Eigentlich ist es schade, dass wir in dieser rasenden Geschichtsphase so wenig Persönliches über unsere Politiker erfahren. Ja, Robert Habeck war mal Schriftsteller, Christian Lindner liebt Porsche und Olaf Scholz ist von Hause aus Rechtsanwalt und mehr noch Hanseat. Aber ein rundes biographisches Bild aus Herkunft und Werden, das Aufschluss über Antriebskräfte und Charakterformung bietet, bleibt da aus.
Für den Mangel muss man Verständnis haben. Journalisten, die sonst ausführliche Porträts der Protagonisten schreiben könnten oder wollten, werden von der rasenden Geschwindigkeit der beispiellosen Ereignisse in Atem gehalten. So entstehen Momentaufnahmen, aber keine satten Lebensbeschreibungen.
Wie es der Zufall will, gibt es eine Ausnahme. In diesen Tagen kommt ein Buch auf den Markt, in dem sich zwei Journalisten mit einem Politiker beschäftigen. Es handelt sich um Friedrich Merz, den sowohl Frühberufenen als auch Spätberufenen. Darin findet sich bestens geeignetes Material, das den Wiedergänger aus dem Sauerland wohlwollend, aber nicht unkritisch erklärt. Die Autoren heißen Jutta Falke-Ischinger und Daniel Goffart. Sie sind erfahrene Journalisten und fanden Zugang zum Objekt ihrer Beschreibung.
Sohn eines Richters. Aufgewachsen in sauerländischen Kleinstädten. Dort geblieben und hinausgegangen in die Welt. Kein größeres Gefallen an der Juristerei. Politik als Lebenselixier und der triumphale Einzug ins Kanzleramt als Lebenstraum. Millionen verdient bei der Investmentgesellschaft Blackrock. Wo er ist, ist oben, so sieht er das.
Nach Lektüre dieses Buches erscheint Friedrich Merz als ein Mensch, der schon in jungen Jahren durch ein Übermaß an Selbstvertrauen auffiel. Daraus entstand eine gewisse Aura, die er als geschliffener Redner entfaltete. Dazu gehört allerdings auch ein Untermaß an Impulskontrolle, mit dem hingeworfene Sätze wie der vom Sozialtourismus der ukrainischen Flüchtlinge zu erklären sind. Solche Schwächen sind im höheren Alter, Merz wird im November 67, kaum noch abzutrainieren. Auch weiterhin wird er sich mit seinem Überselbstvertrauen Ärger einhandeln und Anhänger verstören.
Merz hat Angela Merkel unterschätzt, wie so viele andere hartgesottenen Christdemokraten seiner Generation. Frau. Aus dem Osten. Kohls Mädchen. Roland Koch, damals hessischer Ministerpräsident, machte ihr im Jahr 2002 klar, dass sie keine Unterstützung für ihre Kanzlerkandidatur zu erwarten habe. Natürlich steckte auch Friedrich Merz tief im Netzwerk westdeutscher Arroganz, das nach Kohl das Sagen beanspruchte. Damals war er Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU im Bundestag und fühlte sich sicher.
Angela Merkel fuhr nach Wolfratshausen zu Edmund Stoiber, damals bayerischer Ministerpräsident, und ging eine Vereinbarung mit ihm ein, deren tieferer Sinn sich Friedrich Merz nach der verlorenen Wahl gegen Gerhard Schröder erschloss. Da bestellten ihn Stoiber und Merkel ein und verkündeten ihm, dass er nicht Fraktionsvorsitzender bleiben dürfe, wohl aber Bundestagspräsident werden könne. Merz war überrumpelt und gekränkt, was man ja noch verstehen kann. Dass er aber nie über diese Demütigung hinweg kam und Jauche über die Kanzlerin ausgoss („grottenschlecht“), ist die dunkle Kehrseite seines überdimensionierten Selbstvertrauens.
Es gibt ja den schönen Satz: Ich bin nicht nachtragend, ich vergesse nur nichts. Dafür ist Friedrich Merz ein schlagendes Beispiel, aber auch Angela Merkel steht ihm nicht nach. Nachdem Merz endlich im dritten Anlauf Vorsitzender der CDU geworden war, bekam er Anwandlungen von Versöhnlichkeit und lud sie zu einem Treffen aller seiner Vorgänger ein. Sie hatte einen unaufschiebbaren Termin und erschien nicht. Ressentiment mit Ressentiment beantwortet, schade eigentlich, vor allem für die CDU.
Auch eine andere Episode war für mich neu. Es gab ja das Interim mit Annegret Kramp-Karrenbauer, ausgewählt als präsumtive Nachfolgerin von der Kanzlerin mit Boxenstopp als CDU-Vorsitzende. Die beiden Frauen, eben noch ziemlich beste Freundinnen, entfremdeten sich erstaunlich schnell. Wieder war Merz im Spiel. Angela Merkel glaubte gehört zu haben, dass AKK mit Merz einen Putsch plane und sagte zu ihr: „Ich höre, du willst mich stürzen – du kannst es ja mal versuchen.“
Wahrscheinlich bleibt Angela Merkel aus diesem Grund unversöhnlich. Wo Merz war, roch sie Unrat. Deshalb unterstützte sie Armin Laschet, auf den sie keine großen Stücke hielt, wie sich bald darauf zeigte. Denn wenig später liebäugelte sie mit Markus Söder, der sich jedoch als fehleranfälliger Machtpolitiker in der Intrige gegen Laschet erwies. So kam es, wie es kommen musste. Die Union verlor die Wahl und endlich, endlich war der Weg für Friedrich Merz frei.
Fairerweise muss man sagen, dass Merz bemüht ist, seinem Ruf nicht ganz gerecht zu werden. Frauen-Quote: Wer hätte sie ihm zugetraut? Ganz gute Reden im Bundestag, zumal er klug genug ist, die CDU gegen die Regierung zu formen und nicht gegen die AfD. Sicherlich hat er heute mehr Verständnis für die Sachzwänge, unter denen Angela Merkel stand, weil er jetzt selber unter ihnen leidet.
Kann er Kanzler? Die beiden Autoren schreiten den Horizont ab und legen sich nicht fest, warum auch. Dafür spricht seine Erfahrung und Kompetenz. Dagegen die mangelhafte Ego-Kontrolle. Dass Friedrich Merz aus Brilon im Sauerland Kanzler werden möchte, versteht sich von selber.
Veröffentlicht auf t-online.de, heute.