t-online: Was bedeutet es für Deutschland, wenn die USA ein Drittel seiner Soldaten abzieht?
Ischinger: Eine schlechte Nachricht, eigentlich eine Strafaktion, weil die Trump-Regierung mit Berlin wegen der Nichterfüllung des Nato-Zwei-Prozent-Ziels unzufrieden ist und ein Exempel statuieren will. Damit verschlechtert sie die transatlantischen Beziehungen, schadet unserer Sicherheit und demontiert die Glaubwürdigkeit der Nato. Deutschland ist der wichtigste europäische Bündnispartner der USA. Wenn das deutsch-amerikanische Verhältnis krankt, leidet die ganze Nato. Für Russland ist das keine schlechte Nachricht.
t-online: Donald Trump bestraft Deutschland für seinen Mangel an Wohlverhalten. Zugleich liegt darin aber eine strategische Entscheidung. Absichtsvoll oder unbedacht?
Ischinger: Die meisten amerikanischen Fachleute, Generäle wie zivile Experten, halten die Entscheidung für strategisch falsch. Sie ist bezeichnenderweise ja auch nicht vom Pentagon vorgeschlagen worden. Sie ist also tatsächlich eine politische Strafaktion und strategisch kaum zu begründen. Amerika schwächt sich selbst und reduziert seine militärische Handlungsfähigkeit.
t-online: Die Nato ist aus Sicht Polens oder der baltischen Länder ein Garant ihrer nationalen Souveränität. Wird die Nato im Zentrum geschwächt, wird sie dann nicht auch an der Peripherie geschwächt?
Ischinger: Natürlich, deshalb wollten kluge Polen ja auch nicht nicht einfach die Verlegung amerikanischer Soldaten von Deutschland nach Polen, sondern hofften auf zusätzliche Kräfte aus den USA.
t-online: Gesetzt dem Fall, die Soldaten werden tatsächlich aus Deutschland abgezogen und ein Teil auf Belgien und Italien verteilt: Wie sieht Europa unter diesen Umständen für Wladimir Putin aus?
Ischinger: Zunächst zeigt die beabsichtigte Verlegung nach Belgien und Italien, wie wenig logisch durchdacht die Trumpsche Entscheidung ist: Wenn er Deutschland für mangelnde Verteidigungsbeiträge zur Nato abstrafen will, warum verlegt er einen Teil der Truppen dann in Partnerländer, die vom berühmten Zwei-Prozent-Ziel noch weiter entfernt sind als Deutschland? Aus Moskauer Sicht liegt darin sicherlich keine Stärkung der Glaubwürdigkeit der Nato und der US-Präsenz in Europa.
t-online: An Deutschland übte Donald Trump immer wieder scharfe Kritik: wegen des Handelsdefizits, wegen der Zölle auf amerikanische Autos, wegen der Nordstream-2-Pipeline. Was daran ist aus amerikanischem Interesse verständlich?
Ischinger: Manche der Kritik-Punkte hatten auch die Vorgänger von Trump bereits vorgetragen – zum Beispiel eben die Verteidigungsleistungen. Washington hat also durchaus Argumente. Aber in einem partnerschaftlichen Bündnis werden nicht Sanktionen verhängt, weder Wirtschaftssanktionen wie gegen Nordstream, die völkerrechtlich gar nicht zulässig sind, noch unabgestimmte militärische Strafakktionen. Sie sind Gift für die Beziehungen. Schon jetzt haben die USA Sanktionen gegen zwei Drittel der Menschheit verhängt. Dass es klug ist, dieses Instrument flächendeckend anzuwenden, daran habe ich meine Zweifel.
t-online: Auch andere Präsidenten haben Deutschland gerügt, weil es keine Anstrengungen unternimmt, wie versprochen zwei Prozent der Gesamtkosten an der Nato zu begleichen. Machen wir uns nicht fahrlässig angreifbar?
Ischinger: Richtig. Wir haben 2014 in Wales beim Nato-Gipfel zugesagt, uns bis zum Jahr 2024 dem Ziel der zwei Prozent zu nähern; das ist eine Selbstverpflichtung. Deutschland sieht in der Tat nicht sehr gut aus, auch wenn unser Budget in den letzten Jahren wieder stetig gewachsen ist. Es ist ja eigentlich nicht deutscher Stil, Verpflichtungen nicht ernst zu nehmen. Bis zu einem gewissen Grad ist die Große Koalition also selbst schuld und macht sich angreifbar. Helmut Schmidt würde sich im Grabe umdrehen.
t-online: In welchem Maße hängt Deutschlands Sicherheit heute noch von Amerika ab?
Ischinger: Als nichtnuklearer Staat in einer Welt mit einer wachsenden Zahl an Nuklearstaaten, neuerdings einschließlich Nordkorea, brauchen wir den Schutz durch die Nato und die USA, sonst wären wir ganz leicht erpressbar. Eine konkrete Alternative ist nicht in Sicht. Deutschland wird nie Nuklearstaat werden, dazu haben wir uns mehrfach offiziell verpflichtet, zuletzt im Zwei-plus-Vier- Vertrag im Jahr 1990, der die Wiedervereinigung international absicherte.
t-online: Im rheinländisch-pfälzischen Büchel liegen 20 atomare Sprengköpfe der US-Armee. Garantieren sie die deutsche Sicherheit?
Ischinger: Die sogenannte nukleare Teilhabe ist ein wichtiges Element, ein Bindeglied in der Nato- Struktur, die dazu dient, jeden möglichen Gegner glaubwürdig abzuschrecken. Sie verknüpft unsere Luftwaffe mit den US-Nuklearwaffen. Ob diese militärisch- technische Konfiguration – deutsches Flugzeug mit US-Bombe – allerdings im 21. Jahrhundert die technologisch beste und wirksamste Lösung ist, darf man Im Zeitalter von Drohnen, Cruise Missiles und künstlicher Intelligenz bezweifeln.
t-online: Der Bundestag hat schon vor zehn Jahren eine Resolution verabschiedet, wonach die Sprengköpfe vom Fliegerhorst abgezogen werden sollen. Verstehen die Amerikaner solche Aufforderungen als Mangel an Solidarität, an Dankbarkeit?
Ischinger: Jedermann versteht den Wunsch nach einer nuklearwaffenfreien Welt. Es ist aber nicht nur aus US-Sicht blauäugig, wenn die nukleare Komponente unserer Verteidigung einseitig aufgegeben würde. In Russland würde das Freude auslösen. Anstatt eines einseitigen Abzugs brauchen wir beiderseitige Rüstungskontrolle und Abrüstungsabkommen. Das erhöht die Sicherheit und stellt sie nicht in Frage.
t-online: Die nationale Alternative zum amerikanischen Schutz wäre eine starke Bundeswehr.
Ischinger: Ja, Das Beste, was wir und europäische Partner tun können, liegt darin, unsere konventionellen Kräfte zu stärken. Erfreulicherweise bekommt die Bundeswehr seit einigen Jahren mehr Ressourcen, doch bis zu einer modernen und voll ausgestatteten Armee ist ein weiter Weg. Allein könnten wir unser Land heute nicht schützen, das ist die beklagenswerte Tatsache. Wir wären in der strategischen Aufklärung und Kommunikation weitgehend blind und taub, wenn wir die USA und das Bündnis nicht hätten.
t-online: Die internationale Alternative wäre eine europäische Armee, in der die Bundeswehr aufgeht. Halten Sie das für wünschenswert und auch für erreichbar?
Ischinger: Wünschenswert als Fernziel: ja, unbedingt. Aktuell erreichbar: nein. Wer sollte denn für eine europäische Streitkraft den Einsatzbefehl geben, solange die EU in der Außen- und Sicherheitspolitik noch nach dem Einstimmigkeits-Prinzip entscheidet? Mal ganz abgesehen vom deutschen Grundgesetz, das die Zustimmung des Bundestags erzwingt. Eine europäische Armee, die erst eingesetzt werden kann, wenn der Bundestag sein Placet gibt? Kein Partner wird sich darauf verlassen wollen. Bei Licht betrachtet, ist Deutschland in dieser Frage leider nicht europafähig. Also auch hier gilt: noch ein weiter Weg!
t-online: Ganz will ja nicht einmal Donald Trump Deutschland aufgeben. Von Ramstein, dem Hauptquartier der Air Force, und von Landstuhl, dem medizinischen Zentrum in Europa, ist nicht die Rede.
Ischinger: Aus guten Gründen. Das Pentagon hat dort viele Milliarden Dollar investiert und sieht offenbar keine Alternativen.
t-online: Aufs Ganze gesehen: Welche Bedeutung hat Europa für die Strategie der Weltmacht USA?
Ischinger: Wir Europäer sind trotz allem die wichtigsten und verlässlichsten Partner der USA. Wer ist denn an der Seite der USA seit 19 Jahren militärisch in Afghanistan präsent, um nur ein Beispiel zu nennen.? Das wissen die Senatoren im Kongress, das weiß das amerikanische Verteidigungsministerium. Aber offenbar ist im Wahljahr „ America First“ wichtiger als die Pflege von Bündnissen und das Vertrauen der Partner.
t-online: Der Abzug der US-Soldaten und deren Verteilung kostet Milliarden Dollar. Wäre ja gut möglich, dass der Kongress da nicht mitspielt. Liegt darin mehr als Wunschdenken?
Ischinger: Der Widerstand im Kongress wird womöglich erheblich sein. Es ist noch nicht beschlossene Sache, dass er die Mittel in Milliardenhöhe freigibt. Aber darauf sollten wir jetzt nicht setzen.
t-online: In wenig mehr als drei Monaten wählt Amerika seinen Präsidenten, der nicht Trump heißen muss. Sie kennen Joe Biden als ständigen Gast der Münchner Sicherheitskonferenz. Glauben Sie, dass er alles beim Alten belässt?
Ischinger: Er würde bestimmt einen vertrauensvolleren Umgang pflegen. Die zahlreichen Differenzen zwischen uns und Washington – Handel, Lastenteilung, Energiepolitik, Russland- und Chinapolitik usw. – würden aber keineswegs über Nacht verschwinden. Europa muss mehr Eigenverantwortung übernehmen!
t-online: Herr Ischinger, danke für dieses Gespräch.
Veröffentlicht auf t-online.de, heute.