Gerade habe ich gelesen, dass heute der Tag der Freundschaft ist. Wusste ich nicht. In einem höheren Sinne ist das typisch für mich, denn ich bin kein guter Freundschaftspfleger. Meine Frau schafft es auf mir unerfindliche Weise, alte und neue Freundschaften zu pflegen. Ihre spärliche Freizeit verbringt sie mit Anrufen und Verabredungen. Sie vergisst keinen Geburtstag und verschwendet viel Zeit auf das Ausdenken ungewöhnlicher Geschenke. Sie ist ohnehin ein Menschenfreund, was ich von mir auch behaupten würde, aber sie ist in dieser kulturellen Sphäre eindeutig der bessere Mensch.
Wenn ich jetzt mal durchzähle, habe ich mindestens vier richtig gute Freunde. Drei davon sind neu. Berliner Zugewinn aus dreieinhalb Jahren, die ich in dieser Stadt lebe. Über jeden der Drei bin ich glücklich, weil sie schon beim Kennenlernen ohne Umschweife über Wesentliches reden wollten. Es ist nicht unbedingt meine Art, von Anfang an offen zu sein, zuzuhören, gespannt darauf, was kommt. Ich bin eher der Typ Beobachter: mal schauen, was er zu bieten hat. Erst dann schalte ich mich ein. Na ja. Andererseits ist das Leben im fortgeschrittenen Alter zu kurz für Smalltalk und so zufällig mir jeder der Drei über den Weg lief, kamen wir doch schnell ins Gespräch, beschlossen umgehend, es fortzusetzen, verabredeten uns und erzählten uns dann fast übergangslos unser Leben. Jeder der Drei hat einiges zu bieten, aber keiner von ihnen gab damit an. Im Gegenteil erzählten sie von Niederlagen, gescheiterten Ehen, Neuanfängen, seelischen Nöten. Wir lachten über uns und unsere ungelenken Versuche, ein rundes Leben zu führen. Keiner von uns hielt die erste Ehe durch. Einer bringt es auf fünf Ehen und schwört, dass er jetzt die richtige gefunden hat, mit der er alt werden will. Gegönnt sei es ihm.
Der Vierte lebt auch in Berlin, aber ihn kenne ich schon länger. Er ist der Verwegene und Ungewöhnliche unter uns. Er träumt davon, mich am Gleitschirm mitzunehmen. Ich habe Angst, würde es aber nie zugeben. Ihm zuliebe würde ich das Wagnis wahrscheinlich sogar eingehen und vermutlich mit geschlossenen Augen über mich ergehen lassen. Zugleich hoffe ich aber, dass der Wind auch beim nächsten Mal wieder dieses Abenteuer verhindern möge wie damals, als es fast soweit gewesen wäre, wenn der Berg nicht ein Einsehen gehabt hätte. Ich habe nämlich Höhenangst. Neuerdings vermeide ich es, aus höherer Höhe in die tiefere Tiefe zu gucken. Eine Alterserscheinung, vermutlich.
Nur zwei der Vier kennen sich mehr als flüchtig. Beruflich haben sie miteinander zu tun. Mehrmals habe ich daran gedacht, alle Vier einander näher zu bringen. Der Freund meines Freundes ist auch mein Freund. Vielleicht mache ich es irgendwann. Die Frage ist, warum ich es nicht schon längst gemacht habe. Nicht daran gedacht, das ist wahr. Vielleicht aber auch mit Grund versäumt – weil ich nicht teilen will? Weil ich zu vorsichtig bin? Was würde daraus folgen, wenn A nach dem Kennenlernen von B sagen würde: Was, mit dem bist du befreundet? Oder ihn belanglos fände: Hätte ich nicht gedacht, dass du so einen Langweiler zum Freund hast. Oder wenn sie am Ende befreundet wären und sich ohne mich träfen.
Ich weiß wirklich nicht, was dahinter steckt, vielleicht gar nichts, jedenfalls nichts mit innerer Abwehr oder Unlust am Teilen. Aber am Tag der Freundschaft stellen sich eben Fragen darüber, mit wem ich befreundet bin und was daraus folgt.
Ich befürchte, früher war ich ein treuloser Freund. Aus Städten ging ich weg und ließ die dortigen Freunde hinter mir. Anderswo fing ich neu an, in jeder Hinsicht, auch mit Freundschaften. Das Neue verdrängte das Alte. So bedacht darauf war ich, an neuer Stätte gut anzukommen, dass ich vernachlässigte oder vergaß, was hinter mir lag. Oder sie waren mir nicht so wichtig gewesen, dass ich sie in meinem Leben hätte behalten wollen. Oder ich bin einfach auch ein Freundschaftsschuft.
Zwei meiner besten Freunde sind schon vor Jahren gestorben. Der eine, ein Bayer in Hamburg, Typ Snob, aber eben auch ein wunderbarer Freund, verließ uns vor acht Jahren. Er wollte, dass ich die Rede auf ihn in der katholischen Kirche halten sollte. Alles hatte er geregelt, von der Musik bis zum Programm. Er war dabei gewesen, als meine Eltern nacheinander starben und hatte die Reden gehört, die ich auf sie hielt. So was wollte er von mir hören. Es war mir eine Ehre.
Der zweite Freund starb vor fünf Jahren. Heroisch hatte er 17 Jahre lang gegen den Krebs angekämpft, der immer wieder Zugang zu einem seiner Organe fand. Heroisch heißt: lakonisch, als wäre es selbstverständlich, ohne jedes Gewese und ohne ausgeprägtes Selbstmitleid – wat mutt, dat mutt. Auch auf ihn hielt ich die Totenrede, seine Witwe wollte es so. Wieder war es mir eine Ehre.
Beim Schreiben fällt mir auf, dass ich der Totenredner bin. Ich mache das anscheinend gut. Eher liebevoll, mit einem Schuss Ironie. Was sagt das über mich aus? Mir fällt ein, was mir mein journalistischer Mentor einmal sagte: Lesen Sie Nachrufe, dann erfahren Sie, was die Leute gerne über sich hören würden. Nicht die Toten meinte er, sondern den Totenredner, der folglich so redet, dass er die Rede, würde sie auf ihn gehalten, gut fände – und das heißt wohl, dass sie schmeichelhaft, nachsichtig, rücksichtsvoll ausfallen sollte. Also wünsche ich mir wohl all dies, wenn es so weit ist – wenn er recht hat mit seiner Einsicht, der wunderbare Kurt Becker.
Eine Geschichte muss ich noch erzählen, und wie es der Zufall will, bin ich der Held darin, weil ich den Anfang machte, und mein Freund der zweite Held, weil er die richtige Antwort fand. Es begab sich vor langer Zeit, dass ich einen Kollegen vom Fernsehen kennenlernte, der eine Auszeit nehmen wollte und dann zum Print zu wechseln gedachte. Wir freundeten uns schnell an, denn er gehört zu den geselligen Menschen, die Freundschaften suchen und aus ihrer Gabe, mit Menschen umzugehen, einen Beruf machen.
An diese Anfänge vor nunmehr 31 Jahren musste ich nach vielen Jahren des Schweigens denken. Wie das so ist, hatten wir uns im Laufe der Zeit weniger gesehen. Jeder heiratete, jeder bekam Kinder, jeder entwickelte neue Interessen und Wünsche. Wir blieben befreundet, aber anders. Wir verloren uns nicht aus den Augen, gingen aber berufsmäßig miteinander um. Dann kam das große Zerwürfnis. Sieben Jahre lang Stille. Vor einigen Monaten beschloss ich, ihn anzurufen. Wir verabredeten uns. Eigentlich sei ich ein versöhnlicher Mensch, aber mit ihm nicht, sagte ich, und ich würde gerne in diesem Gespräch herausfinden, warum nicht. Wir redeten anderthalb Stunden und schonten weder den anderen noch uns selber. Dieses Gespräch gehört mit seinem Freimut und seiner Offenherzigkeit zu den Sternstunden der Freundschaftspflege.
In meinem Leben gibt es jetzt die Freunde in Berlin, Freunde in Hamburg und München. Dafür habe ich übrigens eine kleine Kategorienlehre entwickelt. Am liebsten sind mir Freunde der Gelassenheit und Ausgeglichenheit. Herzensfreunde sind selten und deshalb um so wunderbarer. Es gibt aber auch die Anstrengenden, die mir Toleranz abfordern und manchmal auch Entsagung, die dann aber wieder durch Herzlichkeit und Großzügigkeit ausgeglichen wird. Und natürlich gibt es Freunde, bei denen ich eher der Zuhörer bin, was in Ordnung ist. Anderen stehe ich von Herzen im Leid bei, was denn sonst. Und paradoxerweise gibt es einen guten Bekannten, den ich persönlich als Freund ansehe, weil ich mit ihm herrliche Gespräche über alles Erdenkliche führen kann, den ich jedoch sieze und er mich natürlich auch. Macht gar nichts. Gefällt mir sogar. Hat so was Ältliches, Gentlemanhaftes, aus der Zeit Gefallenes. Bleibt auch so. Ist ja was Besonderes.
Meine Freunde, sie sind nicht viele, aber mehr als ich gedacht hätte. Daraus entspringt Dankbarkeit und der Vorsatz, sie zu pflegen. Ganz so konsequent wie meine Frau kann ich nicht sein, doch bin ich schon viel besser geworden, finde ich.