veröffentlicht auf t-online.de, gestern