Stellen Sie sich Folgendes vor: Innerhalb von 300 Tagen hat der Corona-Virus sechs Millionen Menschen infiziert. Ursprung der Pandemie ist ein Wildmarkt in Südostasien. Eine Messestadt in Norddeutschland und eine Universitätsstadt in Süddeutschland sorgen für Verbreitung hierzulande. Bald sind die Krankenhäuser vollständig überlastet, denn das Virus trifft alle gleichmäßig, Junge wie Alte. Die Sterberate liegt bei zehn Prozent. Nach drei Jahren sind mindestens siebeneinhalb Millionen Menschen gestorben. Erst dann haben Wissenschaftler einen Impfstoff gefunden.
Was das ist? Eine Fiktion, eine Modellrechnung, aber auch eine hellsichtige Vorwegnahme der realen Pandemie, mit der wir uns noch länger herumschlagen werden. Die Zahlen der Infizierten und Toten entstammen einer Risikoanalyse, die das Innenministerium im Jahr 2013 in Auftrag gab. Das Robert-Koch-Institut führte sie durch. Nichts davon ist geheim. Alles ist nachzulesen in der Drucksache 17/12051 des Deutschen Bundestages.
Verglichen mit dieser Fiktion sind wir in unserer Wirklichkeit glimpflich davon gekommen. Nicht drei Jahre lang mussten wir auf einen Impfstoff warten, sondern nur ein Jahr lang. Nach heutigem Stand wurden zweieinhalb Millionen Menschen infiziert und starben 72 000 Menschen am Corona-Virus.
Interessant ist, dass die Wirklichkeit hinter der Phantasie der Risikoanalytiker zurückblieb; normalerweise ist es umgekehrt. Noch interessanter ist allerdings, dass alles, was wir erleben, schon mal sehr gründlich durchdacht worden war, als der Corona-Virus, aus Asien kommend, wirklich in Deutschland ankam. Was die Pandemie bedeutet, war nur für uns Bürger neu und unbekannt, denn wir wussten ja nichts von dem Planspiel, das der Innenminister (er hieß Hans-Peter Friedrich und gehörte der CSU an) in Auftrag gegeben hatte.
Bürokratien führen solche Planspiele regelmäßig durch, sei es für den Fall von Hochwasser, das Städte bedroht, sei es durch Pandemien, die ein ganzes Land auf den Kopf stellen. Die Frage ist nur: Nehmen die Auftraggeber die Analysen ernst? Treffen sie Vorkehrungen?
Zu den Eigentümlichkeiten dieser Pandemie zählt, dass die Bundesregierung und die Ministerpräsidenten mehr als ein halbes Jahr lang ziemlich viel ziemlich richtig machte. Vielleicht diente ihnen ja die Risikoanalyse als Handbuch. Darin wird aufgezählt, was zu tun ist, von der Schulschließung bis zum Verbot von Menschenansammlungen. In dieser Phase vertraute die große Mehrheit der Deutschen vor allem der Kanzlerin, die sachlich und nüchtern für die Freiheitsbeschränkungen warb.
Die Wendepunkt trat ausgerechnet da ein, als Biontech den Impfstoff in Rekordzeit entwickelte und sich herausstellte, dass die europäische Bürokratie mit ihren Bestellungen saumselig gewesen war und dann auch noch Hersteller wie AstraZeneca der Bundesregierung auf der Nase herumtanzten. Seither klappt nichts mehr. Seither kündigt der Gesundheitsminister das eine an, das die Kanzlerin morgen zurücknimmt, und im großen Inzidenzen-Palaver der Ministerpräsidenten geht das höchste Gut verloren, das Vertrauen in die Regierenden.
Vielleicht liegt der Umschwung daran, dass in der Risikoanalyse nichts davon steht, wie es weitergehen sollte, wenn endlich ein Impfstoff gefunden ist. Natürlich steht auch nichts von Schnelltests oder Selbsttests drin und kann es auch gar nicht. Und so kommt es, dass im Schneckentempo geimpft wird und jetzt ausgerechnet Aldi Selbsttests anbietet, während Apotheker und Ärzte, die Tests anbieten sollen, nicht wissen, wann sie genügend davon auf Lager haben werden.
Andere Länder sind beneidenswert schneller. Amerika will bis Ende Mai mit dem Impfen durch sein. Amerika! Weit mehr als 200 Millionen Menschen sind dann geimpft. Sie impfen jetzt sogar schon Menschenaffen, die das Virus auch verbreiten können. Ausgerechnet Donald Trump hatte riesige Mengen an Impfstoff vorbestellt und davon profitiert jetzt ironischerweise sein Nachfolger.
Es war schon richtig, dass Deutschland für eine europäische Lösung eintrat; die politischen Folgen eines Alleingangs wären verhängnisvoll gewesen. Aber dieser Umstand rechtfertigt nicht das Vorgehen der europäischen Bürokratie und auch nicht die Entdeckung der Langsamkeit in Deutschland.
Wer ist schuld an der deutschen Misere? Verständlich, dass sich alle Augen auf Jens Spahn richten. Der „Spiegel“ fordert seinen Rücktritt, na klar, am liebsten auch noch den der Kanzlerin. Nichts davon wird eintreten. Sagen wir es so: Für höhere Aufgaben hat sich der Gesundheitsminister nicht gerade empfohlen. Zu viele Versprechungen und zu wenige Taten. Zu viel Kreisen ums Ich und zu wenig Orientierung an der Sache. Angenommen, Armin Laschet wird Kanzler (was ich für wahrscheinlich halte): Dann hätte Jens Spahn zuerst Fraktionschef und später dessen Nachfolger werden können. Beides vermiest er sich gerade.
Spahn hätte der Held der Pandemie werden können, hätte er nur sein Ministerium auf Effizienz getrimmt. Aber offenbar gehört er zu den Politikern, die immer etwas werden wollen, was sie nicht sind, und sich nicht auf das konzentrieren, was sie sind. Und nicht zufällig, machen sie ihm jetzt das Sündenregister auf: Das Posieren mit seinem Mann und dem US-Botschafter und dessen Mann; der Kauf einer Millionen-Villa zu falschen Zeit; die seltsame Intervention bei der Wahl des CDU-Chefs. Schlechtes Timing und Blackouts durch Überehrgeiz.
Man stelle sich vor, Spahn und ein paar andere in Berlin wie Brüssel hätten Konsequenzen aus dem Planspiel von 2013 gezogen und genügende Mengen an Impfstoff bestellt und überhaupt immer schon die jeweils nächste Phase der Pandemie geplant: Wo wären wir dann heute?
Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.