Ahmed Rashid gilt als der beste Kenner Afghanistans. Zwei Jahre vor 9/11 schrieb er ein Buch über die Taliban und ihren kompromisslosen, fundamentalen Islamismus. Sein Buch fand nach 9/11 reißenden Absatz, das Weiße Haus allein bestellte 30 Exemplare und Rashid wurde zu einer international gefragten Koryphäe. Seither schrieb er mehrere Bestseller über das zerrissene Afghanistans und den Einfluss, den Pakistan, sein Land, dort notorisch nimmt. Rashid, 73, lebt in Lahore.
t-online: Joe Biden will die amerikanischen Truppen bis Ende August abziehen. Was bedeutet der Rückzug für Afghanistan?
Rashid: Die Amerikaner hatten nie vor, 20 Jahre lang in Afghanistan zu bleiben. Und es bedeutet Elend für die Afghanen, für ihre Zivilgesellschaft, für ihre Frauen, für die Kinder, die in die Schule gehen wollen. Ein Rückschlag um Jahrzehnte, zumal die Kämpfe weitergehen.
Vor mehr als 30 Jahren waren sie dabei, als die Rote Armee aus Kabul abzog. Nach 20 Jahren verlassen nun die Amerikaner das Land. Was ist der Unterschied?
Die Russen ließen eine Regierung zurück, die sich drei Jahre lang hielt, bevor die Mudschaheddin sie vertrieb. Amerika lässt keine Regierung zurück, die den Taliban auch nur ansatzweise widerstehen kann. Der Rückzug der Russen führte zu einem blutigen Bürgerkrieg und der Rückzug der Amerikaner wird zu einem blutigen Bürgerkrieg führen. Damals wollten die Mudschaheddin und heute wollen die Taliban die komplette Kontrolle über Afghanistan.
Haben die Amerikaner die gleichen Fehler wie die Russen gemacht?
Ja, denn beide ignorierten, dass Afghanistan in Volksstämme zerfällt, die ihre Unabhängigkeit mit allen Mitteln verteidigen. Beide versuchten, Afghanistan zu modernisieren – die Russen mit einer kommunistischen Landreform und die Amerikaner mit Bildung, was erfolgreich war, und Demokratisierung. Beide verstanden es nicht, eine vernünftige Führungsschicht zu etablieren und auch nicht den Drogenhandel zu stoppen, der den Stämmen illegales Einkommen sichert, so dass normales Wirtschaften ausbleibt.
Viele Milliarden Dollar sind seit 2001 nach Afghanistan geflossen, Tausende starben. War alles vergeblich?
Nein, weil beide immerhin als Erbe eine gewisse Modernisierung hinterlassen. Ältere Afghanen erinnern sich noch an die Rote Armee und sprechen Russisch. Auch gründeten die Russen Universitäten und andere Bildungseinrichtungen. Die Amerikaner lassen ebenfalls eine Generation gebildeter Afghanen zurück, aber ob sie unter dem nächsten Taliban-Regime überleben, ist die große Frage.
Wenn Sie auf 20 Jahre Amerika in Afghanistan zurückblicken: Wie lange waren Sie optimistisch und was war der Wendepunkt?
Mein wichtigstes Buch hieß: „Abstieg ins Chaos“. Es kam im Jahr 2008 heraus und listete sämtliche Übel der US-Besatzung auf: der misslungene Aufbau Afghanistans, das Wiederauferstehen der Taliban – also war ich ein früherer Pessimist. Für mich persönlich war der Wendepunkt der Entschluss des amerikanischen Präsidenten, in den Irak einzumarschieren, weil Truppen, Geheimdienste, Geld und die internationale Aufmerksamkeit nur noch auf den Irak konzentriert waren. Deshalb konnten sich die Taliban neu formieren und in die Offensive gehen.
Wie sieht Ihre Bilanz der US-Außenpolitik in Afghanistan und im Irak aus?
Sie war in beiden Fällen ein Desaster. Die Regierung wollte unbedingt einmarschieren, bereitete sich aber nicht auf die Zeit danach vor, wenn die Taliban und Saddam besiegt waren. Was sie wollten, wussten sie nicht – beide Länder politisch und wirtschaftlich neu aufbauen oder demokratisieren oder einfach wieder heimgehen?
Erwarten Sie, dass die USA diesen Teil der Welt sich selber überlasst, um sich ganz auf die nahende Konfrontation mit China zu konzentrieren?
Ohne jeden Zweifel wollten die Amerikaner unbedingt die afghanische Expedition hinter sich lassen, um sich China zu widmen. Und zweifellos ist die Konsequenz, dass Südasien noch mehr ins Chaos abrutscht, da Pakistan und Indien sich feindselig gegenüberstehen und Zentralasien ein Pulverfass ist.
Sie schrieben das erste Buch über die Taliban, die Amerika im Herbst 2001 aus Kabul vertrieb. Wie waren die Taliban damals?
Im Wesentlichen so wie heute. Sie haben an Raffinesse gewonnen und verbreiten ihre Ansichten über die Medien, was sie früher nie taten. Aber ihr Glaube ist nach wie vor ein sektiererischer Islam und sie werden die Afghanen wieder dazu zwingen, ihn zu befolgen.
Wer ist ihr Kopf und gibt es einen politischen neben dem militärischen Flügel?
Kein Kopf, an ihrer kollektiven Führung und Entscheidung hat sich nichts geändert und darin liegt ihre Stärke gegenüber der Regierung mit ihren ethnischen Konflikten und ihren rivalisierenden Stämmen. Der militärische Flügel der Taliban steht unter der Kontrolle der politischen Shura, dem gemeinsamen Rat, der die Entscheidungen fällt. Die Taliban verehren ihre politischen Führer. Wenn sich brillante Kommandeure im Krieg hervortun, müssen sie irgendwann die Normen anerkennen oder sie werden ausgesondert.
Militärisch sind die Taliban auf dem Vormarsch. Nehmen sie einen Bürgerkrieg in kauf, um die Macht an sich zu ziehen?
Sie wollen die absolute Macht und der Bürgerkrieg ist der Weg dorthin. An Kompromissen sind sie nicht interessiert und moderate Figuren sind schon abserviert worden.
Deutschland hat seine Soldaten bereits abgezogen. Wie wichtig war ihr Beitrag in Mazar-i-Sharif und Kundus?
Deutschland hat viele Jahre lang eine wichtige Rolle bei der Sicherung der Nordregion gespielt und ihr Abzug hat ganz schnell zum Kollaps im Norden geführt. Es ist den Deutschen eben auch nicht geglückt, politische Strukturen dauerhaft zu etablieren. Die Taliban stießen hier auf kaum auf Widerstand.
Lassen Sie uns zum Schluss nach vorne schauen. Wie sieht das Verhältnis zwischen Amerika und China in zehn Jahren aus?
Ich hoffe, dass dann China und Amerika ein Arbeitsverhältnis eingegangen sind und gemeinsam die wirklichen Probleme angehen – Hunger, Armut, Klimawandel, wirtschaftliche Disparität.
Und Afghanistan?
Die Taliban werden die wenigen Fortschritte der Amerikaner zunichte machen und verbieten. Das Land wird im Krieg sein. Die Nachbarstaaten werden weiterhin nach Belieben eingreifen. Der Drogenepidemie bleibt bestehen. Sehr viele gebildete Afghaninnen und Afghanen werden fliehen. Und vielleicht, vielleicht findet sich irgendwann eine aufgeschlossene Führung, die das Land beruhigt.
Mr. Rashid, danke für das Gespräch.
Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.