Ich lese und höre jetzt ständig, dass niemand geahnt haben soll, wie schnell Afghanistan an die Taliban fällt. Der Präsident verschwindet ins Exil, die Soldaten laufen weg und lassen ihr schönes Kriegsspielzeug zurück, womit die Taliban noch besser ausgerüstet sind als zuvor.
Regierungen wissen immer alles oder können es wenigstens wissen. Dafür haben sie ganze Beamtenapparate, die beobachten und analysieren und ihre Informationen in Papiere gießen, die sie in Umlauf bringen. Regierungen können aber auch ignorieren, was ihnen Experten aus ihrer eigenen Umgebung zu bedenken geben. Am Ende kommt es darauf an, was ein amerikanischer Präsident oder deutscher Bundeskanzler wissen möchte. Und was er wissen mag, hängt von der Gegenwart ab, dem politischen Moment, dem Stand der Dinge.
Über den Krieg in Vietnam, den Amerika führte, nachdem Frankreich bei Dien Bien Phu geschlagen worden war, stand die ganze deprimierende Wahrheit in den „Pentagon Papers“, offiziell benannt als „Report of the Office of the Defense Vietnam Task Force“. Der Zeitraum erstreckte sich von 1945 bis 1967 und umfasste 3000 Seiten historischer Analyse und 4000 Seiten Regierungsdokumente. Es gab nur 15 Exemplare, denn das Unternehmen war geheime Kommandosache. Daniel Ellsberg, der an den „Pentagon Papers“ mitgearbeitet hatte, steckte sie der „New York Times“ zu, die sie 1971 veröffentlichte.
Die offizielle Vietnam-Politik fand immer neue Gründe, immer mehr Soldaten dorthin zu schicken und den Krieg auf Laos und Kambodscha auszuweiten. Sie war der Versuch, durch Eskalation und Expansion die Niederlage abzuwenden. Sie wollte nicht wahrhaben, wie die Wirklichkeit aussah. Sie wollte erzwingen, was nicht zu erzwingen war.
Im Dezember 2019 veröffentlichte die „Washington Post“ die „Afghanistan Papers“, eine Sammlung von Interviews mit 400 Experten, die militärisch oder politisch mit Afghanistan befasst waren. Die Interviews waren 2015/16 geführt worden. Hochrangige Beamte hielten damals schon den Krieg in Afghanistan für nicht gewinnbar. Rund 40 Prozent der Milliarden-Hilfe für den Wiederaufbau endete nach Schätzungen in den Taschen korrupter Beamter, Warlords, Krimineller und Aufständischer. Ryan Crocker, der Botschafter in Kabul gewesen war, sagte dazu: „Man kann nicht solche riesigen Summen in einen fragilen Staat und eine fragile Gesellschaft pumpen und sich dann darüber wundern, wenn noch mehr Korruption um sich greift.“
Die „Afghanistan Papers“, die intern „Lessons Learned“ hießen, sollten geheim bleiben. Damit blieb den Regierung die Freiheit, die Öffentlichkeit über den wahren Zustand der Dinge in Afghanistan hinwegzutäuschen. Und das tat sie denn auch.
Drei Präsidenten konnten wissen, dass Afghanistan ein Fass ohne Boden war und der Aufbau des Landes eine Illusion. Barack Obama schickte mehr Truppen hin, obwohl er die Truppen eigentlich heim holen wollte. Er folgte dem paradoxen Vietnam-Kalkül: erst eskalieren, dann beenden. Donald Trump zog offenbar die Konsequenzen und sagte sich: nix wie raus da, egal wie. Und Joe Biden vollzieht, wovon er wohl schon länger überzeugt war: Kein Segen ruht darauf, also raus.
Es ist also keineswegs so, wie die Moralisten in meinem Gewerbe meinen, dass niemand eine Ahnung hatte, was passieren würde, sobald die US-Truppen abziehen. Vielleicht wusste Heiko Maas nichts, aber seine Leute im Auswärtigen Amt werden schon gewusst haben, was seit Dezember 2019 spätestens bekannt war. Auch in der Bundeswehr müsste es eigentlich Kundige geben, die die Wahrheit kannten, entweder aus eigener Erfahrung oder durch Lektüre frei zugänglicher amerikanischer Zeitungen.
Mich würde interessieren, wer in der Bundesregierung wirklich was wann wusste und nicht wissen wollte, weil es gerade nicht passte, inopportun war, oder ob etwa Fachwissen kursierte, aber nicht zur Kenntnis genommen wurde.So ähnlich erging es einer Studie über eine Pandemie, 2013 angefertigt, in der erstaunlich prognostische Kraft steckte, die aber entweder nicht gelesen worden war oder in Vergessenheit geriet, als Covid-19 ausbrach.
Dass der Außenminister und die Kanzlerin Ahnungslosigkeit bekunden, ist eigentlich eine unerträgliche Kapitulation. Da fällt es schwer, Wohlwollen gegenüber der Regierung zu bewahren. Und nebenbei gefragt: Wie fühlt sich die wissbegierige, disziplinierte Kanzlerin bei so einem Eingeständnis?