Der Wähler: unstet, unberechenbar

Richard Hilmer, 69, gehört zu den Koryphäen der Meinungsforschung. Er baute das Meinungsforschungsinstitut Infratest-Dimap mit auf, das er bis 2015 leitete. Seither führt er Policy Matters, ein Institut, das Hintergründe zu demoskopischen und politischen Problemen liefert.

t-online: Herr Hilmer, viele Wähler sind wohl bis zum letzten Moment unentschieden, wen sie wählen sollen. Ist das nicht ein Fluch für jedes Meinungsforschungsinstitut?

Hilmer: Als die Auswahl an Parteien noch gering und die Parteibindung hoch war, war es sicherlich einfacher für Wahlforscher, der Stimmung nachzuspüren. Diesmal stellen sich 47 Parteien zur Wahl, wovon zumindest sechs den Sprung in den Bundestag schaffen dürften. Hinzu kommt, dass nur Neulinge für das Kanzleramt antreten, und das bei einer Fülle gravierender Probleme – Klimawandel, Pandemie, globale Migrationsströme. Kein Wunder also, dass die Zahl der Unentschiedenen höher liegt als sonst. Für die Meinungsforschung ist dies aber eher Herausforderung als Fluch. Durch konsequente Weiterentwicklung ihrer Instrumente scheinen sie mir dafür gut gerüstet zu sein.

Welche Überlegungen geben am Ende den Ausschlag für die Wähler?

Das Vertrauen in Kompetenz, Entscheidungskraft und Glaubwürdigkeit der Spitzenkandidaten dürfte eine ganz zentrale Rolle bei der Wahlentscheidung spielen.  

Wer profitiert am meisten von der enormen Unübersichtlichkeit, Scholz oder Laschet oder Baerbock?

Am meisten Olaf Scholz. Seinen kometenhaften Aufstieg verdankt er dem Umstand, dass er von den Dreien der Bekannteste ist und die größte Regierungserfahrung besitzt. Seine Popularität verdankt er allerdings auch einigen unglücklichen Auftritten seiner Wettbewerber.

Am Freitag sollen noch einmal Umfragen erhoben worden. Ist das sinnvoll?

Umfragen unmittelbar vor einer Wahl sind seit jeher heftig umstritten. Deshalb hatten sich ARD und ZDF vor Jahren darauf verständigt, letzte Ergebnisse zehn Tage vor der Wahl zu veröffentlichen und danach nicht mehr. Das ist heute leider völlig anders: Die Wählerschaft wird konfrontiert mit einer steigenden Zahl von Umfragen, zum Teil sogar bis einen Tag vor der Wahl. Gesetzlich untersagt ist nur die Veröffentlichung von Umfragen am Wahltag selbst, vor Schließung der Wahllokale.

Leider haben auch das ZDF und die Forschungsgruppe Wahlen inzwischen ihre Zurückhaltung aufgegeben. Ich bedaure das sehr, nicht weil ich befürchte, dass die Bürger beeinflusst oder irritiert werden, sondern weil es genügt, ihnen bis zehn Tage vor der Wahl einen Überblick über die politische Stimmung im Land zu geben, damit sie dann in aller Ruhe eine Entscheidung treffen.   

Auf welcher Grundlage stehen diese Umfragen, mit denen wir überhäuft werden?

Erhoben wird zumeist telefonisch, über Festnetz oder Mobil, selten mündlich-persönlich, zunehmend aber Online. Die Auswahl erfolgt in der Regel per Zufallsverfahren, was gewährleistet, dass die ausgewählten Personen mit Alter und Geschlecht, Bildung und regionaler Herkunft etc. der Gesamtheit der Wahlberechtigten entsprechen.

Bei Online- Befragungen ist das nicht möglich, weshalb hier Quotenauswahl herrscht. Dabei werden aus einer größeren Menge an Personen – bei den größeren Instituten sind das 100.000 Personen und mehr – dann 1000 oder mehr Wahlberechtigte so ausgewählt, dass das Sample der Gesamtheit aller Wahlberechtigten entspricht. Bisweilen werden beide Auswahlverfahren kombiniert, um etwa die per Telefon schwer erreichbaren jüngeren Jahrgänge per Quote „aufzufüllen“.

Strittig ist die sogenannte Selbstauswahl. Dabei werden Bürger über Medien zur Teilnahme an einer Befragung aufgefordert. Diese Interviewten entsprechen jedoch eher der Struktur der Medien, die sie nutzen. Der Mangel an Kontrolle über die Teilnehmer macht dieses Verfahren zudem anfällig für Missbrauch.

Ohnehin hat die Seriosität der Branche durch Irrtümer ziemlich gelitten. 2017 haben die Institute die Union unterschätzt. Bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt war die Fehlerquelle noch größer. Woran lag es?

Die Wahl in Sachsen-Anhalt ist ein gutes Beispiel für ein interessantes Phänomen. Seinerzeit sahen zwei Institute CDU und AfD fast gleichauf, was viele Medien dazu veranlasste, von einem Kopf-an-Kopf-Rennen beider Parteien zu berichten. Dies hat offenbar viele Wähler, die eigentlich anderen Parteien zuneigten, dazu veranlasst, der CDU ihre Stimme mit der Absicht zu geben, den Aufstieg der AfD zur stärksten Partei zu verhindern. Übrigens hatten arrivierte Institute wie Infratest dimap und die Forschungsgruppe Wahlen die CDU weit vorne gehabt.

Halten Sie einen späten Umschwung auch diesmal für möglich, zum Beispiel für die Union?

Das ist durchaus möglich, weil die Union traditionell das größte Wählerpotenzial und den höchsten Anteil gebundener Wähler hat. Die letzten Umfragen zeigten aber nicht nur einen stabilen Vorsprung für Scholz bei der Kanzlerpräferenz, sie belegen auch eine weitverbreitete Skepsis gegenüber einem Kanzler Laschet selbst in den Reihen der Unions-geneigten Wählerschaft.

Ist Armin Laschet der falsche Kandidat oder scheitert er nur wegen des Grinsens im absolut falschen Augenblick?

Diese Episode kann nicht der alleinige Grund für den Absturz der Union sein. Laschet hingen schon seit der Pandemie gewissen Zweifel an seiner Führungskraft an, die ja bis tief in die Mitgliedschaft der Union reichten, wo eine Mehrheit sich für Markus Söder als Kanzlerkandidat ausgesprochen hatte. Die unglückliche Szene in Erftstadt hat diese Zweifel bebildert und geschärft. Hinzu kommt das Dilemma, dass der Kandidat den Spagat hinbekommen muss zwischen Kontinuität und Aufbruch. Für Söder wäre dieses Dilemma wohl eher zu bewältigen gewesen.

War es ein Fehler der Grünen, eine Kanzlerkandidatin ohne Erfahrung auszurufen, und hätte Robert Habeck bessere Aussichten gehabt?

Ala Annalena Baerbock nominiert wurde, lag sie mit Habeck in der Wählergunst etwa gleichauf. Für Habeck sprach die größere Erfahrung, für sie ihre Verankerung in der Partei und zudem die Hoffnung, dass eine Frau neben drei Männern dem Anspruch der Grünen nach mehr Gendergerechtigkeit Glaubwürdigkeit verschaffen würde. Vielen Wählerinnen und Wählern scheinen aber Regierungserfahrung wichtiger zu sein, als die Grünen vermuteten.

Der Wahlkampf war ereignisgetrieben: durch die Flut im Ahrtal, durch Afghanistan. Gibt am Sonntag erstmals die Klimapolitik bei einer Bundestagswahl den Ausschlag?

Die Klimapolitik spielt eine entscheidende Rolle bei dieser Bundestagswahl, aber sie stellt nicht die einzige historische Herausforderung dar. Bei der Wahlentscheidung spielen auch der Umgang mit der Pandemie eine gewichtige Rolle, genauso wie die globalen Verwerfungen wegen Afghanistan und vor allem die Sorge der Bürger, wie sich all dies auf die eigene Zukunft und die der Kinder auswirken wird. Die Fülle an Problemen ist ja auch der Grund dafür, dass sich viele Bürgerinnen und Bürger mit ihrer Entscheidung so schwer tun.

Diesmal gibt es ungewöhnlich viele Briefwähler. Messen Sie ihnen eine größere Rolle zu?

Ihr Anteil wird steigen, keine Frage. Auswirkungen auf das Wahlergebnis dürften sie aber nur dann haben, wenn Ereignisse oder Debatten die politische Grundstimmung spät noch beeinflussen, während sie schon brieflich abgestimmt haben. Nur in einem solchen Fall könnte dieses Ergebnis deutlich von dem der Urnenwähler abweichen.

Wie geht die Wahl am Sonntag nach Ihrer Einschätzung aus und welche Koalition kommt dann zustande?

Die Umfragen weisen zwar einen stabilen knappen Vorsprung der SPD aus. Aber die volatile Grundstimmung könnte das späte Aufholen der Union möglich machen. Dann sind sicherlich mehrere Koalitionen denkbar, auch unter Führung der zweitplatzierten Partei. Und die beiden mittleren Parteien, Grüne und FDP, werden ein entscheidendes Wörtchen bei der Regierungsbildung mitreden. Bleibt zu hoffen, dass sich dann die FDP nicht wieder in letzter Minute aus laufenden Koalitionsverhandlungen verabschiedet, so dass am Ende erneut nur die große Koalition als Option übrig bleibt – unter wessen Führung auch immer. 

Herr Hilmer, danke für das Gespräch.

Veröffentlicht auf t-online.de am Freitag vor der Wahl.