Angela Merkel hat in ihrer Kanzlerschaft schon einiges erlebt, aber härter als Trump und Corona geht es wohl kaum. Es könnte also vieles besser werden, jetzt, wo für sie bald Schluss ist.
VON NICO FRIED
Berlin – Es ist der 21. Januar 2021, aber wenn er endet, wird Angela Merkel nicht zu sich selbst sagen, so, das war jetzt mein letzter 21. Januar im Amt. Auch nicht, wenn der 22. Januar vorbei ist. So denke sie nicht, behauptet die Kanzlerin, dafür habe sie zu wenig Zeit. Und überhaupt: Alles nun in Verbindung zu bringen mit dem sich allmählich nähernden Ende ihrer Kanzlerschaft, das sei sowieso vor allem eine Perspektive von Journalisten. „Meine Perspektive ist mitten im Leben und möglichst gut regieren.“
Mitten im Leben, das klingt fast fröhlich, aber das ist seit nunmehr einem Jahr vor allem mitten in der Corona- Krise, in der auch der Tod eine bedeutende Rolle spielt. Die Kanzlerin ist an diesem Donnerstag mal wieder zu Gast in der Bundespressekonferenz, sie kommt in letzter Zeit häufiger zu den Berliner Journalisten. Rumreisen und Reden halten, so wie sie das sonst gemacht hat, das gehe ja zurzeit nicht. Sie glaube aber, dass es ein „großes Bedürfnis gibt, auch von mir zu wissen, was uns leitet“. Also die weiße FFP2-Maske abgesetzt, ein Glas Wasser eingeschenkt, zweimal geräuspert, und schon beginnt Merkel ihren Bericht. Sie sagt, man habe es mit einer „gespaltenen Situation“ zu tun. Corona wird diese Kanzlerin wohl bis zum Ende ihrer Amtszeit begleiten. Vielleicht entspannt sich die Lage, wenn der Sommer die Temperaturen steigen lässt und die Zahl der Impfungen auch. Aber vorher könnte auch alles noch viel schlimmer werden. Die Infektionszahlen sinken, das ist die gute Nachricht. Trotzdem warnt Merkel vor einer Ausbreitung der Mutation des Virus. B.1.1.7 heißt die Mutation. Die Bezeichnung mancher Viren haben manche Menschen inzwischen schneller parat als das Datum ihres Hochzeitstags.
Eine dritte Welle könne noch dramatischer werden, weil B.1.1.7 ansteckender ist als das bisherige Virus und noch größere Schäden anrichten könne, sagt die Kanzlerin. „Das mutierte Virus ist da, das können wir jetzt nicht mehr wegkriegen.“ Es gehe darum, seine Ausbreitung zu stoppen.
Hört das denn nie auf?
In acht Monaten findet die Bundestagswahl statt. Sie wünsche sich, dass die Regierungsbildung danach „superschnell“ vonstatten gehe, wird Merkel später sagen. Das ist ein Satz mit Doppelsinn. Einerseits spielt sie natürlich auf die Erfahrung nach der Bundestagswahl 2017 an, als es Monate dauerte, bis die alte große Koalition auch wieder die neue war. Andererseits klingt es ein wenig so, als könne die Kanzlerin es kaum erwarten, aus dem Amt rauszukommen. Wenn ein Nachfolger oder eine Nachfolgerin vereidigt sein wird, verschwindet Angela Merkel aus der Politik. Endgültig. Weil es immer noch Zweifler gibt, sagt sie das am Donnerstag noch einmal klipp und klar: keine politische Funktion mehr.
Sie sieht in diesen Zeiten eher Söder als Joe Biden und Schwesig statt Kamala Harris. Ist halt so
Aber ist sie wirklich froh, wenn es endlich vorbei ist? Wenn man Merkel so reden hört, wenn man ihr ernstes Gesicht sieht, in dem auch Spuren der Anstrengung nicht zu verbergen sind, dann fragt man sich schon, ob sie sich das eigentlich so vorgestellt hat, diese letzte Phase ihrer Zeit an der Macht. Für Merkels Kanzlerschaft hatte sich die Geschichte in den vergangenen 15 Jahren schon ein paar Krisen ausgedacht, aber dass die härteste ausgerechnet ganz am Ende zuschlägt, ist schon eine Prüfung der besonderen Art.
Dass Merkel gar nicht an das Ende ihrer Amtszeit denkt, kann jedenfalls schon deshalb nicht stimmen, weil sie selbst zuletzt immer mal wieder darüber geredet hat. In ihrer Neujahrsansprache sagte sie an die Adresse der Bürger, es sei „aller Voraussicht nach das letzte Mal, dass ich mich als Bundeskanzlerin mit einer Neujahrsansprache an Sie wenden darf“. Und in ihrer Rede auf dem CDU-Parteitag am vergangenen Wochenende leitete sie mit einer ähnlichen Formulierung eine Bilanz ihrer Regierungszeit ein, in die sie derart tief abtauchte, dass für ein paar freundliche Worte zur scheidenden CDU-Vorsitzenden Annegret Kramp- Karrenbauer kein Platz mehr war. Warum auch immer. Ihre Amtszeit dauere bis zum Ende dieser Legislaturperiode, sagt Merkel. Bis zum letzten Tag trage sie die Verantwortung und zwar immer mit „angespannter Aufmerksamkeit“. Da gebe es keinen Unterschied „zum fünften Tag meiner Amtsausführung“.
Dieser fünfte Tag war der 26. November 2005. Es war ein Samstag. Merkel telefonierte zum ersten Mal als Kanzlerin mit Wladimir Putin. Sie verabredete sich zum ersten Mal mit Recep Tayyip Erdoğan. Und sie bereitete sich auf einen ersten europäischen Gipfel in Barcelona vor. Damals war Merkel die Neue, und alle anderen waren neugierig. Jetzt, am 21. Januar 2021, hat gerade wieder etwas begonnen, aber nicht in Berlin, sondern in Washington.
Wahrscheinlich hat auch Merkel am Mittwoch einige Bilder von der Amtseinführung Joe Bidens gesehen. Merkels Art, ihre Erleichterung über das Ende der Amtszeit von Donald Trump auszudrücken, ist typisch für diese Kanzlerin. Sie tritt nicht nach, sie verpackt ihre Freude in überaus staatstragende Worte: Mit dem neuen Präsidenten, sagt sie am Donnerstag, „beruht die Zusammenarbeit auf einem breiteren Fundament“.
Wenn man bedenkt, wie schwierig und fruchtlos die vergangenen vier Jahre mit Donald Trump waren, dann könnte es schon sein, dass Angela Merkel sich noch ein bisschen mehr Zeit mit dem neuen Präsidenten wünschen würde, jetzt, da bestimmt nicht alles plötzlich leicht wird, aber vielleicht manches leichter. Wie viel sich zwischen Joe Biden und Angela Merkel überhaupt noch entwickeln wird, kann niemand sagen. Bisher ist ja noch nicht einmal klar, wann die Pandemie eine erste persönliche Begegnung zulässt. Wenn es so schnell stattfinden soll wie bei Donald Trump vor vier Jahren, dann müsste Merkel spätestens Mitte März nach Washington fliegen – schwer vorstellbar in diesen Zeiten. Also bleibt es einstweilen bei Markus Söder statt Joe Biden und bei Manuela Schwesig statt Kamala Harris. Weit mehr als ein Dutzend Konferenzen hat Merkel 2020 mit den Ministerpräsidenten der Länder wegen der Corona-Krise absolviert. Die meisten dauerten viele Stunden. „Ich schätze diese Zusammenarbeit, auch wenn sie manchmal mühselig ist“, sagt Merkel mit dem Anflug eines Lächelns um den Mund.
Wenn ihr eine gewisse Kühle unterstellt wird, dann lässt sie das jedenfalls nicht ganz kalt
Am vergangenen Dienstag waren es wieder sieben Stunden und es gab jede Menge Ärger. „Wir alle löschen jeden Tag das Feuer“, hat sie irgendwann in der Sitzung gesagt, als sich die Diskussion mal wieder verhakt hatte. „Wir alle sind erschöpft.“ Am Donnerstag bezieht sie das auf die Bürgerinnen und Bürger. Ihre Prognose sei immer gewesen, dass der Winter sehr schwer werde und an den Nerven zehre. Wenn sie an all die Einschränkungen denke für Kinder und Eltern, für Lehrer und Erzieher, aber auch für Künstler, dann „wäre es doch verwunderlich, wenn die Geduld nicht auf eine sehr harte Probe gestellt würde“.
Trotzdem muss es ja weitergehen. Und man habe ja auch den Impfstoff, auch wenn „mit Recht“ darüber diskutiert werde, warum er am Anfang so knapp sei. Aber man wisse, „wie wir den Weg aus dieser Krise finden können“. Mahnung und Hoffnung, Vorsicht und Optimismus. Es wirkt, als trete Merkel Gaspedal und Bremse gleichzeitig. 2016 hat sie lange überlegt, ob sie ein Jahr später noch einmal für die Kanzlerschaft kandidieren solle. Damals, in ihrer dritten Legislaturperiode, lag die Flüchtlingskrise hinter ihr, auch kein politisches Vergnügen für die Kanzlerin. Doch mit Corona in der vierten Legislaturperiode kam es noch ein bisschen härter. Sie bedaure es nicht, noch einmal angetreten zu sein, sagt Merkel. Sie habe lange auf der Entscheidung rumgekaut, aber sie stehe dazu.
Merkel hat da einen sehr eigenen Blick. Das Faszinierende an der Politik, sagt sie, sei, dass man morgens, wenn man ins Büro komme, nicht wisse, was bis zum Abend alles passiere. Man müsse flexibel reagieren und „zum Wohle der Deutschen“ mit dem umgehen, was die Realität mit sich bringe. Dabei sei es wichtig, dass man nicht um jeden Preis an dem festhalte, was man einmal entschieden habe, sondern sich und die eigene Politik immer wieder prüfe.
Politiker sagen gerne mal – und auch Angela Merkel hat das schon gesagt – dass andere darüber urteilen müssten, ob sie ihrer Aufgabe gewachsen waren. Doch mit Blick auf die Corona-Krise präsentiert die Kanzlerin sich mit bemerkenswertem Selbstbewusstsein: „Es ist eine sehr spannende Zeit, ich konnte die Dinge bewältigen, aber es ist sehr fordernd.“
Und noch etwas ist interessant an der Perspektive Merkels. Die Pandemie, sagt sie, habe ja auch „Schwächen aufgedeckt“. Sie meint damit zum Beispiel die Rückstände in der Digitalisierung. Bei dieser Art der Betrachtung kann Merkel die Naturwissenschaftlerin in sich nicht verbergen. Was für einzelne Bürger, für Schüler, Eltern und Lehrerinnen ein fortwährendes Ärgernis bedeutet, betrachtet sie auch analytisch, systemisch, fast wie einen Großversuch.
Es ist dieses Denken, das dazu führt, dass Merkel die wissenschaftlichen Zusammenhänge epidemiologischer Entwicklungen oder statistischer Projektionen ausführlich zu erklären vermag. Das ist eine ihrer Stärken, weil sie wie wenige andere den Eindruck vermitteln kann, dasssie genau weiß, wovon sie redet. Aber es ist auch dieser bisweilen sehr distanzierte Blick, der Merkel immer mal wieder den Vorwurf eingebracht hat, ihr mangele es an Empathie.
Es ist auch diese Haltung, die es oft wie auswendig gelernt klingen lässt, wenn Merkel Bedauern oder Mitgefühl zum Ausdruck bringt. Sie sagt fast immer, es breche ihr das Herz – bei den Waffelbäckern und Glühweinverkäufern, die wegen der Infektionsgefahr ihre Buden vor Weihnachten schließen mussten, aber auch wenn sie über Menschen spricht, die in Alten- und Pflegeheimen einsam sterben mussten. Es gibt keinen Grund an der Aufrichtigkeit ihres Gefühls zu zweifeln – aber sein Ausdruck ist nur ein Textbaustein. Wahrscheinlich kennt die Kanzlerin ihre rhetorische Schwäche an dieser Stelle. Es macht jedenfalls den Eindruck, als lasse es sie nicht kalt, wenn ihr eine gewisse Kühle unterstellt wird. Das dürfte auch der Grund gewesen sein, weshalb sie am Dienstag so angefasst reagierte und in der Videokonferenz mit den Ministerpräsidenten inmitten der Debatte über Schulschließungen und Home-Office verärgert ausrief: „Ich lasse es mir nicht anhängen, dass ich Kinder quäle und Arbeitnehmer vernachlässige.“
Merkel kann sich denken, dass auch Politiker aus ihrer Koalition in Gesprächen hintenrum den Grund für ihre harte Haltung bei den Schulen darin sehen, dass sie selbst keine Kinder hat. Es ist ein Motiv mit einer gewissen Tradition, gerade in der SPD. Im Wahlkampf 2005 hatte die damalige Ehefrau von Kanzler Gerhard Schröder, Doris Schröder-Köpf, der CDU-Kandidatin vorgehalten, mit ihrer Biografie nicht die Erfahrungen der meisten Frauen zu verkörpern, die Kinder erziehen und sich gleichzeitig um ihren Beruf kümmern müssten. „Das ist nicht Merkels Welt.“
Im Fernsehduell konterte Schröder die Kritik Merkels an dieser Einmischung später mit dem Satz: Meine Frau „lebt das, was sie sagt, und ich füge hinzu: Das ist nicht zuletzt der Grund, warum ich sie liebe.“ Merkel hat sich über diese Replik sehr geärgert. 2015, in einer Debatte über die gleichgeschlechtliche Ehe, war es dann der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth, der sich im Bundestag eine Bemerkung nicht verkneifen konnte. Als es um die Fortpflanzung als Zweck der Ehe ging, rief er von der Regierungsbank aus: „Und was ist mit der Bundeskanzlerin?“Roth entschuldigte sich später bei Merkel. Trotzdem könnte es durchaus damit zu tun haben, dass sie eine gewisse politische Perfidie vermutet, dass Merkel besonders gereizt reagiert, wenn sie allzu großer Härte gegenüber Kindern geziehen wird.
In der Pressekonferenz am Donnerstag ist auffallend oft von den Schülern die Rede, die besondere Opfer brächten. Und auch von den Eltern und Lehrern. Merkel sagt, Kitas und Schulen sollten unbedingt als Erstes wieder öffnen. Das ist ein gewagtes Versprechen, wenn man bedenkt, dass die Kanzlerin vor einigen Monaten verkündet hatte, Kitas und Schulen sollten am besten gar nicht erst wieder geschlossen werden. Aber das ist eben auch so eine Position, die man morgens noch hat, wenn man ins Kanzleramt fährt, und die sich bis zum Abend ändern kann. Man muss flexibel sein, hat die Kanzlerin gesagt. Andere Betroffene spielen an diesem Donnerstag keine so große Rolle. Die Friseure erwähnt Merkel nur einmal, und das auch nur in einer eher humoristischen Bemerkung darüber, dass es „aus praktischen Gründen“ angeraten sei, alsbald auch wieder die Salons zu öffnen.
Sie meine das „eher anekdotisch“, sagt Merkel, verrät aber nicht, welche Matte auf welchem Schädel im Kanzleramt sie zu dieser Einschätzung gebracht haben könnte. Künstler nennt sie einmal, Restaurantbetreiberinnen oder Hoteliers gar nicht.
Ein Jahr Corona-Krise. Merkel kommt in der Bewertung durch die Bürger insgesamt gut weg, die Zustimmungswerte zu ihrer Politik sind hoch, wenn auch nicht mehr ganz so hoch wie in den ersten Monaten. Als Merkel zuletzt wieder einige Wissenschaftler ins Kanzleramt einlud, um über die pandemische Lage zu sprechen, musste sie sich Kritik anhören, es kämen nur Experten zu Wort, die ihr nach dem Mund redeten. Merkel weist das zurück. Sie lade jeweils Fachleute zu dem Thema ein, das besonders wichtig sei, am Montagabend sei das die Mutation des Virus gewesen. Trotzdem verfolge sie auch „die anderen Meinungsbildungen“, sagt die Kanzlerin und fügt den schönen Satz hinzu: „Wir sind ja nicht jemand, der ignorant ist.“
Sie referiert über das Impfen, überProduktionsstätten, am Ende sogar über Kochsalzlösung
Beim Impfen könnte es besser laufen, das weiß auch Merkel. Ob sie sich da persönlich für Fehler entschuldigen müsse, wird sie gefragt. Sie entschuldigt sich für gar nichts und sagt nur, dass niemand an jedem Tag alles richtig mache.
Aus ihrer Sicht ist und bleibt es eine Erfolgsgeschichte, dass es überhaupt nach so kurzer Zeit einen Impfstoff gibt, und dass er bereits am Tag der Zulassung auch produziert gewesen sei und verteilt werden konnte. „Ich verstehe die Ungeduld“, sagt die Kanzlerin. Aber weder gebe es Grund für Kritik an der Firma Biontech, die den ersten zugelassenen Impfstoff entwickelt hat, noch an der Beschaffung durch die Europäische Kommission. Lang und breit kann Merkel über die Verteilung der Produktionsstätten in den USA und Europa referieren. Und auch über neue Produktionsstätten, die mit Unterstützung der Bundesregierung nun entstünden, zum Beispiel in Marburg. „Ich betreibe keine Impfstoffherstellung“, sagt Merkel. Deshalb könne sie auch nicht garantieren, wann genug Dosen für alle vorhanden seien. Aber sie könne helfen, dass alle notwendigen Rohstoffe für Herstellung verfügbar seien. Kochsalzlösung, zum Beispiel. „Das klingt trivial“, sagt Merkel, aber das Zeug scheint nicht so einfach zu besorgen zu sein.
Acht Monate sind es noch bis zur Bundestagswahl. Die könnten für die Kanzlerin noch verdammt schwierig werden. Vor allem – wer hätte das gedacht – wenn es an Kochsalzlösung mangelt.