Aus. Vorbei. Sie wird wohl nicht Präsidentin der stolzen Republik Frankreich. Wahrscheinlich geht sie in die Geschichte als die Frau ein, die von einem Gericht an der Erfüllung ihres Traums gehindert wurde.
Das Urteil ist ein Schock. Umfragen zufolge ist Marine Le Pen die beliebteste Politikerin Frankreichs. Ohne je zu regieren, prägt sie das politische System und entscheidet schon jetzt im Parlament darüber, wie lange der Premierminister und seine Minderheitsregierung überleben darf.
Dreimal ist sie bei Präsidentenwahlen angetreten, bekam von Mal zu Mal mehr Stimmen und hätte nach Lage der Dinge große Chancen gehabt, Nachfolgerin Emmanuel Macrons zu werden. Wird sie aber nicht, wenn sie nicht antreten darf.
Das Urteil tritt sofort in kraft. Für fünf Jahre ist ihr das passive Wahlrecht entzogen worden – sie kann also nicht gewählt werden. Dagegen kann Marine Le Pen zwar Berufung einlegen, aber die nächste Wahl steht schon im April 2027 an und der Wahlkampf wird weitaus früher beginnen. Solange dieses Urteil nicht aufgehoben ist, darf sie nicht als Kandidatin des Rassemblement National in Erscheinung treten.
Aber darf ein Gericht so weit gehen und einer Politikerin Berufsverbot erteilen? Darf es in die nächsten Wahlen eingreifen? Um diese Frage wird nun eine heftige Diskussion ausbrechen, aus der sich schließen lässt, wie tief Frankreich heute gespalten ist. Marine Le Pen hat, im Unterschied zu anderen nationalkonservativen Parteien in Europa, bislang keine abfälligen Bemerkungen über die demokratischen Institutionen gemacht, auch nicht über Gerichte und Richter. Der Verzicht auf Verunglimpfung gehörte zu ihrem Marsch in die Normalität, der ihrer Partei den Schwefelgeruch nehmen und sie ihrem Ziel der Machtübernahme näher bringen sollte.
Aber wie reagiert Marine Le Pen auf ihre Verurteilung? Nimmt sie das Urteil persönlich, könnte sie daraus einen Rachefeldzug gegen die Politisierung der Justiz ausrufen, die sich zum Büttel des amtierenden Präsidenten macht und ihr willfährig den Weg in den Elysée-Palast verbaut. Nationalkonservative inszenieren sich liebend gerne als Opfer des Systems. Auch wenn Marine Le Pen dieses Stadium eigentlich schon hinter sich gelassen hatte, könnte ihr der Rückfall sogar einen Popularitätsschub verleihen. Heute Abend um 20 Uhr lässt sie sich im französischen Fernsehen interviewen. Danach wissen wir mehr über ihren Gemütszustand.
Das Urteil nicht persönlich zu nehmen, dürfte ziemlich schwer fallen. Die Rechte Frankreichs war bislang ein Familienbetrieb mit dynastischer Erbfolge, ziemlich einmalig in der jüngeren Geschichte. Jean-Marie Le Pen gründete die Partei, die damals Front National hieß. Er war ein Provokateur, der die deutschen Vernichtungslager für ein „Detail der Geschichte des Zweiten Weltkriegs“ hielt und saß im Europa-Parlament. Seiner Tochter Marine vertraute er sein Werk 2011 an, wollte aber nicht weichen und verbreitete weiterhin seine kruden Thesen. Daraufhin schloss die Tochter den Vater aus seiner eigenen Partei aus, ein singulärer Akt, der besser ins 19. Jahrhundert gepasst hätte. Im Januar dieses Jahres ist Jean-Marie Le Pen mit 96 gestorben.
Das Betrugssystem, das Marine Le Pen zum Verhängnis geworden ist, hatte der Vater eingeführt und die Tochter übernommen. Es bestand darin, mit Geldern des Europäischen Parlaments Angestellte der Partei in Paris zu bezahlen. Zu diesem Zweck wurden sie offiziell Assistenten der rechten Abgeordneten, auch wenn sie keinen Fuß auf Brüsseler Boden setzten. So tauchte der Lebensgefährte Marine Le Pens als parlamentarischer Sekretär auf. Besonders absurd war der Einfall, den Leibwächter des Vaters zum Assistenten zu ernennen.
Marine Le Pen stritt die besonders grelle Korruption keineswegs ab. Sie argumentierte, die Partei sei wichtiger als das Individuum und deshalb stünden Mitglieder eigentlich im Dienst der Partei, egal wo sie gerade im Parlament säßen. Für die Scheinbeschäftigungen verurteilte sie das Gericht zusätzlich zu vier Jahren Haft, von denen zwei zur Bewährung ausgesetzt sind und die anderen beiden mit elektronischer Fußfessel abgebüsst werden können.
Die Dynastie der Le Pens ist Vergangenheit. Das Rassemblement National ist nicht länger Eigentum der Familie. Der Erbe kommt von außen, ist aber immerhin ein Ziehsohn, seit seinem 16. Lebensjahr Teil der Bewegung. Jordan Bardella gilt als großes politisches Talent, ist erst 29 Jahre alt und eine Art rechter Macron. Nun muss er aus dem überlebensgroßen Schatten Marine Le Pens treten, um ihr Lebenswerk abzurunden.
Veröffentlicht auf t-online.de, heute.