Der Bundeskanzler hat den Sturz Baschar al-Assads als gute Nachricht bezeichnet. Ja, Demokraten dürfen sich freuen, wenn ein Diktator fällt, der 13 Jahre lang Krieg gegen seine eigenen Bürger führte und nur dank der Hilfe von Ländern wie Russland und Iran an der Macht blieb. Allerdings lehrt die Erfahrung im Nahen Osten zur Vorsicht in der Beurteilung von Erdbeben, wie sie gerade Syrien erlebt.
Wenn in dieser Region ein Machthaber fällt, der sein Land mit Angst und Schrecken regierte, dann stellt sich immer die Frage: Wer oder was kommt jetzt? Als Hosni Mubarak im Jahr 2011 zurücktreten musste, weil ihm Amerika im arabischen Frühling seinen Schutz entzog, kamen die Moslembrüder in Ägypten an die Macht. Ihnen schwebte ein theokratischer Staat vor. Dafür ließen sich sich auf eine Machtprobe mit dem Militär ein, die sie verloren. Seither herrscht ein Feldmarschall in Ägypten, Abdel Fatah El-Sisi.
Der arabische Frühling verblühte rasch. Muammar al-Ghaddafi starb am 20. Oktober 2011. Seither ringen unterschiedliche Fraktionen ausdauernd um die Vorherrschaft in Libyen. Fremde Länder wie Russland oder auch die Türkei mischen aus Eigeninteresse mit.
In Syrien herrschte die Familie Assad mehr als 50 Jahre. Der zweitälteste Sohn Baschar musste die Nachfolge übernehmen, nach dem sein eigentlich gesalbter Bruder Basil 1994 bei einem Autounfall gestorben war. Baschar war ursprünglich auf einer ganz anderen Umlaufbahn. Er studierte in London, entdeckte seine Begabung für Computer und Medizin, arbeitete als Augenarzt. Im Sommer 2000 starb sein Vater und Baschar übernahm die Nachfolge. Er galt als moderner Mensch, als Reformer, eigentlich als unpolitisch. Da war er 34 Jahre alt.
Im September 2006 habe ich Assad interviewt. Wie ein Autokrat oder Diktator kam er mir nicht vor. Er schien mit seiner Rolle zu fremdeln, nahm sich viel Zeit, wollte hören, wie ich die Lage im Nahen Osten und den Einfluss Amerikas einschätzte. Nie hätte ich gedacht, dass aus diesem kultivierte Mann der Schlächter seines Volkes werden würde.
Der neue starke Mann in Damaskus heisst seit gestern Abu Muhammad al-Dschaulani. Er sei groß geworden unter Bombenlegern und Kopfabschneidern der al-Quaida im Irak, schreibt die „Süddeutsche Zeitung“. Heute trägt seine Miliz den komplizierten Namen: Hayyat Tahir al-Sham, was auf deutsch Organisation zur Befreiung der Levante heißt. Die Levante umfasst Syrien, Libanon, Israel, Jordanien und die palästinensischen Autonomiegebiete. Ziemlich krasser Anspruch.
Seit einiger Zeit schien der Bürgerkrieg in Syrien eingefroren zu sein. Iran, die Hisbollah und Russland hatten Baschar al-Assad gerettet. Die iranischen Revolutionsgarden und die Hisbollah bauten ihren Einfluss systematisch aus. Die Rebellen waren auf ihre Hochburg Idlib im Norden begrenzt. Sie bekamen Hilfe aus den USA, der Türkei und Saudi-Arabien.
Der Zeitpunkt zur Wiederaufnahme der Revolution war jetzt günstig. Iran flog schon am vorigen Freitag seine militärischen Kommandeure und militärisches Personal aus. Iran unternahm keinen Versuch, Assad zu verteidigen. Die Hisbollah kämpft ums Überleben im Libanon und fiel deshalb auch aus. Russland führt Krieg in der Ukraine. Die Schutzherren boten keinen Schutz mehr. So blieb Assad und seiner Familie nur die Flucht per Flugzeug nach Russland.
Wahrscheinlich haben sich nicht einmal die Rebellen ihren Vorstoß so leicht, so schnell, so glatt vorgestellt. Zuerst Aleppo, dann Homa und Homs und schon standen sie in Damaskus. Dschaulani verhängte eine Ausgangssperre, sagte Christen und Aleviten Protektion zu. Er ist bemüht um ein freundliches Gesicht.
Der Umsturz in Syrien ist eine weitere schlechte Nachricht für das Mullah-Regime in Teheran. Der Einfluss, den es sich in Libanon, und Syrien systematisch aufbaute, ist rasant im Schwinden. Nicht zufällig ließ sich die Hisbollah ohne Zögern auf den Waffenstillstand mit Israel ein. Iran und seine Schützlinge schließen die Reihen und bedenken ihre Strategie.
Der 7. Oktober 2022 löste eine Dynamik aus, der den ganzen Nahen Osten erfasst. Israel, an jenem Tag maximal gedemütigt, ist mehr denn je zur militärisch Vormacht in der Region aufgestiegen. Die Regierung Netanyahu behält die Kontrolle über den Libanon. Die Revolution gibt die Gelegenheit, in die entmilitarisierte Zone auf den Golan-Höhen vorzurücken, die an Syrien grenzt.
In einer zentrale Rolle in Syrien rückt nun die Türkei. Sie kontrolliert Gebiete im Norden und unterstützt Gruppen wie die Syrische Nationalarmee, die aus der Opposition hervorgingen. In Idlib gab es türkische Banken, türkische Läden und türkische Postämter. Als Währung diente die türkische Lira. Angeblich erteilte die Türkei auch sein stillschweigendes Einverständnis für den Großangriff auf Assad.
Recep Tayyip Erdogan ist der Schutzherr der Rebellen. Ob sie in nächster Zeit die Macht teilen oder, was eher anzunehmen ist, darum kämpfen, wird sich bald schon zeigen. Schwer einzuschätzen, ob Syrien den libyschen oder ägyptischen Weg gehen wird.
Die Hälfte der 22 Millionen Syrer ist aus ihren Wohnungen und Städten geflohen – innerhalb ihres Landes oder außerhalb in den Libanon, die Türkei, nach Europa. Viele von ihnen werden nach Hause gehen wollen, um dabei zu helfen, das zerstörte Land wieder aufzubauen.
In Deutschland leben 800 000 Syrer. Vermutlich verbindet Olaf Scholz, der Wahlkämpfer, mit der guten Nachricht die Hoffnung, dass ein Großteil das eigene Land dem Leben in der Fremde vorzieht.
Veröffentlicht auf t-obline.de, heute.