Wehe, wehe, wenn ich auf das Ende sehe

In diesen Tagen gibt es zwei Perspektiven auf Corona und kein Ende zu schauen: die persönliche Erfahrung und die politischen Maßnahmen. 

Meine persönlichen Erfahrungen an diesem Wochenende sahen so aus, dass sich überall, wo ich einkaufen oder zum Sport war, die Leute, denen ich begegnet bin, exakt an die Regeln hielten, sogar mehr noch als in den Wochen zuvor. Auf dem Wochenmarkt liefen fast alle Menschen mit Gesichtsmasken herum, das Wetter war vorübergehend milde, die Sonne schien, die Laune war gut. Ich machte es nach und kramte die Gesichtsmaske heraus. Widerstrebend, na klar, aber dann eben doch pflichtbewusst. Man kommt sich ja schon nahe am Obststand, bei der Käsefrau oder beim Blumenhändler.

Im Fitnessklub zogen sogar die Muskelmänner brav ihren Mund- und Nasenschutz hoch, wenn sie die Geräte wechselten, wie es geschrieben stand. Niemand beschwerte sich, niemand rollte mit den Augen oder machte eine wegwerfende Geste. Sie verhielten sich so, wie es die Vorschrift war, unlustig, aber folgsam. 

Ich will meine Beobachtungen nun wirklich nicht verallgemeinern. Ich bewege mich nur wie alle anderen Menschen in einem kleinen Kosmos in einem Stadtviertel und bemerke, wie sich dort die anderen Zeitgenossen verhalten. Man soll seine Erfahrungen nicht überschätzen, aber es sind eben die Erfahrungen, die man macht und die man einordnet. Mehr Empirie dringt im eigenen Leben nicht zu uns vor.

Eine Erklärung für das Wohlverhalten wäre, dass die Kanzlerin mit ihrem Appell Wirkung erzielt hat, vielleicht sogar mehr, als sie für möglich hielt. Sie handelte ja nicht freiwillig, sondern weil sie meinte, es müsste sein. Ich kann mich an keine vergleichbare Situation erinnern, in der sie gleich mehrmals hintereinander gesagt hätte: Was wir hier gemacht haben, genügt nicht, ihr dort draußen müsst es besser machen als wir hier drinnen.

Es ist schon komisch, dass Angela Merkel, die davon überzeugt ist, dass  richtiges Handeln ohne große Worte auskommt, in ihrer letzten Runde die Macht der Worte entdeckt und sich direkt an uns wendet. Und es ist ebenso dramatisch, dass sie die Loyalität zu denjenigen unter den 16 Ministerpräsidenten aufkündigt, die aus ihrer Sicht ihr eigenes Süppchen kochen.

Ich finde Angela Merkel meistens gut. Sie hat uns sicher durch Krisen gesteuert, 2007/8 durch die Weltfinanzkrise und nun durch die Pandemie. Sie behielt die Ruhe und schuf Vertrauen, eine große Leistung, eine große Kunst. Aber ich bin mir nicht sicher, dass sie auch jetzt richtig liegt in ihrer Einschätzung, was unter den herrschenden Umständen nötig ist.

Wird die Pandemie dadurch verbreitet, dass die Leute quer durch die Republik zu Freunden oder Familie reisen? Doch wohl eher nicht. Wird das Ansteigen der Infektionszahlen durch das Beherbergungsverbot abgeflacht? Doch wohl eher nicht. Macht es einen gewaltigen Unterschied, ob Restaurants, Bars etc. um 23 Uhr schließen, anstatt um Mitternacht? Vielleicht ja, eher nein. Sollten wir so oft wie möglich zu Hause bleiben? Ziemlich viel verlangt.

Unangenehm an Covid-19 ist die große Ungewissheit, wann der Spuk vorbei sein wird. Wüssten wir, dass wir bis Ostern oder Pfingsten durch halten müssen, wäre das schwer Erträgliche erträglicher. So ist das immer im Leben, egal ob es um Trennungen auf Zeit geht oder um das Ausheilen von Verletzungen oder um den eingezogenen Führerschein. Sobald wir ein Datum kennen, haben wir ein Ziel, auf das wir hinarbeiten können. Und schon fällt die Zwischenzeit leichter aus.

Ich vermute, dass auch die Bundeskanzlerin das Nichtwissen über die Dauer, bis es Medikamente oder gar ein Vakzine geben wird, schwer zu schaffen macht. Die Geduld, um die uns zuerst gebeten hat und zu der sie uns jetzt eindringlich mahnt, ist ein fragiles Gut, weder zu verordnen noch beliebig zu verlängern. Die dunklen Tage ziehen sich ab jetzt hin und da könnten viele Zeitgenossen ins Sinnieren kommen, ob es das alles wert ist. Geduld kippt leicht in Verdruss um.

Vermutlich überkommt die Kanzler das Grauen, wenn sie nach Holland (Teillockdown mit Sperrstunde 22 Uhr, ab 20 Uhr kein Alkohol) oder Frankreich (Ausgangssperre zwischen 21 und 6 Uhr) schaut. Mit allen Mitteln möchte sie Ähnliches hier vermeiden, sowohl die erschreckenden Infektionszahlen als auch die drastischen Einschränkungen, das ist ja auch verständlich und in unserem Sinn. Vermutlich geht sie unter diesem Eindruck heute schon weiter, als sie müsste. Wehe, wehe, wenn ich auf das Ende sehe – darauf will sie uns einstimmen.

Uns bleibt nichts anderes übrig, als Masken aufzusetzen und Abstand zu halten und aufs Beste zu hoffen. Daran sind wir mehr oder weniger gewöhnt. Und bald schon werden wir wissen, ob unsere Kanzlerin die richtigen Worte fand, um das Schlimmste zu vermeiden, den zweiten Lockdown.

Veröffentlicht auf t-online, heute.