„Ich bin stinknormal, und das gefällt mir“

Ach Mensch, Uwe ist tot, darf das denn sein? Der Fußballgott hätte schon noch eine Weile warten können, ehe er ihn heimholt, diesen anständigen Menschen, diese treue Seele, diesen unvergleichlichen Mittelstürmer, diesen Leidenden an dem Niedergang des Hamburger Sportvereins, dem er goldene Zeiten geschenkt hatte. Hamburg wird weinen, jedes Fußballerherz, das nicht aus Stein ist, muss gerührt sein, Deutschland trauert um einen seiner Besten, Redlichsten, Schlichtesten.

1958, lang her, habe ich ihn zum ersten Mal spielen sehen. WM in Schweden. Ich war 8 Jahre alt, auf dem Fußballplatz aufgewachsen, ich kann heute noch die Mannschaftsaufstellung hersagen und die Ergebnisse sowieso. Uwe war 22 Jahre alt, einer der Jüngsten, neben ihm der unvergleichliche Spielmacher Fritz Walter, 38 Jahre alt. Und dann das Schandspiel gegen Schweden im Halbfinale, Juskowiak fliegt, von Hamrin getriezt, vom Platz. Aus der Traum von der Titelverteidigung! Was für eine Ungerechtigkeit! Mein Glaube an den lieben Gott muss an diesem Tag zerstoben sein.

Uwe war integer. Uwe wechselte nicht ins Ausland, wo man schon damals gutes Geld verdienen konnte. Er hätte zu einem italienischen Klub gehen können wie Albert Brülls oder Horst Szymaniak, aber nein, er blieb der Hamburger, der er war, bekam eine Tankstelle überschrieben, mehr wollte er nicht, mehr brauchte er nicht. Er blieb bescheiden, lebte mit seiner Ilka ein unaufgeregtes Leben. Er war der ideale Nachkriegsdeutsche, der nicht hoch hinaus wollte, ein Reihenhaus bewohnte, aus dem Versandkatalog bestellte und die Couch auch durchgesessen behielt, sie war ja ein Stück von ihm. Lebenslang war Uwe der größte Anhänger seines Vereins mit der Raute.

Uwe war eben das Gegenteil von Franz Beckenbauer, der sich häutete und veränderte, die Frauen wechselte und etliche Kinder zeugte, weil es der liebe Gott so haben wollte. Aber wie haben diese beiden miteinander gespielt! 1966, Wembley, eine wunderbare Truppe. Dann im Halbfinale dieser Schuss an die Innenkante der Latte, ein Tor, das keines war, ich habe es schon damals genau gewusst. Inzwischen war ich 2 mal 8 Jahre alt, konnte aber immer noch mit der Welt zerfallen, wenn meine Mannschaft am gerechten Sieg gehindert wurde. Vom Schiedsrichter. Vom Fußballgott.

Uwe war auch als junger Mann nicht der Schnellste, besaß aber die Intuition, so dass er wusste, wo er zu lauern hatte. Mit jedem Körperteil schoss er Tore, mit dem Hintern und dem Hinterkopf, mit dem Knie und dem Knöchel, mit dem Gesicht und den Ohren. Er war eine Tormaschine, er war der Kapitän, er war das Vorbild. Bei Niederlagen wie gegen Schweden und England schlich er unvergleichlich vom Platz, den Kopf tief gesenkt, die Schulter hingen durch, die Arme schlackerten, das Gesicht eingefallen. Untröstlich. Aber keine Beschwerden über Schiedsrichter und Fußballgötter. Die Autoritäten stellten Menschen wie er nicht in Frage.

In einem seiner letzten Interviews fasste er sein Leben sehr schön und treffend zusammen: „Ich glaube, ich habe so weit alles richtig gemacht. Das Schönste auf der Welt ist doch, normal zu sein. Es ist für mich normal, geerdet zu sein. Ich kann gar nicht verrückt spielen. Ich bin stinknormal, und das gefällt mir.“

Von Menschen wie ihm sagen wir gerne, sie seien eine Legende oder Ikone oder wer weiß was. Uwe Seeler war immer Uwe Seeler. Ein kleiner Mann mit einem großen Herzen und dem sicheren Wissen, was er konnte und was er wollte. Wie beneidenswert, wie schön, dass er unser Leben begleitet und bereichert hat.

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.