Annalenas Fehler

Die erste Phase des Wahlkampfes ist vorbei, die Deutschen fahren im Urlaub und nehmen sich eine Auszeit vom Dröhnen der Politik. Dass Ende September die Wahl ansteht, ist weise, denn so fällt die zweite Phase nur kurz und schmerzhaft aus. Und wenn wir Glück haben, debattieren wir dann sogar über wirklich wichtige Probleme, die uns alle betreffen.

An der Hauptfigur wird sich nichts ändern. Das ist Annalena Baerbock als Person und Inbegriff der grünen Sache. Zuerst hat sie vieles richtig gemacht, dann aber zwei Fehler begangen. Der eine lässt sich beheben, der andere nicht.

Im Tennis gibt es den Ausdruck „unforced error“. Gemeint ist, dass ein Spieler unnötige Fehler begeht, weil er entweder nachlässig ist oder übermotiviert. Auf Annalena Baerbock trifft beides zu.

Jeder einzelne Vorwurf, der ihre Biographie anbelangt oder auch das Buch, das sie geschrieben hat, ist nicht weiter erheblich. Was aber haften bleibt, ist ein Mangel an Professionalität. Offenbar hat Annalena Baerbock nicht daran gedacht, jemanden mit kühlem Kopf nach Schwachstellen in ihrer öffentlichen Erscheinung suchen zu lassen. Das Versäumnis führt nun dazu, dass ein schlagkräftiger Medienanwalt dem Treiben des „Plagiatjägers“, der ihr Buch dramatisch zerpflückt hat, ein Ende setzen soll. So ernst schätzt Annalena Baerbock die Lage ein, dass sie diesen Weg geht.

Nebenbei gefragt: Wer hat den Plagiatsjäger beauftragt und bezahlt?

Dieses Buch ist natürlich kein organisch Ganzes, wohlformuliert und wohldurchdacht, sondern zusammengestöpselt wie so ziemlich jedes Politiker-Buch. Sinnvoller wäre es gewesen, mit irgendeinem der sympathisierenden Journalisten, die es in allen Blättern gibt, längere Gespräche zu führen, die in längere Porträts eingeflossen wären.

Den entscheidenden Fehler haben die Grünen gemeinsam begangen, Annalena Baerbock und Robert Habeck. Ich wüsste gerne, wer auf die Idee mit der Kanzlerkandidatur gekommen ist. Sie war charmant, sie war mutig. Was aber fehlt, ist die Absicherung.

Wer Kanzlerin werden will, hat zwei Fragen zu beantworten. Die erste lautet: Hat sie Aussichten darauf, mit der stärksten Fraktion aus der Wahl hervorzugehen? Haben die Grünen wohl nur in ihren kühnsten Träumen. Beim letzten Mal holten sie 8,9 Prozent, und das war damals ein gutes Ergebnis. Diesmal müssten es mindestens 30 Prozent sein, um vor der Union zu liegen. Danach sah es flüchtig aus. Flüchtig. Und jetzt nicht mehr, was keine Überraschung sein sollte.

Zur Professionalität gehört ein Blick in die Statistik. Am 26. September dürfen 60,4 Millionen Deutsche wählen. 2,8 Millionen sind Erstwähler, von denen viele bei den Grünen ein dickes Kreuz machen dürften, keine Frage. Aber das Gros der Wähler ist viel älter: von 60 an aufwärts. Sie bilden mit 38,2 Prozent den stärksten Wählerblock. Auf sie kommt es an. Und der Verdacht liegt nahe, dass sie nicht unbedingt grünlastig wählen.

Nimmt man noch die Kohorte zwischen 50 und 60 hinzu, das sind 19,6 Prozent, stößt man auf den Umstand, dass eine große Mehrheit älterer Mitbürger den Wahlausgang bestimmen wird.

Ja, es stimmt, dass die Grünen gut im Wind liegen. Ja, es stimmt, dass Wechsel in der Luft liegt. Es stimmt aber auch, dass der Wechsel wieder moderat ausfallen wird. Warum das so ist, lässt sich aus dem Aufbau der Wählerschaft besser ablesen als aus demoskopischen Erhebungen, die an den Augenblick gebunden sind und nur falsche Illusionen erzeugen.

Der Fehler besteht darin, dass die Kanzlerkandidatur nicht mit einer Koalition verbunden ist. Wenn es kommen sollte, wie es der gesunde Menschenverstand nahelegt, und die Grünen ein tolles Ergebnis erzielen, im Vergleich zu 2017, dann liegen sie an zweiter Stelle mit sagen wir: 20,21 Prozent. Mit wem wollen sie dann so regieren, dass Annalena Baerbock trotzdem Kanzlerin werden kann? Nach Lage der Dinge bleiben nur SPD und FDP.

Das Entscheidende haben die Grünen entweder unterschätzt oder vernachlässigt. Denn die FDP hat sich schon darauf festgelegt, dass sie Annalena Baerbock nicht ins Kanzleramt hieven wird. Und die SPD, die nach einer Wahlniederlage Kevin Kühnert zum Parteivorsitzenden wählen dürfte, sehnt sich dermaßen nach einer Katharsis durch Opposition, dass sie auch nicht zur Verfügung stehen wird.

Im Jahr 1998 war klar, dass die Fischer-Grünen mit der Schröder-SPD regieren wollten. Damals hatte diese Koalition ein klar umrissenes Projekt, in dem der Ausstieg aus der Kernenergie im Zentrum stand. Wie genau sieht das Baerbock-Projekt aus, was steht konkret im Zentrum und mit wem will sie es in welcher Regierung durchsetzen? 

Die Baerbocksche Kanzlerkandidatur ist auf dem Prinzip Hoffnung aufgebaut. Hoffnung ist immer gut, aber selten in einem Wahlkampf. Ein kühles Herz hilft weiter und vermeidet Enttäuschungen. Vielleicht kommt ja Annalena Baerbock Zeit noch, aber nicht schon jetzt.

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.