Ted Sommer zum 90.

Vor zwei Tagen ist Theo Sommer, den alle Ted nennen, 90 Jahre alt geworden. Wer für Unverwüstlichkeit eine Illustration sucht, sollte sein Photo ausstellen. Die Natur hat es gut mit ihm gemeint. Die Gene haben es gut mit ihm gemeint. Das Leben meint es gut mit ihm. Von all den zumeist wunderbaren, selten unangenehmen Menschen, die mir am 2. September 1980 in der „Zeit“ begegneten, ist er der letzte Überlebende. Last Man Standing, das wird ihm gefallen.

Ich erstarrte in Ehrfurcht, an jenem Tag im September. Ich kam mir klein vor. Jeder meiner neuen Kollegen war ein Ausbund an Kompetenz, an schreiberischem Können. Kurt Becker, der stellvertretende Chefredakteur und mein Mentor, holte mich in meinem Büro ab und zeigte mir, wo die Konferenz des Politik-Ressorts stattfand und sagte den klassischen Satz, den ich seither häufig wiederholt habe: „Hier gibt es keine Sitzordnung, aber wehe, Sie verstoßen dagegen.“ Ich war zehn Jahre jünger als der bis dahin Jüngste, das war Horst Bieber, ein wandelndes Lexikon. Er las Partituren in seiner Freizeit und schrieb Kriminalromane, die verfilmt wurden. Ihn interessierte Umweltpolitik, die damals die allerwenigsten interessierte. Auf ihn münzte Ted Sommer den zweiten klassischen Satz, den ich seither oft zitiert habe: „Er weiß alles und versteht nichts.“ Horst Bieber ist vor kurzem gestorben.

Im Herbst 1980 tobte ein Bundestagswahlkampf der spektakulären Art: Helmut Schmidt gegen Franz-Josef Strauß. In der „Zeit“ tobte parallel ein Machtkampf zwischen Ted Sommer und Dieter Stolze. Sommer war für Schmidt und eine liberale „Zeit“. Stolze war für Strauß und eine konservative „Zeit“. Der Eigentümer Gerd Bucerius schaute lange zu und ließ nicht erkennen, wozu er neigte. Der Machtkampf verlief fair und unter Einnahme von viel Whiskey. Ich erinnere mich, wie die beiden großen Männer laut und lärmend wie beste Freunde über den Flur liefen. Irgendwann entschied sich Bucerius für Ted und Stolze musste gehen. Er wurde dann Jahre später Regierungssprecher unter Helmut Kohl.

Die Mehrheit im Haus war froh über den Ausgang des Machtkampfes. Der Vorsitzende des Redaktionsausschusses, er hieß Hans Schueler, sagte in der ersten Gesamtkonferenz des Blattes nach der Krise: „Ted, wir sind nicht für Sie, weil wir Sie mögen, sondern weil Sie die richtige Haltung haben.“ Man war selbstbewusst in diesem Haus. Jeder Redakteur fühlte sich fürs Ganze verantwortlich. Wirklich verantwortlich für das Ganze aber waren Ted Sommer und die Gräfin, meine Nachbarin zur Linken: Marion Gräfin Dönhoff, eine große Frau, eine eindrucksvoller Erscheinung, gesegnet mit einem kühlen Blick und einem herzhaften Lachen, das auch schmutzig klingen konnte.

Sommer verbreitete gute Laune. Sommer verbreitete Optimismus. Sommer war und ist ein angstfreier Mensch, ein freier Mensch. Als ich meine ersten Leitartikel schreiben durfte, gab er mir das Gefühl: Du kannst es, du weißt es vielleicht nicht, aber ich weiß es, nur zu! Natürlich war klar, dass er ihn im Zweifelsfall umschreiben würde, aber das behielt er für sich. Er setzte Vertrauen in seine Redakteure und dafür bin ich ihm bis heute dankbar.

Später habe ich meine Erfahrungen mit Chefredakteuren gemacht, die unsicher waren und Unsicherheit vermittelten. Die misstrauisch waren und Pessimismus vermittelten. Das ist bescheuert, wenn man selber erfahren ist. Es ist furchtbar, wenn man jung ist und in dieser Atmosphäre reifen soll. Der „Spiegel“ war in vielem das Gegenteil der „Zeit“. Eine Ausnahme bildete Stefan Aust, auch ein leidenschaftlicher Journalist, auch jemand, der groß handelte und furchtlos war. Mit ihm wurde ich nach einiger Zeit warm, lernte ihn zu schätzen und hatte jede Menge Spaß mit ihm, als wir morgens um 5 durch New York liefen, nach einem Interview mit Bill Clinton und einer Nachtarbeit mit Bearbeitung auf Deutsch und Englisch.

Ted Sommers „Zeit“ ist aus heutiger Sicht ein Unikum, ein Phänomen. Ein Blatt, in dem Sommer kurz mal ins Verteidigungsministerium wechselte und die Gräfin hätte Bundespräsidentin werden können, wenn sie gewollt hätte. Hier arbeiteten Journalisten, die sich als Ratgeber der Regierung verstanden und von Kanzlern auch so verstanden wurden. Ein Blatt, in dem Helmut Schmidt Herausgeber wurde und wie selbstverständlich in der Politik-Konferenz saß und Widerspruch hinnahm, mürrisch vor allem dann, wenn er gut begründet war. Und alle machten ein Blatt, das sie gerne lesen wollten – noch so ein klassischer Satz.

Die liberale Zeit wuchs auf eine halbe Million. Sie war beliebt, nicht gefürchtet wie der „Spiegel“. Sie war ein Meinungsmacherblatt und natürlich irrten die Meinungsmacher auch gewaltig, Ted Sommer voran. Er wäre der Letzte, der es abstreiten würde.

Vor drei Jahren war ich mit ihm zum Essen verabredet. Er humpelte herein, ging am Stock. Ich erschrak, ich dachte, jetzt wird er doch alt und gebrechlich, wie schade. ich war bereit, so zu tun, als ob ich nichts sähe, nicht erschrocken sei. Auf meine Frage, was denn passiert war, sagte: „Der Meniskus, beim Joggen falsch aufgetreten.“ Ich nehme an, er musste sich beim Joggen dringend nach einer schönen Frau, jung natürlich, umdrehen.

So ist er, der Ted, mein Lieblingschef, unverwüstlich, unverändert, unveränderbar. Morgen rufe ich ihn an und verabrede mich mit ihm.