Gestern hörte ich beim Fitness ein Interview mit Ferdinand von Schirach. Ich mag seine melancholische Art, sein Vortasten bei der Beantwortung einer Frage, die ihm wichtig erscheint, diese leuchtenden Augen beim Annähern an das, was er sagen will. Und natürlich schätze ich seine Bücher und Theaterstücke überaus. Demut und Erkenntnis, wie schön.
Im Interview macht Schirach eine Bemerkung, die mir im Gedächtnis bleibt. Er sagt, es sei ungut, wenn zu schnell beurteilt werde und nicht genügend beobachtet. Wenn ein Strafverteidiger, der er war, die Beobachtung der Beurteilung vorzieht, dann steckt darin etwas Kurioses. Sein Beruf ist das Studium eines Falles, um beurteilen zu können, welche Haltung er im Interesse seines Mandanten einnehmen kann. Beobachten ist eine möglichst rasch zu überbrückende Vorstufe zum Beurteilen. Ihr Prolog. Die zweckhafte Zurichtung des Verstandes aus ein Ziel hin.
Journalisten sind in ähnlicher läge. Sie beobachten ein Ereignis oder eine Persönlichkeit so lange, bis sie glauben, über genügend Material zu verfügen, um darüber zu schreiben. Die Schwierigkeit liegt meist darin, dass es an Eindeutigkeit fehlt. Das Wägen gehört deshalb im Leitartikel dazu. Beim Beschreiben einer Persönlichkeit empfiehlt es sich, unterschiedliche Einschätzungen über sie einzuholen und auszubreiten. Fast immer ist das Einfache falsch, weil es dem Komplexen nicht gerecht wird.
Wie lange der Übergang vom Beobachten oder Recherchieren zum Beurteilen für das Schreiben liegt, ist unterschiedlich und eine Funktion des Gegenstandes. Protagonisten wie Olaf Scholz versuchen aus naheliegenden Gründen, die Kontrolle über ihr öffentliches Bild zu behalten. Nicht zufällig gibt es kein in die Tiefe gehendes Porträt oder Buch über ihn. Wem er Zugang gewähren würde, müsste ihm von vornherein gewogen sein, das ist die unausgesprochene Bedingung. Angela Merkel hielt es nicht anders. Vertrauen ist in der Politik ein rares Gut, Misstrauen der Normalfall.
Gerade erschien ein Buch über Friedrich Merz, der sich offenbar länger gegen eingehende Beobachtung gewehrt hatte. Ich weiß nicht, was ihn dann zu bewegte, doch mit den Autoren länger zu reden, aber das Argument, das Journalisten im Alltag anbringen, lautet so: Das Porträt über Sie erscheint entweder mit Ihrer Beteiligung oder ohne Sie – wollen Sie Ihre Version über einzelne Vorkommnisse und Ihren Werdegang zur Geltung bringen, sollten Sie mit uns reden.
Unternehmer oder Manager sind nicht weniger vorsichtig im Umgang mit Öffentlichkeit. Berthold Beitz, ein großer Mann des Ruhrgebiets, ein mutiger Mann in der Nazi-Zeit, zog ein Manuskript aus dem Verkehr, das ihm nicht gerecht worden war, wie er befand; der von ihm beauftragte Autor bekam das volle Honorar ausbezahlt. Später erschien eine eindrucksvolle Biographie über Besitz, keineswegs liebedienerisch, aber auf der Höhe des Komplexität dieses reichen Lebens.
Das Einfache und das Komplexe und ihr Verhältnis zueinander gehören zu meinen Lieblingsthemen. Eine weniger abstrakte Variante davon ist The Danger of a Single Story. So lautet ein Ted-Talk der fabelhaften nigerianischen Schriftstellerin Chimamanda Adichie. In launigen Beispielen aus dem Leben erzählt sie von der Macht an Vorurteilen, die sich in Luft auflösen. Wer Interesse daran findet, sollte sich den Talk auf YouTube anhören.
Täglich ergeht es uns ähnlich. Olaf Scholz ist arrogant und stur, lautet das Vorurteil. Er geht raus, hält Bürgergespräche oder erregt sich im Bundestag über Friedrich Merz. Schon heißt es, der Kanzler hat Gefühle und zeigt sie. Ist die Erregung, das Ärgern und das Heben der Stimme wirklich eine Überraschung? Robert Habeck lässt uns rhetorisch an den Nöten und Schwierigkeiten beim Einschätzen der Lage und den pragmatischen Erfordernissen zum Bewältigen teilhaben, hieß es über viele Monate. Dann muss er von der Gasumlage lassen und wird des Umfallens oder der falschen Einschätzung der Möglichkeiten bezichtigt. Ist es wirklich überraschend, wenn jemand in historisch beispielloser Situation seine Meinung ändert? Und ist das negative Auslegen fair?
Zweierlei fällt mir dazu ein: Wer alles zu schnell beurteilt, muss sich revidieren; ihm bleibt allerdings die Chance, Habeck oder Scholz für das Zeigen einer anderen Seite verantwortlich zu machen. Die Fähigkeit zur Selbstkritik ist unter Journalisten wenig ausgeprägt. Auch sie haben ja, um andere Beispiele zu nennen, an den sagenhaften Erfolg von Wirecard geglaubt, an das herausragende Talent von Relotius, geschweige denn, dass sie gesehen hätten, dass der NSU hinter zahlreichen Morden steht.
Das andere, was mich immer schon gestört hat, ist dies: Ein Mainstream bildet sich und reißt alle mit. Äußern sich intern in Redaktionen überhaupt Einwände oder Bedenken, werden sie mit dem Hinweis auf die allgemeine Meinung abgemeiert. So entsteht eine Single Story, die alle mit dem besten Wissen und Gewissen erzählen. Dabei weiß doch jedermann aus dem Leben, dass verschiedene Perspektiven verschiedene Einschätzungen ergeben. Dass nichts so einfach ist, wie es aussieht. Dass die Dinge fast nie so eindimensional ausfallen, wie man gerade noch gedacht hat.
Die Wahrheit liegt im Komplexen. Am Einerseits und Andererseits und Umgekehrt, dem Wägen und Abwägen, kommt man nicht ernsthaft vorbei – an der Demut, die zur Erkenntnis gehört.