Im Schleudertrauma

Zwei Wochen können lang sein, quälend lang, wenn sich nichts mehr ändert, egal wie heftig man strampelt und zetert, doch das Ende schon abzusehen ist. Wahltage sind Zahltage.

Armin Laschet ist eigentlich ein freundlicher und leutseliger Mensch. Vielleicht wird er es auch bald wieder sein, aber in der Zwischenzeit hat er das Gelassene verloren und kehrt den schmallippigen Wahlkämpfer heraus, wie gestern im Triell. Tags zuvor hatte er erzählt, dass die SPD „in all den Entscheidungen der Nachkriegsgeschichte immer auf der falschen Seite“ gestanden habe. Das war der Höhepunkt der absichtsvollen Selbstverleugnung. Kommt da noch eine Steigerung?

Ich habe schon viele Wahlkämpfe erlebt. Unglückliche Kandidaten sind keine Seltenheit. Franz Josef Strauß und Edmund Stoiber. Peer Steinbrück und Martin Schulz. Jeder von ihnen scheiterte an einem oder einer Größeren, was die Niederlage zuerst schlimmer machte, aber letztlich auch relativierte.

Armin Laschet und auch Annalena Baerbock sind dabei, an sich selbst zu scheitern. An ihrer Selbstüberschätzung. An ihren Aussetzern. Und deshalb bekommt der einzige in diesem Trio, der sich stoisch treu bleibt, plötzlich seine Chance, die ihm keiner zugetraut hätte, obwohl er mit kühler Hybris immer wieder sagte, dass er Kanzler werden wird. Zu seinem Glück tropfen seine Probleme – Cum-Ex, Wirecard – an Olaf Scholz ab, weil sie zu komplex für das Reduzieren sind.

Vieles ist seltsam in diesen Tagen. Vielleicht stimmen die alten Parameter nicht mehr. Bislang war die Union zuverlässig machtorientiert. Egal wie unpopulär ihr Kandidat auch sein mochte, er wurde gewählt, basta. Lieber mäßig regieren als gar nicht. Diesmal aber könnten die bürgerlichen Wähler  asymmetrisch vorgehen. Im Prinzip CDU, das schon, aber nicht diesen Lächler Laschet, der jetzt den wilden Mann spielt.

Genau diese potentiell Abtrünnigen versucht Laschet mit seiner Verwandlung in den aggressiven Machtpolitiker zurück zu gewinnen.

Das zweite alte Parameter lautete: Geht es der Union mau, hat die FDP den Nießnutz. Hat sie nicht. Der Sturz Laschets ist nicht der Quantensprung für Christian Lindner. Allein die SPD bewegt sich aus dem Tal der Finsternis in vergleichsweise lichte Höhen, weil sie bei der Union wie den Grünen absahnt.

Aber was ist das schon, 25 Prozent? Toll nur, wenn 15 Prozent der Ausgangspunkt war. Die Stärke des Dritten ist die Schwäche der zwei anderen. Daraus erwächst aber auch nur ein Scheinriese.

Übrigens gibt es gute Gründe, Meinungsumfragen zu misstrauen. Wir müssen uns ja nur kurz mal daran erinnern, dass vor vier Jahren sämtliche Institute bei ihren Prognosen für die Union daneben tippten. Oder Sachsen-Anhalt: schlimme Schlappe fürs Metier. Aber das ändert nichts daran, dass 30 Prozent bei dieser Bundestagswahl inzwischen als Utopie gelten. 30 Prozent!

Ich vermute, dass es sich um eine Übergangswahl handelt. Nicht nur, weil Annalena Baerbock weg vom Fenster sein wird, wenn sie erheblich unter 20 Prozent bleibt. Nicht nur, weil Armin Laschet ganz weg vom Fenster sein wird, wenn er tatsächlich hinter Olaf Scholz stranden sollte.

Vielleicht kommen die Union oder die SPD oder Grünen in den nächsten zehn, zwanzig Jahren überhaupt bei Bundestagswahlen nur noch mit charismatischen Ausnahmekandidaten an die 30 Prozent heran oder sogar darüber hinaus. Im Normalfall aber müssen sie mit dem Typus Laschet leben, der sich von Stefan Weil oder Malu Dreyer nur durch die gehobene Selbsteinschätzung unterscheidet, dass er Kanzler kann.

Und mal ernsthaft: Wäre Markus Söder jenseits seiner Kraftmeierei wirklich ein überzeugender Kandidat? Oder wirkt er nur überlebensgroß neben dem Schleudertrauma Laschet?

Schauen wir uns mal kurz anderswo um. Frankreich oder England sind durch ihr Wahlrecht mit stabilen Mehrheiten gesegnet. Wenn der Sieger alles bekommt, ist das schön für ihn, aber die Gesellschaft spiegelt sich darin nicht wider. Deshalb bekommt Emmanuel Macaron beständig jede Menge Gegenwind und Boris Johnson erlebt genauso wenig ruhige Zeiten.

Das deutsche Verhältniswahlrecht ist gerechter, gerade weil es die realen Verhältnisse widerspiegelt. Es erschwert jedoch die Regierungsbildung, wenn sich  eine Partei nicht von den anderen absetzen kann. Mehrere Möglichkeiten können sich dann eröffnen, wie wir nach dem 26. September  leidvoll erfahren werden.

Es wird spannend, das wissen wir jetzt schon. Wir müssen nur noch den unerfreulichen Wahlkampf hinter uns bringen.

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.