Was wäre die Alternative?

Ich gehöre nicht zu den umsichtigen Menschen, die schon alle Geschenke beisammen haben. Ich werde Mühe haben, für jeden etwas bis Dienstag zu bekommen, bevor das Land in Starre verfällt. An Weihnachten sitzen wir sonst immer in großer Runde zusammen. Diesmal bleiben wir zu dritt, Eltern und Tochter, und wir werden uns komisch fühlen. Dann Silvester: ohne Böller ist der Jahreswechsel langweilig, na klar.

Ist aber eben so. Muss so sein, wenn sich Menschen massenweise Tag für Tag neu infizieren, wenn Tag für Tag 400 bis 500 Menschen sterben. Demokratien müssen dann Humanität beweisen und versuchen, diese üble Pandemie mit äußersten Mitteln einzudämmen. Wenn es mit einem leichten Lockdown nicht geht, dann liegt die Verschärfung nahe, die seit heute morgen beschlossene Sache ist.

Natürlich sind die Folgen für unser Wirtschaftsleben und die Kultur fatal. Natürlich führen Stillstand und Ausschluss zu Spannungen in kleinen Wohnungen mit vielen Menschen einerseits und zur Vereinsamung von Alleinlebenden andererseits. Aber was wäre die Alternative? Mehr Gleichgültigkeit oder Zynismus?

Die Länder um uns herum sind da ohnehin weiter. Österreich oder Frankreich fingen früher mit durchgreifenden Maßnahmen an, ohne dass die zweite Welle gebrochen wäre. Die Schweiz dagegen bleibt stur, obwohl die Zahlen dort auch steigen. Der im Weißen Haus verbarrikadierte Präsident schert sich nicht um die monströse Zahl an Infizierten und Toten, weil er sich immer und ewig nur um sich selber schert und preist sich jetzt dafür, dass der Impfstoff da ist. Absurder Sonderfall.

In Deutschland ist es für einen Nachruf zu früh, schon wahr, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass wir unsere Bundeskanzlerin ziemlich bald vermissen werden, sobald sie uns mit den 16 Zwergen aus den Bergen alleine lässt. In den letzten Wochen und Monaten hat sie mehr Klarsicht und größere Urteilskraft als jeder von ihnen bewiesen. Wäre es nach ihr gegangen, wäre der Lockdown Ende Oktober weniger leicht ausgefallen und müsste jetzt nicht ausgerechnet zur Weihnachtszeit verschärft werden.

Ging es aber nicht. Die Ministerpräsidenten wussten es besser, wollten das eine nicht und das andere gleich gar nicht. Sie wollten sich voneinander unterscheiden und die Pandemie nach eigenem Gusto handhaben. So kam dieses seltsame Hin und Her der letzten Wochen zustande, das die Bürger eher ratlos macht und so das Vertrauen in die Regierung schmälert.

Bei den Rückblicken auf dieses Virus-Jahr dürfte die Debatte im Bundestag der vorigen Woche nicht fehlen, als die Kanzlerin gegen ihre Gewohnheit zeigte, wie ihr zumute ist. Sätze wie diese graben sich ins Gedächtnis ein: „Wenn wir jetzt vor Weihnachten zu viele Kontakte haben und anschließend es das letzte Weihnachten mit den Großeltern war, dann werden wir etwas versäumt haben!“ Als sie sagte, dass die Pandemie in die entscheidende Phase eingetreten sei, rief Beatrix von Storch dazwischen, dass sei ja alles nicht bewiesen. Da reagierte die Kanzlerin angenehm grundsätzlich. „Wissen Sie, das ist der Unterschied. Ich glaube an die Kraft der Aufklärung.“ Sie fuhr fort, „dass man die Schwerkraft nicht außer Kraft setzen kann, die Lichtgeschwindigkeit und auch andere Fakten nicht.“

Gut gebrüllt. Hätte sie öfter machen sollen, das Visier mal herunter zu klappen.

Auch unter meinen Bekannten gibt es Merkel-Verächter, die sie für einen Irrtum von Anfang an halten: Alles falsch gemacht, 16 Jahre lang, eine einzige Katastrophe. Sie schreiben es auch in ihren Kommentaren zur Lage der Nation und zwischendurch habe ich gedacht: Dahinter steckt ein Geschäftsmodell und nicht unbedingt Überzeugung. Inzwischen weiß ich, dass sie es so meinen.

Sei es wie es sei. Mir bleibt in Erinnerung, was Alice Weidel von der AfD dazu anmerkte: Sie faselte von der „Trickkiste der autoritären Herrschaft“, die Bürger einsperre und obendrein „Klimaschutzhysterie“ betreibe. Zur Abrundung sagte sie im Orgelton der Niedertracht:. „Kommen Sie raus aus Ihrem geistigen Wandlitz!“

Diese fortgeschrittene Ignoranz ist jedenfalls keine Alternative zur Regierungspolitik. Deutsche Trumps.

Markus Söder hat mal gesagt, jeder Politiker müsse sich am Umgang mit Covid-19 messen lassen. Klingt gut, könnte auch richtig sein. Gilt auch für ihn. Bayern hat nicht die größten Fallzahlen, aber die meisten Toten zu verzeichnen: 4848 bis letzten Freitag.

Der bayerische Ministerpräsident hat gerade zugegeben, dass der leichte Lockdown seit Ende Oktober ein Irrtum war. Immerhin. Über ihn lässt sich leicht sagen, dass er das Markige liebt und den großen Auftritt sucht. Stimmt schon, ist aber nicht alles. Ihm nimmt das Publikum eben auch das rastlose Bemühen ab, der Herausforderung gerecht zu werden. Die Merksätze bei der Pressekonferenz heute kamen von ihm: Bergamo sei nachher, als manche glaubten. Ganz oder gar nicht sei, das sei die Alternative.

Nordrhein-Westfalen hat die meisten Infizierten, kein Wunder, ist ja auch das größte Bundesland: 314 937. Womit wir bei Armin Laschet wären. Was seine Partei von seinem Krisenmanagement hält, wird sie ihm im  Januar mitteilen. Dann wählt sie den neuen Vorsitzenden, der zumindest ein Zugriffsrecht auf die Kanzlerschaft besitzt. Die Kenner des CDU-Innenlebens sehen momentan Friedrich Merz vorn. Soll das etwa eine gute Nachricht sein? Und für wen? Wie gut, dass wir noch eine Weile diese Kanzlerin haben.

Die Pandemie macht mit uns, was sie will. Wie lange noch? Weiß keiner. Am 10. Dezember ziehen wir erneut Bilanz.

Von jetzt an gilt noch mehr als zuvor das Prinzip Hoffnung. Von jetzt an werden wir in zwei Welten leben. In der einen Welt erschrecken wir über die Rekorde an Toten und Infizierten und hoffen darauf, dass der Lockdown die zweite Welle brechen kann. In der anderen Welt stellen wir uns bald schon in den Impfzentren an, um uns gegen das Virus impfen zu lassen.

Viel Glück! Und: bleiben Sie vom Virus verschont!

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.