Die Sehnsucht nach dem Einfachen

Ich beschäftige mich gerade mit der jüngsten deutschen Vergangenheit: DDR, Wiedervereinigung, Treuhand und den Lesarten, die damit einher gehen. Die Bücher, die ich dafür lese, sind nur ein kleiner Ausschnitt aus der zahllosen Literatur, die sich über die Jahre angesammelt hat. Herausragend Marcus Böicks Geschichte der Treuhand, eine Dissertation, die ihresgleichen sucht, dazu Detlef Pollacks „Das unzufriedene Volk“, auch Steffen Maus „Lütten Klein“. Auf YouTube stehen viele Dokumentationen über diese Zeit, oftmals mit reißerischem Titel, aber häufig auch sehr gut komponiert.

Die erwähnten Buchtitel haben allesamt den Vorzug der Differenziertheit, des Abwägens, des Bedenkens, der inneren Ruhe beim Abschreiten des Horizonts. Damit sind sie jedoch die Ausnahme, denn natürlich überwiegen die eindimensionalen Betrachtungen, vor allem über die Treuhand, dem herzallerliebsten Beelzebub, der für das Schlimmste steht, was man sich ausdenken kann: Ausverkauf, Raubzug, schwärzestes Kapitel in der deutschen Wirtschaftsgeschichte etc. Mehr denn je gibt es die aggressive Sehnsucht nach der einfachen Deutung, für das Schwarz-Weiß, für das Eindimensionale.

„The Danger of a Single Story“ nennt das Chimamandah Adichie, eine wunderbare Schriftstellerin, die in Amerika und Lagos lebt und Bücher über ihr Geburtsland Nigeria schreibt. Wohlmeinend betrachtet handelt es sich dabei um Unkenntnis über Menschen oder Länder oder Ereignisse, die zu Fehleinschätzungen, zu Kurzschlüssen im Urteil führen. Weniger wohlmeinend betrachtet handelt es sich dabei um menschlichen Furor, der das Meer peitscht oder Blut sehen will und skrupellos einseitig urteilt. Gegen diese Gefühlsmacht hat das Komplexe keine Chance. Beide Seiten zu ihrem Recht kommen zu lassen, gilt dem biblischen Zorn als Schwäche.

Im Journalismus, den ich gelernt habe, hieß das früher: Don’t care about the facts, push the story. Das sagten die einen im ironischen Tonfall, die anderen meinten es zynisch, beide meinten aber die Ausnahme, den konkreten Artikel, nicht das Prinzip oder die Maxime. Heute scheint die Ausnahme zur Regel geworden zu sein, zur Arbeitsgrundlage des Schreibens, Denkens und Urteilens. Wer ist schuld? Wen kann man in den Schornstein hängen? Wer lässt sich am leichtesten jagen? Wer bietet sich als Opfer an? Verurteilen im Vorweg ohne Beweise wird zum Brauch.

Beispiel Treuhand: Dass sich der Protest der arbeitslos Gewordenen an ihr abarbeiteten, war politisch geschickt eingefädelt. Selbstverständlich erfand sich die Treuhand nicht selber, sondern kam einem Auftrag der Regierung Kohl/Genscher nach. Die Treuhand unterstand dem Finanzministerium, das Theo Waigel führt, der bekanntlich der CSU angehörte. Sie war die Brandmauer, hinter der die eigentlich Handelnden verschwanden. Und so vermochte Helmut Kohl so zu tun, als falle er einer fremden Macht in den Arm, als er 1,1 Milliarden DM in Leuna pumpte und noch ein paar Milliarden mehr in JenOptik. Er griff korrigierend in die Verhältnisse ein, die er schaffen ließ, und stand dennoch wiederum als Held der Einheit dar. Wären in jedem einzelnen der damals neu genannten Bundesländer solche Leuchtturm-Projekte entstanden, nämlich gewollt und gezielt, und nicht zufällig aus der Not geboren, wäre Ostdeutschland vermutlich besser in der Einheitsrepublik angekommen.

Den Todesstoß versetzte Helmut Kohl den DDR-Kombinaten und Volkseigenen Betrieben durch den Umtausch von 1:1 am 1. Juli 1990. Fortan musste die DDR-Wirtschaft Löhne und Gehälter in D-Mark bezahlen. Der alte Umrechnungskurs von rund 1:4 der DDR-Mark zur BRD-Mark war hinfällig. Dazu war auch der Markt in Ost- und Südosteuropa zusammengebrochen, auf den rund 75 % der DDR-Importe ausgeliefert worden waren. Selbst wenn die DDR-Fabriken moderner ausgerüstet gewesen wären, hätte dieser Doppelschlag systematisch vernichtet, was dort vorhanden war.

Müßig auch darauf hinzuweisen, dass es den Demonstrierenden seit dem 9. November gar nicht schnell genug mit der Einheit gehen konnte. Sie trieben die Regierung West vor sich her, die anfangs nicht wusste, wie ihr geschah. Im Februar 1990 legte sich die Regierung Kohl/Genscher auf die Währungsunion fest und gewann damit auch die erste freie Wahl in der DDR am 18. März. Zugleich beruhigte sie Frankreichs Mitterrand, der eigentlich die DDR nicht missen wollte, mit der Aussicht auf die Einführung des Euro in naher Zukunft.

Alles Entscheidungen von wahrhaft historischem Ausmaß. Alles Entscheidungen von maximal komplexer Art. Don’t care about the facts: Die Schuldigen saßen in der Treuhand. Die Treuhand verscherbelte die DDR an westdeutsche Gauner, die nur ihren Reibach machen wollten. An allem, was schief lief, ist die Treuhand schuld. So aufgeheizt, so aggressiv, so ressentimentgeladen war die Atmosphäre, als plötzlich die Hälfte der DDR-Arbeitnehmer arbeitslos war, einen Zustand, den sie nicht kannten, höchstens aus dem Westfernsehen, wenn Westarbeitnehmer nicht mehr unter Tage fahren durften oder wieder einmal ein Automobilkonzern sein Werk in Bochum geschlossen hatte, aber nicht in der DDR, wo jedermann das Recht auf Arbeit gehabt hatte.

In diesen Wirbel der Geschichte hinein fielen die Schüsse auf Detlev Karsten Rohwedder am Ostermontag 1991. Seither kursieren zwei Versionen über den Mörder. Die eine Version besagt, es müsse sich um einen versierten Schützen handeln, denn die Kugel flog durch Gestrüpp, von unten nach oben abgefeuert, durchschlug zweifach verglaste (aber nicht gepanzerte) Fensterscheiben und tötete Rohwedder, der zwischen einem und drei Meter entfernt vom Fenster im matt erhellten Raum stand. Die Sniper-Theorie zielt auf die Stasi, die damit in den Rang der Rächer der Enterbten von der friedlichen Revolution gehoben wird. Wird ihr gefallen, der Stasi, da bin ich sicher.

Die andere Theorie besagt, es muss kein Kunstschütze gewesen sein, da das Nato-Gewehr, aus belgischer Produktion, dermaßen elaboriert ist, dass sogar ein ungeübter Mann damit ins Schwarze treffen kann. Also war es die RAF, lautet die Schlussfolgerung, die auch ein Bekennerschreiben ausstellte. Allerdings war die RAF bis zu diesem Zeitpunkt bekannt für Sprengfallen, die Autos explodieren lassen (Fall Herrhausen, oder für Attentate mit Maschinenpistolen, die aus nächster Nähe töten (Fall Buback, Fall Schleyer).

Ich breite den Fall Rohwedder hier so aus, weil ein Umstand ausgeblendet bleibt: die Wut auf die Treuhand, die Wut auf Rohwedder, der Mr. Treuhand war, der Wirbel der Geschichte, der sich in diesen Monaten in klassischen Demonstrationen mit klassischen Drohgebärden entlud. Damit will ich nicht sagen, dass Rohwedder ermordet werden musste. Kausalität oder Determination lässt sich selten eindeutig belegen, in geschichtlich aufgewühlten Zeiten schon gar nicht. Aber es fällt auf, wie folgenlos die Schüsse am Ostermontagabend blieben – dass nicht inne gehalten wurde, dass sich keine Stille einstellte, dass es einfach weiterging, weil es weitergehen musste.

Es ging weiter und zwar noch mehr so als vorher. Die Treuhand blieb der Beelzebub, der Bösewicht, die Ausgeburt des liberalen Kapitalismus im Gefolge von Thatcher und Reagan. Sie pervertierte die Wiedervereinigung durch Zerstörung des Vorhandenen.

Siegt eigentlich heute immer die Sehnsucht nach Eindeutigkeit, nach Schuldigen, nach Schwarz- und-Weiß? Und bekommt sie dauerhaft die Oberhand über das Komplexe, das Menschliche, das Leben?