Wehe, wehe, wenn ich auf das Ende sehe

In diesen Tagen gibt es zwei Perspektiven auf Corona und kein Ende zu schauen: die persönliche Erfahrung und die politischen Maßnahmen. 

Meine persönlichen Erfahrungen an diesem Wochenende sahen so aus, dass sich überall, wo ich einkaufen oder zum Sport war, die Leute, denen ich begegnet bin, exakt an die Regeln hielten, sogar mehr noch als in den Wochen zuvor. Auf dem Wochenmarkt liefen fast alle Menschen mit Gesichtsmasken herum, das Wetter war vorübergehend milde, die Sonne schien, die Laune war gut. Ich machte es nach und kramte die Gesichtsmaske heraus. Widerstrebend, na klar, aber dann eben doch pflichtbewusst. Man kommt sich ja schon nahe am Obststand, bei der Käsefrau oder beim Blumenhändler.

Im Fitnessklub zogen sogar die Muskelmänner brav ihren Mund- und Nasenschutz hoch, wenn sie die Geräte wechselten, wie es geschrieben stand. Niemand beschwerte sich, niemand rollte mit den Augen oder machte eine wegwerfende Geste. Sie verhielten sich so, wie es die Vorschrift war, unlustig, aber folgsam. 

Ich will meine Beobachtungen nun wirklich nicht verallgemeinern. Ich bewege mich nur wie alle anderen Menschen in einem kleinen Kosmos in einem Stadtviertel und bemerke, wie sich dort die anderen Zeitgenossen verhalten. Man soll seine Erfahrungen nicht überschätzen, aber es sind eben die Erfahrungen, die man macht und die man einordnet. Mehr Empirie dringt im eigenen Leben nicht zu uns vor.

Eine Erklärung für das Wohlverhalten wäre, dass die Kanzlerin mit ihrem Appell Wirkung erzielt hat, vielleicht sogar mehr, als sie für möglich hielt. Sie handelte ja nicht freiwillig, sondern weil sie meinte, es müsste sein. Ich kann mich an keine vergleichbare Situation erinnern, in der sie gleich mehrmals hintereinander gesagt hätte: Was wir hier gemacht haben, genügt nicht, ihr dort draußen müsst es besser machen als wir hier drinnen.

Es ist schon komisch, dass Angela Merkel, die davon überzeugt ist, dass  richtiges Handeln ohne große Worte auskommt, in ihrer letzten Runde die Macht der Worte entdeckt und sich direkt an uns wendet. Und es ist ebenso dramatisch, dass sie die Loyalität zu denjenigen unter den 16 Ministerpräsidenten aufkündigt, die aus ihrer Sicht ihr eigenes Süppchen kochen.

Ich finde Angela Merkel meistens gut. Sie hat uns sicher durch Krisen gesteuert, 2007/8 durch die Weltfinanzkrise und nun durch die Pandemie. Sie behielt die Ruhe und schuf Vertrauen, eine große Leistung, eine große Kunst. Aber ich bin mir nicht sicher, dass sie auch jetzt richtig liegt in ihrer Einschätzung, was unter den herrschenden Umständen nötig ist.

Wird die Pandemie dadurch verbreitet, dass die Leute quer durch die Republik zu Freunden oder Familie reisen? Doch wohl eher nicht. Wird das Ansteigen der Infektionszahlen durch das Beherbergungsverbot abgeflacht? Doch wohl eher nicht. Macht es einen gewaltigen Unterschied, ob Restaurants, Bars etc. um 23 Uhr schließen, anstatt um Mitternacht? Vielleicht ja, eher nein. Sollten wir so oft wie möglich zu Hause bleiben? Ziemlich viel verlangt.

Unangenehm an Covid-19 ist die große Ungewissheit, wann der Spuk vorbei sein wird. Wüssten wir, dass wir bis Ostern oder Pfingsten durch halten müssen, wäre das schwer Erträgliche erträglicher. So ist das immer im Leben, egal ob es um Trennungen auf Zeit geht oder um das Ausheilen von Verletzungen oder um den eingezogenen Führerschein. Sobald wir ein Datum kennen, haben wir ein Ziel, auf das wir hinarbeiten können. Und schon fällt die Zwischenzeit leichter aus.

Ich vermute, dass auch die Bundeskanzlerin das Nichtwissen über die Dauer, bis es Medikamente oder gar ein Vakzine geben wird, schwer zu schaffen macht. Die Geduld, um die uns zuerst gebeten hat und zu der sie uns jetzt eindringlich mahnt, ist ein fragiles Gut, weder zu verordnen noch beliebig zu verlängern. Die dunklen Tage ziehen sich ab jetzt hin und da könnten viele Zeitgenossen ins Sinnieren kommen, ob es das alles wert ist. Geduld kippt leicht in Verdruss um.

Vermutlich überkommt die Kanzler das Grauen, wenn sie nach Holland (Teillockdown mit Sperrstunde 22 Uhr, ab 20 Uhr kein Alkohol) oder Frankreich (Ausgangssperre zwischen 21 und 6 Uhr) schaut. Mit allen Mitteln möchte sie Ähnliches hier vermeiden, sowohl die erschreckenden Infektionszahlen als auch die drastischen Einschränkungen, das ist ja auch verständlich und in unserem Sinn. Vermutlich geht sie unter diesem Eindruck heute schon weiter, als sie müsste. Wehe, wehe, wenn ich auf das Ende sehe – darauf will sie uns einstimmen.

Uns bleibt nichts anderes übrig, als Masken aufzusetzen und Abstand zu halten und aufs Beste zu hoffen. Daran sind wir mehr oder weniger gewöhnt. Und bald schon werden wir wissen, ob unsere Kanzlerin die richtigen Worte fand, um das Schlimmste zu vermeiden, den zweiten Lockdown.

Veröffentlicht auf t-online, heute.

Im Herbst des Missvergnügens

Wir geraten in den Herbst des Missvergnügens. Dafür sorgen die neuen Vorkehrungen gegen die Ausbreitung der Pandemie, die hier so ausfallen und dort anders und im dritten Bundesland wiederum anders. Dazu kommt das wenig erfreuliche Wetter, das uns zwingt, entweder zu Hause zu bleiben oder beim Lieblingsitaliener/-franzosen/-asiaten/-griechen drin zu sitzen und um 22.59 Uhr das Restaurant zu verlassen, damit der Wirt nicht in Schwierigkeiten kommt und wir auch nicht.

Ich muss ich an die Ostsee in Mecklenburg-Vorpommern fahren. Darf ich das? Ich will nicht übernachten, ich kann morgens hin und abends zurück fahren. Berlin, wo ich lebe, ist Risikogebiet. Wäre ich Tourist mit Hotelbuchung an der Ostsee, müsste ich in Quarantäne gehen, so viel ist klar. Ich bin aber kein Tourist, sondern ein Eintagesbesucher. Auf der Webseite des Landes muss ich zweimal durchlesen, was ich darf und was nicht, werde aber auch nicht klüger. Mein Fall ist nicht vorgesehen, ich bin ein bürokratischer Niemand. Fahre ich einfach hin, hoffe das Beste, und bin schnell wieder weg? Aber welche Strafe droht mir, wenn ich erwischt werde? Schwierig, schwierig.

Die Corona-Regeln sind seit März von Mal zu Mal variiert worden. Die Bundeskanzlerin hat es irgendwann aufgegeben, nationale Richtlinien auszugeben. Das war sachlich geboten, weil sich die Pandemie nun einmal lokal und regional unterschiedlich ausbreitet, führte aber zur systematischen Unübersichtlichkeit, die eher zunimmt als abnimmt. Kleinstaaterei wie im 19. Jahrhundert.

Das Missvergnügen breitet sich aus und hat politische Folgen. Ich bin zwar kein begeisterter Freund von Meinungsumfragen, doch spiegeln sie Meinungsveränderungen wider, die sich verfestigen können. Mehr Indikatoren für die Stimmung im Lande unter den Bedingungen der Pandemie haben wir nicht.

Die Wochen des großen Vertrauens in die Regierungen sind vorbei, soviel zeichnet sich ab. Die Herren Laschet/Merz/Röttgen/Söder werden mit Argusaugen lesen, dass die Union ihre hohe Zeit hinter sich hat und im Sonntagstrend bei Emnid nur noch bei 34 Prozent liegt, bei Forsa immerhin bei 36 Prozent. Die Frage ist, wie viel davon Angela Merkel zu verdanken ist und bei welchem Sockel ihr Nachfolger anfangen muss. Was bisher nur ein Murren war, dürfte im Herbst rasch anwachsen: Die CDU kann sich unter diesen Umständen keinen Dreikampf auf dem Parteitag im Dezember leisten. Einer, Röttgen, sollte verzichten, der zweite, Merz, wird sich das Antreten kaum versagen. Wird noch interessant.

Die Grünen segeln wieder besser im Wind. Bei den meisten Umfragen liegen sie bei 20 Prozent, Tendenz aufwärts. Sie sind zweifellos geschickt, sie tun so, als gebe es nur den Robert (Habeck) und die Annalena (Baerbock) und den Winfried (Kretschmann), also die souveräne Garde der Besonnenen. Es gibt allerdings auch linke Grüne in Ämtern wie in Berlin, antikapitalistisch und interventionistisch und erheblich weniger besonnen, um das Mindeste zu sagen. So lange die einen den anderen nicht in die Quere kommen, macht das nichts aus. Aber irgendwann kommen sie sich in die Quere, die Besonnen und die Radikalen, keine Frage. 

Nehmen wir noch die AfD hinzu, die einstellig herumkrebst und irre daran wird, dass sie unwichtig ist. Natürlich lag es nahe, dass sie sich an die Querdenker hängten, welche die kulturelle Hegemonie über die Pandemie-Leugner und sonstige Verschwörungstheoretiker innehaben. Der Übernahmeversuch ist gescheitert. Für Attila Hildmann oder eingefleischte QAnon-Anhänger ist die AfD Teil des Establishments, wie ironisch.

Der Herbst des Missvergnügens ist nicht mehr abzuwenden. Die Restriktionen haben ja auch wirtschaftliche Konsequenzen. Die Zahl der Pleiten dürfte in den nächsten Wochen erheblich zunehmen, mit der Dauer der Pandemie sowieso. Wer einen Klub, eine Bar oder ein Restaurant besitzt, ist arm dran. Das Virus verbreitet sich wieder rasant und ein Ende ist nicht abzusehen, das ist das Schlimmste. Gut möglich, dass sich das herbstliche Missvergnügen zur Depression im Winter steigert.

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.

Showdown in der Liebig

Unter den vielen Geschichten aus der Wendezeit, gibt es eine Geschichte, die bei den Feierlichkeiten am Samstag unerwähnt blieb. Sie spielt sich in Berlin ab, genauer gesagt im Norden von Friedrichshain, einem alten Arbeiterviertel, das heute sehr angesagt ist. Dort stehen zwei Häuser, an denen die Zeit vorüber gegangen ist. Sie sehen noch nach Ost-Berlin aus, vernarbt, vergilbt, versehrt. Das eine Haus hat die Adresse Rigaer Straße 94, das andere steht gegenüber in der Liebigstraße 34.

Beide Häuser sind Berühmtheiten in Berlin. Beide sind ein Politikum. Beide Häuser sind besetzt und verrammelt. In beiden wohnen Leute, die sich als Anarchisten verstehen, für die Gewalt aber mittlerweile zum selbstbestimmten Leben gehört. Dass in der Umgebung regelmäßig größere Autos brennen, könnte ein Zufall sein, muss aber nicht.

Nun tickt die Uhr für das Haus in der Liebigstraße 34. Am kommenden Donnerstag um 7 Uhr morgens soll es geräumt werden. Da kann man nur beklommen sein. Als vor Jahren 13 besetzte Häuser in der Mainzer Straße geräumt wurden, tobten tagelang Straßenkämpfe zwischen 500 Autonomen und 3000 Polizisten. Gut möglich, dass wieder Barrikaden brennen und Hubschrauber kreisen.

Niemand weiß, wie viele Menschen in den Häusern wohnen. Illegale sind darunter, sagt die Szene selber, ohne zu sagen, wer und was damit gemeint ist. „Gentri Fickt Euch alle“ haben sie an die Fassade gesprayt, daneben steht „Kill BND-Cops Now“. Im Blog des „anarcha-queer-feministischen Hausprojekts“ steht dieser Satz: „Auf den Staat und seine heuchlerischen Spielregeln scheißen wir. BRD – Bullenstaat – wir haben dich zum Kotzen satt.“  

Berlin ist eine große Stadt, ein Magnet für allerlei Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen hier leben wollen. Als die Mauer noch stand, war West-Berlin billig, Häuser standen leer, ließen sich besetzen. Die Generation der Häuserbesetzer von damals geht jetzt in Rente.

Die heutige Generation tummelt sich vorzugsweise im Osten. Darunter sind wieder linke Romantiker und Liebhaber der Anarchie, die von einem selbstbestimmten Leben träumen. Sollen sie, dürfen sie. Große Städte müssen manchmal auch widerwillig tolerant sein. Die Hafenstraße in Hamburg war so ein Experiment, das aufs Ganze gesehen glimpflich verlief. 

Als die DDR implodierte, wurden in Ost-Berlin ganze Häuserzeilen besetzt: von Studenten, Künstlern, Kreativen, Anarchos. Nach einiger Zeit endeten Auseinandersetzungen häufig mit Mietverträgen und damit waren die Besetzungen legalisiert. In der Liebigstraße 34 versuchten die Bewohner im Jahr 2008 sogar das Haus einer Erbengemeinschaft abzukaufen, aber den Zuschlag bekam ein Immobilienhändler namens Gijora Padovicz. Immerhin schlossen die Parteien einen Gewerbemietvertrag auf zehn Jahre.

Vor zwei Jahren lief der Vertrag aus. Die Mieter zahlten nicht mehr, zogen aber nicht aus. Von da an ging das Experiment endgültig in seine Gewaltphase über.

Zwei Häuser sind nicht viel. Sie können aber ihre Umgebung ärgern, einschüchtern, vertreiben. Inzwischen sind in der Liebigstraße etliche neue Wohnblocks entstanden, hell, ganz nett. Allenfalls Mittelstand, keineswegs Kapitalisten wohnen hier. Die Besitzer wählen die Grünen und die Linke; einer der Hausmeister war früher selber Hausbesetzer. Aber die militante Szene hält sie für Büttel des Systems und so beschießen sie die Fensterscheiben mit Stahlkugeln, bewerfen sie mit Pflastersteinen und besprühen die Hauswände mit Hassparolen.

Chaos ist ihr Lieblingsbegriff und weil Chaos ein Synonym für Dunkelheit ist, haben sie vor kurzem an den Laternen die Kabel herausgerissen und sorgten somit für die Dunkelheit, in der sie Barrikaden bauen und ein Feuer vor den beiden Häusern entzünden konnten.

Berlin ist nicht nur eine große Metropole, Berlin ist auch die Metropole der großen Wurschtigkeit. Das Haus in der Liebigstraße gehört zum Bezirk Kreuzberg/Friedrichshain. Der hat eine grüne Bürgermeisterin und einen grünen Baustadtrat, der aus politischen Gründen von Maßnahmen gegen die besetzten Häuser absieht. Vor vier Monaten verabschiedete die Bezirksverordnetensammlung mit der Mehrheit aus Grünen und Linken eine Resolution gegen die Räumung, denn hier sei „ein einzigartiger Schutzraum für Frauen und Lesben ohne diskriminierende patriarchale Strukturen“ entstanden. 

Ehrlich jetzt? Ziemlich zynisch. Ziemlich wirklichkeitsfremd. Die Leute in der Liebigstraße betrachten sie als ihre Schützlinge, die sie protegieren, egal ob sie andere diskriminieren, egal wie viel Gewalt sie üben. Und so schieben diese Politiker jede Verantwortung von sich, bekunden Solidarität und werden vermutlich am Donnerstag andere für die Exzesse schuldig sprechen, wenn es welche geben sollte: die Polizei, die Gerichte, den Senat – Hauptsache, sie sind fein heraus.

Kurzer Exkurs: Was wäre in Berlin los, wenn aus den Fenstern in der Liebigstraße schwarz-weiß-rote Fahnen hingen und militante Rechte die Straße für sich beanspruchten, Barrikaden bauten und mit Stahlkugeln schössen? 

Mit Recht würde der rechte Spuk schnellstens beendet. Und mit Recht wird am Donnerstag das völlig aus dem Ruder gelaufene linke Experiment in der Liebigstraße beendet. 

Veröffentlicht auf t-online, heute

Drei sind zwei zu viel

Die CSU ist eine moderne Partei. 800 Mitglieder haben am Samstag einen tadellosen Parteitag hingelegt. 800 Mitglieder fassten Beschlüsse, wonach ihre Partei weiblicher und grüner werden soll und Bayern sich in das deutsche Kalifornien verwandeln wird, ohne Brennmotoren ab 2035.

Unter der Regie von Markus Söder geht es machtvoll voran. Seine größte Leistung besteht darin, was er uns vergessen macht: dass er Bayern keineswegs alleine regiert, sondern in einer Koalition mit den Freien Wähler; und dass er gestern noch aus der CSU eine Über-AfD machen wollte.

Jetzt also Frauen in herausgehobene Ämter und mehr Ökologie. Erinnert uns das an jemanden? Das ist die Methode Merkel: Übernimm von den ernstzunehmenden Gegnern, was die auszeichnet. Die Bundeskanzlerin sammelte-SPD-Substanz, Söder greift bei den Grünen ab.

Zugleich erzählte der CSU-Chef auf dem digitalen Parteitag, dass die CDU über drei hervorragende Kandidaten verfügt und er mit jedem von ihnen zusammen zu arbeiten gedenkt. Ansonsten behält er sich das Vorschlagsrecht für den Kanzlerkandidaten vor. Hat er das? Natürlich nicht. Weist ihn irgendjemand in die Schranken? Natürlich nicht.

Den Koryphäen der CDU dämmert schon länger, dass die Auswahl unter Laschet/Merz/Röttgen keine Auszeichnung ist, sondern ein Problem. Vor knapp zwei Jahren mochte das noch angehen, als Annegret Kramp-Karrenbauer das Schaulaufen in einer Hamburger Halle gewann. Unter Corona-Bedingungen ist die Dreier-Konkurrenz allerdings ein Alptraum.

Stellen Sie sich das doch mal vor: Friedrich Merz sitzt oder steht irgendwo, ein paar Claqueure um sich, und hält eine flammende Rede ins Leere, denn die Großzahl der Delegierten sitzen im digitalen Irgendwo verteilt. Dann folgt ihm Armin Laschet aus dem Irgendwo und Norbert Röttgen spricht zu guter letzt Bedeutungsvolles in den virtuellen Raum. 

Es kann noch anders werden. Die Zahl der Kandidaten lässt sich schrumpfen. Zuerst könnte ein Kandidat einsehen, dass er nicht werden wird, was er werden wollte und die Konsequenz ziehen. Und in Nähe zum 3. Dezember könnte es ihm ein zweiter nachmachen und die CDU vom Gespenst des digitalen Dreikampfs auf einem digitalen Parteitag befreien.

Auf Annegret Kramp-Karrenbauer kommt es jetzt an. Sie ist Parteichefin, auch wenn wir sie an den Rand unseres Bewusstsein gerückt haben. Als sie im Februar ihren Verzicht erklärte, sagte sie, sie werde den Übergang zu ihrem Nachfolger organisieren. Soll sie mal. Sie kann jetzt damit anfangen.

Heute ist eine gute Gelegenheit. Heute trifft sie sich mit den drei Herren der Schöpfung, die sein wollen, was sie noch ist, um somit das Recht auf die Nachfolge für Angela Merkel beanspruchen zu dürfen. Vielleicht nimmt sie das Sinnvolle auf sich und wendet sich an Norbert Röttgen. Sie könnte an die Größe erinnern, die im Verzicht liegt, und an die Priorität, der CDU nicht durch Sturheit zu schaden.

Dass er nicht gewinnt, weiß der Kandidat Röttgen natürlich auch. Wie es auf diesen Höhen der Politik üblich ist, schraubt er den Preis für den Rückzug höher, indem er noch ein bisschen im Rennen bleibt. Das liegt ebenso in der Logik des Metiers wie diese Logik schal und abstoßend wirkt.

Aus meiner Sicht wäre Friedrich Merz der Nächste, den es treffen sollte. Wie sehr er aus der Zeit gefallen ist, hat er mit der Analogie bewiesen, dass Homosexualität an Pädophilie grenzt. Dass er sich durch Nachinterpretation herauswinden wollte, machte ihn vollends unglaubwürdig. Hat er keine Berater? Bereitet er sich nicht auf Interviews vor? Der nahtlose Übergang von Lässigkeit zu Fahrlässigkeit lässt sich an ihm studieren.

Einsicht gehört nicht zu seinen größten Stärken. Das Reden über das große Ganze liegt ihm näher, Appelle an Europa inbegriffen, auch die Forderung nach dem Primat der Wirtschaft, aber sein Nachteil ist das Schweben im luftleeren Raum, ohne Amt, ohne Verantwortung.

Damit bliebe Armin Laschet alleine übrig. Bei seinen Auftritten in der vorigen Woche bei Maischberger und vor der Jungen Union in Hannover legte er wieder seine sympathische Souveränität an den Tag, die ihn auszeichnet und die für ihn wirbt. Seine schwächere Phase mit aufgeregten Haspeleien liegt vielleicht ja hinter ihm und sofern er grobe Schnitzer bis zum 3. Dezember in Stuttgart vermeidet, dürfte er sich ohne große Schwierigkeiten durchsetzen.

Als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen steht ihm die große Bühne offen. Neuerdings nutzt er sie, um seine Verbundenheit mit Markus Söder herauszustellen. Hört man ihm zu, dann ist der Unterschied zu Bayern im Zeichen der Pandemie minimal und die Wertschätzung für den Ministerpräsidenten richtig groß.

Da fügt sich günstig, dass gerade eine wohlwollende Biographie über Armin Laschet erschienen ist, geschrieben von zwei Journalisten. Solche Werke, egal wie gut sie sind, werden gerne prominent vorgestellt in nettem Rahmen. Und wer ist an diesem Mittwoch der Laudator für Laschet? Richtig, Markus Söder nimmt liebend gerne die Rezension auf sich und siedelt sie dort an, wohin sie gehört: im Kosmos der Pandemie und der Kanzlerkandidatenkür.

Wieder werden die beiden Nähe vorführen, selbstverständlich mit Ironie gewürzt. Wieder wird Markus Söder süffisante Bemerkungen über seine Heimat Bayern, die er nicht zu verlassen gedenkt, fallen lassen. Wieder wird jedes Wort von Armin Laschet gewogen werden. Und das Politikum, dass sich beide gegenseitig loben, wird ausführlich in den Zeitungen und im Fernsehen kommentiert werden.

Wirkliche Entscheidungen werden in der Öffentlichkeit vorbereitet und im stillen Kämmerlein gefällt. So ist das, und deshalb sollten wir genau hinhören. Nicht nur AKK dürfte nach und nach auf ein schlankeres Feld aus weniger Kandidaten dringen, auch Markus Söder, der Allzuständige, wird bald schon seinen Wunsch und Willen nach geklärten Verhältnissen Ausdruck verleihen.

Königsmacher ist eine schöne Aufgabe. König zu sein ist natürlich noch viel schöner, aber darüber können sich Armin Laschet und Markus Söder tief im nächsten Jahr verständigen.

Veröffentlicht auf t-online.de, am Montag.

Die wahren Säulen der Gesellschaft

Seit es Corona gibt, haben einige Berufe, die es verdienen, neue Wertschätzung erlangt. Es handelt sich um Menschen, die im Gesundheitssystem arbeiten: im Krankenhaus und in Altenheimen, auf Intensivstationen und in Heimen für Demente. Moralische Würdigung ist gut, mehr Gehalt natürlich noch besser, weil schwierige Arbeit großzügiger entlohnt werden sollte. Passiert wohl auch, wenn nicht, wäre es eine Schande.

Corona lässt neue Blicke auf die Gesellschaft zu, das ist nicht schlecht. Was wichtig ist und was weniger wichtig, lässt sich jetzt genauer sagen. Wer zum Ganzen beiträgt und wer nur so tut, zeigt sich wie beiläufig in diesen Tagen.

Wie es sich fügt, hat die Staatsanwaltschaft vor kurzem den Beschluss gefasst, Anklage gegen Martin Winterkorn, den VW-Vorstandsvorsitzenden in der Zeit der Manipulationen mit dem Abgassystem, zu erheben. Gut so. Wie es sich fügt, müssen sich momentan die Bafin und der Finanzminister fragen lassen, warum sie nicht bemerkten, dass Wirecard ein monströses Windei war – während zwei britische Journalisten die Zahlen lasen und Alarm schlugen. Wie es sich fügt, müssen seit gestern deutsche Banken erklären, ob sie zur Geldwäsche beitrugen – nach den vielen Skandalen um Cum-Ex-Geschäfte, um Währunsgmanipulationen usw.

Es ist ja merkwürdig, dass seit der großen Finanzkrise 2008 die Serie der Skandale im Herzen des Kapitalismus nicht abreißt. Die dort oben sollten sich was schämen, könnte man sagen, und sie sollten in sich gehen und ansonsten ist es nur folgerichtig, wenn sie vor einem Richter stehen, der sie angemessen verurteilt. Die Zeit der Nachsicht mit denen, die sch als Säulen der Gesellschaft verstehen, sollte vorbei sein.

Die Zeit der Wertschätzung für die wirklich tragenden Säulen sollte nicht abreißen. Dafür gibt es gute Gründe und Nachholbedarf auch anderswo. Womit ich bei einem meiner neuesten Lieblingsthemen bin: den Polizistinnen und Polizisten.

Gestern gab es in Düsseldorf eine Querdenker-Demonstration. Einige Tausende kamen, dazu aufgerufen von einem Mann namens Michael Schele aus Hagen, einem DJ , der seit Beginn der Coronakrise nach eigenen Angaben keine Jobs bekam. Wer kam, trug keine Maske, weil er die Pandemie für eine Lüge hält, eine Erfindung von wem auch immer. 

Worauf es mir ankommt: Jeder dieser Demonstrationszüge wird von jungen Polizistinnen und Polizisten passiv begleitet, egal wie dicht beieinander die Demonstranten durch die Straßen ziehen, wie sehr sie sich über die Regierung lustig machen oder wie niederträchtig sie sich äußern und egal gegen welche Regeln sie sonst noch verstoßen. Es ist Sonntag, die Sonne scheint, Spätsommerherrlichkeit, und etliche Hundert haben Dienst. Was geht ihnen da durch den Kopf?

Kann ja gut sein, dass einige dieser Polizistinnen und Polizisten klammheimlich Sympathie für die Querdenker aufbringen. Gut möglich aber auch, dass eine Mehrheit von ihnen mit den Zähnen knirscht, weil Verstöße gegen die Corona-Regeln ungeahndet bleiben.

Diese Arbeit ist der Normalfall im Leben von jungen Polizistinnen und Polizisten, egal ob im Umkreis der besetzte Häuser in der Rigaer Straße, in Auseinandersetzungen mit Hooligans in vollen Fußballstadien oder bei wild gewordenen Clan-Hochzeiten. Sie sind mitten drin, sie setzen sich ein, sie setzen Recht und Ordnung durch. Sie üben einen undankbaren Job für das Gemeinwohl aus, also für uns, und haben wenig davon, materiell wie moralisch. 

Wie wäre es mit Wertschätzung? Der Bundespräsident hat neulich damit angefangen, als er die drei Polizisten einlud, die den Reichstag gegen die Anstürmer gesichert hatten. Nachahmung empfohlen.

Ich komme darauf, weil alle Nas lang irgendjemand ultimativ fordert, den latenten Rassismus in der Polizei zu entlarven, am besten durch eine Studie, die sämtliche Vorurteile belegt, die Saskia Esken oder Bodo Ramelow hegen. Was wäre denn, wenn sie recht hätten? Was würde daraus folgen?

Sie können sich ja gar nicht wünschen, dass sie recht haben. Sie reagieren nur wortreich, weil grelle Fälle dazu einladen.

Aber dass Leute, die aus Amtsstuben heraus bösartige Mails an Anwälte und Politiker und andere Figuren des öffentlichen Lebens verschicken, nichts in der Polizei zu suchen haben, versteht sich von selber. Dass Leute, die tief in der Hitler-Zeit steckengeblieben sind, nichts in der Polizei zu suchen haben, ist ja wohl auch klar. Ob sie rechtsradikale Schläfer waren oder sich im Dienst radikalisiert haben, würde mich brennend interessieren, aber das findet man an besten anhand ihrer Fälle heraus – mit solider, wacher Polizeiarbeit.

So reflexhaft wie Linke eine Studie nach ihren Vorstellungen einklagen, so reflexhaft wehrt der Innenminister Horst Seehof sie ab. Damit ist niemandem geholfen. Ende September wird eine Studie erwartet, die der Verfassungsschutz über die Sicherheitsbehörden, vom BND über das Zollamt bis zur Polizei, ausarbeiten soll. Ich bin gespannt, ob sie zur Wahrheitsfindung beiträgt oder niemandem weh tun möchte.

Rund 250 000 Polizisten gibt es in Deutschland. Knapp ein Drittel von ihnen stammt aus Migrantenfamilien, nicht gerade wenig. Kein schlechtes Verhältnis. Sicherlich finden auch unter den Beamtinnen und Beamten Alltagsdebatten statt, was rassistisch ist und was noch geht, wann eine Grenze überschritten wird und wie sie mit rechten Kollegen umgehen sollen und wann sie einen der Ihren dem Vorgesetzten melden sollten.

Für eine Studie, die den Alltag beschreibt und die interne Konflikte behandelt, die mir erzählt, wie Demos à la Düsseldorf oder Berlin auf diejenigen in Uniform wirken, die neben den Demonstranten herlaufen und mit anhören, was dort oben auf der Tribüne an Theorien über die Gesellschaft verbreitet wird und was das mit ihnen macht – dafür würde ich mich interessieren. Denn im Normalfall formt die Arbeit die Einstellung der Arbeitenden zur Arbeit, was denn sonst.

Werden sie irre an ihrem Beruf? Zynisch? Was folgern sie für sich selber aus den Erlebnissen und was erzählen sie, wenn sie heim zu ihren Familien kommen?

Daraus würde wie von selbst eine Studie über die Einstellung der Polizisten und Polizisten zu ihrem Job und zu ihrem Land entstehen. Eine Mentalitätsstudie über ein bestimmtes Milieu innerhalb der Sicherheitsbehörden, aus der sich Konsequenzen ziehen ließen, vor allem dann, wenn sie so vorurteilsfrei wie möglich angelegt wäre.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute