Natürlich lässt sich der Zeitplan nicht einhalten, den sich der Bundeskanzler ausgedacht hat. Der endgültige Abschied von der Ampel wird sich schneller vollziehen. Aber nicht nur Olaf Scholz muss die Erfahrung machen, dass er nicht mehr Herr des Verfahrens ist.
Der Bruch einer Koalition bringt ungeahnte Konsequenzen hervor. Wer hätte gestern für möglich gehalten, dass Volker Wissing heute in der Regierung bleiben will und dafür die FDP verlässt. Er war kein besonders guter Minister und schien sogar im höheren Auftrag seiner Partei Obstruktion in der Ampel zu betreiben. Deshalb ist es schon eine Bombe, die er platzen ließ. Ein integrer Mann, Orgelspieler durch Ausbildung und aus Passion, der Verkehrspolitik nicht viel anders als einschlägig bekannte CSU-Vorgänger betrieb, erweist sich als Mann mit Prinzipien. Eigentlich erfreulich.
Dennoch bleibt Wissing wohl ein Einzelfall. Anders war es 1982, als ganze Scharen prominenter Liberaler der FDP den Rücken kehrten. Hans-Dietrich Genscher war damals, was Christian Lindner heute ist: Ein unglaubwürdiger Vorsitzende, der so tat, als sei er im Auftrag von Demokratie und Marktwirtschaft zum Handeln gezwungen und keineswegs aus Parteiraison.
Zweimal sind in der deutschen Nachkriegsgeschichte Koalitionen geplatzt. In beiden Fällen gab die FDP den Ausschlag. Im Jahr 1982 dauerte es quälend lange, bis es soweit war, mehr als ein Jahr. Ich war ein junger Journalist bei der „Zeit“ und konnte gar nicht fassen, wie lange sich der Bruch hinzog. Parteivorsitzender war damals Hans-Dietrich Genscher, ein Großmeister politischer Feinarbeit, der sich aber nicht entscheiden konnte. In solchen Dramen kommt es darauf an, wer für den Machtwechsel schuldig gesprochen wird. Genscher brauchte lange, Lindner dagegen machte kurzen Prozess.
1982 wechselte die FDP von der SPD zur CDU/CSU und regierte weiter. Diesmal aber fehlt der FDP die Alternative. Christian Lindners hehre Worte zur Begründung des Bruchs stehen in absurdem Gegensatz zur Lage der FDP. Sie kann froh sein, wenn sie bei der nächsten Wahl über 5 Prozent bekommt. Zum Regieren wird sie nicht gebraucht. Scheitert sie, ist Lindner gescheitert. Dann muss sich die FDP eine neue Führung suchen. Viel Vergnügen.
In nächster Zeit werden wir verschiedene Versionen über das Drama der letzten Tage in Berlin zu hören bekommen. Denn jeder der drei Parteien ist dringend daran gelegen, als die Gute da zu stehen. Wer die Deutungshoheit über die Ereignisse erlangt, kann sich Hoffnung auf Belohnung durch die Wähler machen. Dieser Prozess verlangt Kunstfertigkeit und dafür sind die Koryphäen der Ampel nicht unbedingt geeignet.
Die beste Figur machte gestern in der Beschreibung des inneren Zerfalls der Regierung noch Robert Habeck. Für ihn spricht, dass ihn der Bruch schmerzt und er niemanden persönlich abkanzelte. Allerdings ist Habeck mit seinem Heizungsgesetz der Grund dafür, dass die Grünen beispiellos in der Wählergunst abgefallen sind. Davon werden sie sich nicht so schnell erholen.
Olaf Scholz hätte öfter zeigen sollen, dass er kein reiner Kopfmensch ist, sondern ein Gemüt besitzt, das inneren Bewegungen ausgesetzt ist. Natürlich war es nicht die feine Art, persönlich gefärbte Fundamentalkritik an Christian Lindner zu üben, aber verständlich ist es schon. Dennoch wird Scholz als Kanzler in die Geschichte eingehen, von dem man Führung erwartet hat, ohne sie zu bekommen.
Die SPD ist eine Partei, die ihren Kompass sucht. Sie gab Arbeitsminister Hubertus Heil freie Bahn, weil sie noch immer an das Gute im Menschen glaubt und bekam folgerichtig das Bürgergeld. Auch ließ sie Fraktionschef Rolf Mützenich freie Bahn zum Konterkarieren von Bundeswehraufbau und Ukraine-Aufrüstung – und damit zur Kritik am Kanzler.
Wenn die SPD regiert, sorgt sie für Selbstdemontage. Sie wandte sich von Helmut Schmidt ab und der Koalitionsbruch war die Folge. Sie ließ Gerhard Schröder im Stich, als der – bei 5 Millionen Arbeitslosen – das Land vor die Partei stellte und die Agenda 2010 ausrief. Angela Merkel hat es ihm gedankt, die SPD arbeitete sich mehr als ein Jahrzehnt daran ab. Ein Treppenwitz.
Gerhard Schröder war ein Kommunikationsgenie, das Journalisten an sich heran ließ, die es ihm lange mit Wohlwollen dankten. Risikofreudig legte er eine fulminante Abschiedsrunde hin, betrieb Neuwahlen und katapultierte seine Partei aus den Niederungen der 20 Prozent auf 34,2 Prozent. Wäre die Wahl im September 2005 nur ein, zwei Wochen später erfolgt, hätte Schröder womöglich Angela Merkel verhindert.
Warum sich Olaf Scholz an Angela Merkel orientierte und nicht an Schröder bleibt ein Rätsel. Klug war es nicht.
Nun also bekommt Friedrich Merz seine Chance, das Land zu führen. Wie sehr hat er es sich gewünscht. Wie viel nahm er dafür in Kauf. Am kommenden Montag wird er 69. Deutschland wählt demnächst den zweitältesten Bundeskanzler seiner Nachkriegsgeschichte.
Man kann nur hoffen, dass sich Merz seine Souveränität bewahrt und die Neigung zum Lapsus zähmt. Nur so kann er zum Herrn des Verfahrens werden. Es ist ja kaum zu glauben, dass Markus Söder die Loyalität unter Beweis stellt, die er anderen abverlangt. Man muss es für möglich halten, dass er Merz querkommt und die Siegeschancen der Union mindert.
Ich glaube, dass die Union bei der Wahl auf 38 Prozent kommen kann. Aus der Wahl in den USA lässt sich schließen, dass die Partei, die für Wandel einsteht, im Übermaß belohnt wird. Geht die Union hoch, bleibt der AfD weniger Platz. Das BSW demonstriert gerade in Sachsen seine ideologische Engstirnigkeit. Gut möglich, dass Sahra Wagenknecht aus den Wolken auf die Erde zurückgeholt wird.
Wenn es kommen sollte, wie es aussieht, entsteht nach der Wahl eine Koalition aus zwei Parteien. Die Grünen bleiben auf der Strafbank und das ist vielleicht sogar gut für sie. Als Alternative bleibt nur die demoralisierte SPD, die sich nach Opposition sehnt, sich aber mit Boris Pistorius in die Regierung bequemen muss.
Friedrich Merz tritt ein unerfreuliches Erbe an, kein Zweifel. Kein Haushalt für 2025. Der Querulant in München. Deutschlands Wirtschaft im Krisenmodus. Aber Merz steht frei, was Lindner scheute wie der Teufel das Weihwasser – die Schuldenbremse den Notwendigkeiten anzupassen.
Jetzt erleben wir die letzten Tage mit dem Bundeskanzler Scholz. Wie gerne er dieses Amt innehatte, ließ er gestern in seiner Anti-Lindner-Philippika anklingen. Bald kann er darüber in seinen Memoiren berichten.
Friedrich Merz ante portas: Man kann, man muss ihm Glück wünschen, weil Deutschland eine funktionstüchtige Regierung in unübersichtlichen Zeiten zusteht.
Veröffentlicht auf t-online.de, heute.