Der lange Atem des Herrn Xi

Am Donnerstag soll Xi Jinping im südkoreanischen  Gyeongju auf Donald Trump treffen. Dort tagt die „Asiatisch-Pazifische Wirtschaftskooperation“, ein Zusammenschluss aus 21 Ländern, zu denen China und Amerika gehören. Mit Prognosen, ob es bei der Verabredung bleiben wird, sollte man vorsichtig sein, siehe Putin.

Die alte und die neue Supermacht tauschen seit längerer Zeit Unfreundlichkeiten aus. Sie werfen einander Doppelmoral und Zynismus vor. China sei schwach, sagte US-Finanzminister Scott Bessent abfällig. Amerika sei nur noch ein Papiertiger, heißt es in Peking. China und die USA reden übereinander, nicht miteinander. 

Der Handelskrieg zwischen China und den USA führt zu astronomischen Zöllen, die sich natürlich auch anderweitig auf dem Weltmarkt niederschlagen. So steht VW vor Kurzarbeit, weil China den Export seltener Erden, unersetzbar für Autos, erheblich einschränkt. Im Gegenzug droht Amerika mit noch höheren Finanzzöllen und begrenzt den Export von Hightech-Gütern.

Selbstverständlich wiegt sich Donald Trump im Glauben, dass nur er den Handelskrieg gewinnen kann, den er angezettelt hat. Aus seiner Sicht und auch aus Xis Sicht, ereignet sich auf diesem Feld aber noch mehr als ein wirtschaftliches Kräftemessen. Gegenüber stehen sich zwei Supermächte, die sich im Systemwettbewerb befinden, der auch politische und militärische Tragweite besitzt, Stichwort Taiwan. Dabei hat China offenkundig den langen Atem, während der US-Präsident Kurzatmigkeit für seine Stärke erachtet.

Aber wer ist im Handelskrieg überlegen? Hat Finanzminister Bessent recht?

Hat er nicht, denn es sieht ganz danach aus, dass China am längeren Hebel sitzt. Diese Erfahrung macht der fürs Eskalieren berüchtigte Donald Trump gerade schmerzlich. Das größere Interesse an einer Eindämmung liegt momentan eindeutig bei ihm.

Xi hat Trump nämlich an einem empfindlichen Punkt getroffen. China ist das weltgrößte Importland für Sojabohnen. Viele US-Farmer leben davon, dass sie ihre Hülsenfrüchte nach Asien verkaufen. China verwendet sie hauptsächlich als Futtermittel in der Massentierhaltung. Nun aber hat Xi den Import erheblich reduzieren lassen. Darunter leiden die amerikanischen Farmer im Mittelwesten. Indes gleicht  China den Ausfall mit zusätzlichen Importen aus Argentinien und vor allem Brasilien aus.

Eine Einparteiendiktatur von dieser Größe und Reichweite kann schneller umlenken als ein verwundbarer Präsident mit Tendenz zum Alleinherrscher. Dabei fallen immer wieder die Umsicht und Entschlossenheit auf, mit der Xi Jinping im Handelskrieg vorgeht. 

Sojabohnen hat er nicht zufällig ausgewählt, um Provokation mit Provokation zu beantworten. Der amerikanische Mittelwesten ist Trump-Kernland. Die Farmer vertrauen darauf, dass ihr Präsident ihre Interessen wahrt. Gelingt es ihm in Südkorea aber nicht, eine Einigung über die Wiederaufnahme des Exports zu erzielen, wird ein Gutteil der Farmer pleite gehen. Sie könnten Trump die Schuld geben und es ihn womöglich bei den nächsten Wahlen spüren lassen. Kein Zweifel, dass der Präsident in Südkorea klein beigeben muss.

China hat Übung im Handelskrieg. Wie Trump lässt Xi den Konflikt eskalieren und übt Vergeltung für Sanktionen nach Bedarf. So widersteht China dem Druck Amerikas und schlägt geschickt zurück. China hat das, was unter Experten die „Eskalations-Dominanz“ genannt wird – in der Auseinandersetzung hält das Riesenreich die besseren Trümpfe in der Hand. Zu diesem Vorteil trägt allerdings auch Trump mit seinem Wankelmut bei.

Zum Beispiel zog er im April eine ganze Serie von Zöllen sofort zurück, als Wall Street negativ reagierte. Als China Zölle erhöhte, drohte Trump mit 100-Prozent-Zöllen, um kurz darauf einen Rückzieher zu machen. Seine Illusion, er werde ein weitgehendes Embargo über China wegen der seltenen Erden verhängen, platzt von selber, weil Amerika noch mehr als China darunter litte.

Wegen dieser Labilität nennen ihn Trump-Verächter den „Taco-Man“. Das Kürzel steht für „Trump always chickens out“ – Trump zieht immer den Schwanz ein.

Was mag wohl Xi von diesem Hin und Her halten, stets im Ton absoluter Überzeugung vorgetragen? Nimmt er Amerika ernst? Ermutigt ihn der Handelskrieg, der ja schon länger anhält?

Was in Amerika der Mikrochip-Krieg genannt wird, läuft seit 2018, als Trump erstmals Präsident war. Damals begann er damit, Exportzölle für Halbleiterfirmen zu verhängen, die ihre Produkte nach China verkaufen wollten. Mit diesen Sanktionen wollte er Chinas Ambition blockieren, eine eigene Chip-Industrie aufzubauen.

Anstatt sich behindern zu lassen, spornten die Sanktionen China erst recht an. Xi hoffte darauf, dass heimische Firmen mit Hardware gelingt, was ihnen mit Software schon gelungen ist. Ihre Innovationen sollen sich an Amerikas Eingriffsmöglichkeiten vorbei entwickeln. 

Im Januar 2025 überraschte DeepSeek, eine chinesische Software-Firma, die Welt mit einem KI-Modell, das der westlichen Konkurrenz ebenbürtig war, obwohl es lediglich mit einem Bruchteil der Rechnerleistung trainiert worden war. Die Frage sei, schreibt der britische „Economist“, ob China daraus eine eigenständige und wettbewerbsfähigen KI-Industrie machen könne..

Der Handelskrieg hat Xi und die Kommunistische Partei gestärkt. Zwar ist wahr, dass China große ökonomische Probleme auf dem Immobiliensektor hat.  Auch der schwache Binnenmarkt und fehlgeleitetes Kapital in der Industriepolitik wiegen schwer. Aber für viele Chinesen ist wichtiger, dass ihr Land im Handelskrieg standhält und dabei ist, eine tech-industrielle Supermacht zu werden.

Wenn sich Xi und Trump in Südkorea treffen sollten, werden sie vielleicht mal wieder Freundlichkeiten austauschen. Sie könnte eine Pause im Handelskrieg einlegen, so dass Sojabohnen und seltene Erden wieder in größerem Maße importiert werden dürfen, was auch für die deutsche Autoindustrie eine Wohltat wäre.

Was aber bleibt, ist die trübe Aussicht, dass ökonomische Macht nach Belieben als Waffe im Systemwettstreit einsetzbar ist.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Trump behält die Samthandschuhe an

Vielleicht löst irgendwann einmal ein Biograph oder einer aus Donald Trumps engerem Zirkel das Rätsel, warum der pompöse Präsident so viel Nachsicht mit Wladimir Putin übt. 

Er rollt den roten Teppich in Alaska aus und nichts springt aus dem Treffen heraus. So einen Affront würde der amerikanische Präsident jedem anderen Präsidenten oder Regierungschef übelnehmen, nicht aber Putin. Er droht Russland an, der Ukraine Tomahawks zu liefern, die fraglos Einfluß auf den Krieg nähmen. Dann ruft Wladimir den Donald an und Donald stellt ihm nach eigenen Angaben die umwerfende Frage: „Hättest du etwas dagegen, wenn ich einige Tomahawks an deinen Gegner liefern würde?“

Soll Putin etwa sagen: Ja, gerne, mach’ nur?“ Tomahawks sind hochpräzise Marschflugkörper mit einer Reichweite von 1600 Kilometern, die mehrere Sprengköpfe tragen. Die ukrainische Armee greift zwar in diesen Tagen mit Drohnen aus Eigenproduktion Ölraffinerien und Rüstungsbetriebe im russischen Hinterland an, aber Tomahawks sind ungleich gefährlicher und würden einen Unterschied im Krieg bedeuten.

Trump winkt mit Tomahawks und schon entdeckt Wladimir Putin einen Funken Friedensfreund in sich und schlägt ein Treffen in Budapest vor. Trump freut sich und gibt die Tomahawks nicht her – sorry, war nur so eine Idee.  An die beiden Außenminister ergeht der Auftrag, den Tag vorzubereiten, zeremoniell vor allem, siehe Anchorage, aber irgendwie auch inhaltlich. 

Budapest ist aus Putins Sicht ein sicherer Hafen. Ungarn erkennt den Internationalen Strafgerichtshof nicht an, der gegen den russischen Präsidenten einen Haftbefehl wegen Kriegsverbrechen ausgestellt hat.

Aus ungarischer Sicht ist die Ehrerbietung, mit der auch Viktor Orbán den Kriegsherren bedenkt, ziemlich seltsam. Nicht alle Ungarn haben das Jahr 1956 aus dem Gedächtnis gelöscht, als sowjetische Panzer den Volksaufstand überrollten. 350 Menschen wurden hingerichtet, darunter der Ministerpräsident und der Verteidigungsminister sowie 350 Aufständische, vor allem Studenten.

Vor diesem historischen Hintergrund begegnen sich die beiden Herren in kurzer Zeit zum zweiten Mal. Aber wozu? Kaum zu glauben, dass Trump wie im Nahen Osten die Daumenschrauben ansetzt, um erneut als Friedensfürst in Erscheinung zu treten. Kaum zu glauben auch, dass Putin ihn nicht wieder  umschmeichelt und dann ins Leere laufen lässt.

Also, was soll das Ganze?

Trump hofft auf die überragende Wirkung seiner Persönlichkeit. Er probiert auf gut Glück aus, ob sich etwas herausschlagen lässt – ein Waffenstillstand, Verhandlungen über Territorium. Dass er  Drohungen in den Gesprächen oder danach ausstoßen wird, lässt sich bezweifeln. Der US-Präsident zieht die Samthandschuhe nicht aus.

Eigentlich hätte Putin Grund dazu, über den Kriegsverlauf ins Grübeln zu kommen. Die Sommeroffensive läuft in diesen Tagen aus. Unter hohem Blutzoll erziele die russische Armee nur minimalen Raumgewinn. Diese dritte und größte Offensive ist insoweit ein Fehlschlag.

Das hochseriöse britische Magazin „The Economist“ trug Schätzungen von Regierungen und unabhängigen Instituten zusammen, wie viele Tote und Verletzte beide Seiten beklagen müssen. Seit Kriegsbeginn bis heute sind danach zwischen 200 000 und 400 000 Russen gefallen.  77 403 ukrainische Soldaten sind tot, 77 842 vermisst.

Natürlich greift Russland Nacht für Nacht mit Drohnen und Marschflugkörpern an und verursacht fürchterlichen Schaden. Zivilisten sterben, Häuser werden zu Ruinen. Natürlich sinkt die Moral an der Front und unter Zivilisten, weil der Armee entscheidende Waffen vorenthalten bleiben, von den US-Tomahawks bis zu den deutschen Taurus-Marschflukörpern.

Wolodymyr Selenski macht sich wohl kaum Illusionen, dass sich daran etwas ändern wird. Schon bevor er im Weißen Haus mit ausgesuchtem Wohlwollen empfangen wurde, hatte Putins Sprecher triumphal verkündet, dass die Ukraine keine Tomahawks bekomme.

Trump hat Selenskij versprochen, dass er ihn gleich nach dem Budapester Ereignis über den Stand der Dinge informieren werde. Immerhin, vielleicht ist ihm nicht wohl dabei, den ukrainischen Präsidenten, der ihm zuliebe Anzug trägt, zu enttäuschen. Aber an seiner Vorzugsbehandlung für Putin wird sich deshalb noch lange nichts ändern. Das Rätsel, warum das so ist, bleibt bestehen.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute

Hoffnung in einer trostlosen Weltgegend

Heute ist ein großer Tag im Leben des amerikanischen Präsidenten.  Er wird umjubelt als Friedensstifter, als der Mann, der einen Krieg beendet, an dessen Eindämmung zahllose Vorgänger gescheitert waren. Seine Schwäche erweist sich diesmal als Stärke: Die Ignoranz gegenüber der Geschichte voller Leid und Kriege in Nahost, der Glaube an seine Omnipotenz und der USA als Ordnungsmacht in dieser Region, deren Boden von Blut getränkt ist und deren Menschen von Hass auf einander beseelt sind.

In Sharm el Sheikh auf der Halbinsel Sinai wird das das Abkommen über den Frieden in Gaza feierlich unterzeichnet. Viele Staats- und Regierungschef werden diesen historischen Tag durch ihre Anwesenheit zieren, darunter auch der deutsche Bundeskanzler. Über allen aber thront Donald Trump, der an der Ukraine das Interesse verloren hat, aber an dieser Region nicht.

Frieden ist ein großes Wort. Frieden und Nahost sind eigentlich ein Widerspruch in sich. Ist dort überhaupt ein Frieden möglich, ohne dass der nächste Krieg schon vorbereitet wird?

Frieden scheint wirklich möglich zu sein. Erstens schreien die tiefenscharfen Veränderungen durch die Serie an Kriegen, die seit dem 7. Oktober 2023 in der Region tobten, nach einer politischen Neuordnung. Zweitens ist die Geduld der arabischen Staaten mit der Hamas und die Geduld Amerikas mit Israel an einem Ende angelangt, so dass sie die Daumenschrauben anlegen und das Unmögliche ermöglichten.

Ab jetzt wird der 20-Punkte-Plan abgearbeitet, den Donald Trump als sein Werk betrachtet.. Die israelischen Geiseln kommen frei. 20 von ihnen leben noch, eine Minderheit. Die  anderen 28, die Mehrheit, kehren als Leichname in die Heimat zurück. Sie starben an den Bedingungen, denen sie ausgesetzt waren, so viel ist klar. Aber wie und warum sie den Tod fanden, werden ihre Familien erfahren wollen. In die große Freude mischt sich, wie immer nach Kriegen, große Trauer.

20-Punkte sind eigentlich zu viele für einen seriösen Plan. Deshalb überbieten sich manche Kommentatoren in Skepsis, ob auch wirklich gelingen kann, was gelingen soll. Das ist verständlich angesichts der Erfahrung mit Plänen in dieser Region, in der guter Wille schon so oft an der Wirklichkeit scheiterte. Aber Erfahrung kann auch blind machen für grundstürzenden Wandel. Denn denkbar ist auch, dass in der Punkt-für-Punkt-Abwicklung eine Dynamik entsteht, welche die Dinge planmäßig beschleunigt. 

Die erste Phase endet heute mit dem Austausch der Geiseln gegen palästinensische Häftlinge aus israelischen Gefängnissen. Die zweite Phase wird gerade vorbereitet. 200 US-Militärs sind eingeflogen worden, um für die allerersten Voraussetzungen für die Verwandlung der Trümmerwüste Gaza in „einen funktionalen Ort“, wie der Arbeitstitel lautet, zu sorgen. Die USA und Regionalmächte wie Ägypten, die Türkei, Katar und vermutlich auch die Golf-Emirate sind dafür ausersehen, die „International Stability Force“ zu bilden – eine international Truppe, die die für Stabilität und Frieden in Gaza zuständig sein soll.

Dann folgt, wenn es gut geht, eine technokratische Regierung unter der Supervision eines Gremiums, dem Trump persönlich vorsteht. Und natürlich muss die Hamas ihre Waffen abgeben; wer von ihren Kämpfern und Anführern ins Exil geht, fällt unter eine Amnestie. Dieser Punkt, der die Hamas zu bedingungsloser Kapitulation zwingt, ist besonders heikel. 

Benjamin Netanjahu wird auch heute nicht müde werden zu behaupten, dass ihm eine tragende Rolle in Trumps Friedenswerk gebührt. Er beginnt heute schon mit dem Wahlkampf, denn spätestens in exakt einem Jahr steht die nächste Parlamentswahl an.  Es zeichnet sich ab, dass es dann um Gaza gehen wird – die Verantwortung für den 7. Oktober, die Kriegsführung seither, die Rolle Netanjahus bei der weltweiten Isolation Israels. 

Zweifellos wird dieser Premierminister in zweifacher Gestalt in die Geschichtsbücher eingehen. Als Mann, der die Hamas im Gaza und die Hisbollah im Libanon entscheidend dezimierte; als Mann, der Iran demütigte – als Bezwinger der Feinde Israels.

Daneben ist er aber auch der Mann, der Krieg auf Krieg führte und zu Frieden nicht imstande war, weil dann seine Koalition gescheitert wäre und ihm bei einer Wahlniederlage juristische Konsequenzen wegen Korruption drohen. Zum Frieden ließ sich Netanjahu im Weißen Haus zwingen.

Was schwerer wiegt, der militärische Triumphator  oder der Egoman, werden die israelischen Wähler bestimmen. Was Netanyahu juristisch vorgeworfen wird, werden die Richter entscheiden.

 Überhaupt beginnt ab jetzt die Phase der Selbsterforschung, wie der Krieg Israel verändert hat. Dazu gehört die Frage, wieso so viele Länder Palästina als Staat anerkennen und wie die Zwei-Staaten-Lösung aussehen könnte, auf der das Ausland beharrt. Außerdem hat sich Präsident Trump darauf festgelegt, dass Israel die Westbank nicht annektieren darf. Was bedeutet das? Wie reagieren die Siedler, angeführt von Politikern, die ihre Verachtung für Palästinenser offen aussprechen?

Der Nahe Osten wird durch die überraschend konsequente Einmischung des amerikanischen Präsidenten neu geordnet. Die Aussichten fürs Gelingen sind erstaunlich gut, weil hinter dem guten Willen die geballte Macht Amerikas und der arabischen Welt steht.

Vielleicht bräuchte auch Israel einen 20-Punkte-Plan, der klärt, welches Land es sein will und sein sollte. Die Ära des Dauer-Premiers Netanyahu dürfte bald zu Ende gehen. Wer folgt auf ihn? Und wie verhält sich seine (oder ihre) Regierung gegenüber den Palästinensern im eigenen Land und im Westjordanland?

Die Hoffnung, die heute in Sharm el Sheik beschworen wird, vertreibt vielleicht ja wirklich die Verzweiflung und die Ratlosigkeit, die in dieser Region vorherrschen. Und wenn es ganz gut geht, und man soll die Hoffnung auch dort nicht verlieren, besinnt sich Idas zerrissene Israel auf eine Versöhnung mit sich selber.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Er will ihn haben, den verdammten Preis

Was immer wir auch von seiner Kunstfertigkeit halten mögen, hat doch der unnachahmliche Donald Trump mit seinem pompösen 20-Punkte-Plan einiges in Bewegung gesetzt. Die USA sind immer noch die einzige Macht, die den Stillstand im Nahen Osten überwinden können

Natürlich müssen wir uns bei Trumps Manövern immer die Frage stellen, was für ihn dabei herausspringt. Er tut ja gar nicht so, als hätte er kein Eigeninteresse an seinen Aktionen. Da helfen zwei Termine, die in den nächsten Tagen anstehen, um uns auf die richtige Spur zu setzen.

Morgen, am 7. Oktober,  jährt sich der mörderische Überfall der Hamas auf Israelis, die ein Festival besuchten, und auf 21 Ortschaften im Grenzgebiet zum Gaza. 6000 Hamas-Kämpfer brachten 1 159 Menschen um; 240 entführten sie. An jenem Tag vor zwei Jahren nahm der Wahnsinn von heute mit einem Massaker, das sogar in der blutigen Geschichte des Nahen Ostens seinesgleichen sucht, seinen Anfang.

Dass sich die Menschen im Gaza nach Frieden sehnen, liegt auf der Hand. Die wichtigen Länder der Region, angefangen bei Saudi-Arabien über Katar und Jordanien bis zu Ägypten, sind über die überraschende US-Initiative erleichtert. Wahrscheinlich beten sie darum, dass der US-Präsident wirklich meint, was er sagt, und dass seine Aufmerksamkeitsspanne diesmal länger reicht als sonst immer.

Mit einer gewissen Sicherheit lässt sich vermuten, dass sich bis Mitte der Woche abzeichnen wird, wie groß die Chancen sind, dass der schwierigste Teil des Plans erfüllt wird – dass die Hamas nicht nur die Geiseln übergibt, sondern auch ihre Waffen abgibt. Nicht zufällig kommentiert Donald Trump die Vorgänge im Stundentakt. Denn, und das ist der zweite Termin, am kommenden Freitag, den 10. Oktober, gibt das norwegische Komitee bekannt, wer den Friedensnobelpreis bekommt.

Donald Trump will ihn haben. Er glaubt, er steht ihm zu. Vermutlich hat er jedem Besucher im Weißen Haus so intensiv von seinem innigen Wunsch erzählt, dass der sich bemüßigt fühlte, ihn dafür vorzuschlagen. Benjamin Netanyahu, der großes Geschick im Umgang mit dem eitelsten Präsidenten aller Zeiten beweist, überreichte ihm sogar mit warmen Worten das Schreiben, das er nach Oslo entsandte.

Gesetzt dem Fall, dass bis zum 10. Oktober wirklich etliche der 20 Punkte erfüllt sein sollten und der schier endlose grausame Krieg vom Bombenstopp über einen Waffenstillstand in Frieden und Wiederaufbau Gaza münden sollte, hätte sich Trump verdient gemacht. Die Frage ist nur, ob das Nobelpreis-Komitee von dem anderen Trump absehen kann.

Dem Lügenbold. Dem Märchenerzähler. Dem Geschäftsmann, der seine Präsidentschaft zur Bereicherung seines Famiien-Konzerns nutzt. Dem Mann, der Haß sät und Leute, die ihrem Job nachgekommen sind und so seine Wege kreuzten, hinter Gittern bringen will. Und vor allem von dem Präsidenten, der die Demokratie in seine persönliche Herrschaft überführen will.

Da Amerika unentbehrlich ist, haben sich viele Staats- und Regierungschef auf eine Gratwanderung zwischen Schmeichelei und Selbstbehauptung begeben. Und da die Obsession, dass Trump genau dasselbe haben will, was Barack Obama bekommen hat, hinreichend bekannt ist, ist die diesjährige Auszeichnung noch mehr ein Politikum als sonst. 

Der 10. Oktober wird Folgen haben. Beugt sich das Komitee, wie sich honorige Politiker gebeugt haben, muss es sich Opportunismus vorhalten lassen. Auch wenn es schon öfter unverständliche Entscheidungen getroffen hat, wäre Trump doch ein besonderer Fall, der sich ins Gedächtnis brennen wird.

Beugt es sich allerdings nicht, wird es eine unflätige Suada aus dem Weißen Haus ertragen müssen. Aber damit ließe sich der Ruf dieser Institution sicherlich besser bewahren als im anderen Fall.

Der Friedensplan für den Nahen Osten ist der Bewerbungsplan für den Friedensnobelpreis. Für die Durchsetzung wird Amerika gebraucht. Ein beschwingter US-Präsident setzt sich für Frieden und Wiederaufbau vermutlich stärker ein als ein gekränkter, der die Ungerechtigkeit der Welt beklagt und um sich schlägt

Nach aller Erfahrung ist im Nahen Osten alles möglich. Das Ende des Kriegs könnte mit einer Neuordnung der Region einher gehen, die Israels Existenz sichert. Die Garantiemacht im Hintergrund bleibt die USA. Saudi-.Arabien, um mehr internationale Geltung und Reputation bemüht, scheint bereit zu sein, diplomatische Beziehungen mit Israel aufzunehmen. Das wäre eine historische Zäsur.

Was mich bei der Zeremonie zur Vorstellung des 20-Punkte-Plans in Washington irritierte, war die gute Laune, die Benjamin Netanyahu ausstrahlte. Seine Regierung, vor allem die nationalreligiösen Teile, hat ja eigentlich anderes im Sinn als den Rückzug der Armee. Sie strebt die Annexion Gazas an und die Vertreibung der Palästinenser, so dass israelische Siedler neben dem Westjordanland auch Gaza besiedeln können.

Aber Donald Trump stellte den israelischen Premier vor vollendete Tatsachen mit seinen 20 Punkten. Und er bietet ihm eine Alternative: Gibt die Hamas die Waffen nicht ab und gehen ihre Anführer nicht ins Exil, bekommt Israel freie Hand im Gaza zu machen, was immer es will. Netanjahu hat bisher den Krieg dem Frieden vorgezogen. Und jetzt?

Wie er es liebt und für weltgeschichtlich angemessen hält, hängt im Nahen Osten jetzt alles von Donald Trump ab. Mal schauen, in welche Verfassung und in welche Laune ihn die entscheidende Nachricht aus Oslo versetzt. 

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Kindpräsident einer eitlen Supermacht

Nach langem dröhnendem Schweigen schickte Donald Trump zuerst seine Uno-Botschafterin vor, die behaupten durfte, dass Amerika jeden Zentimeter Boden der Nato zu verteidigen denke, was uns Europäer erstaunte. Tags darauf überraschte er mit der Ankündigung, er sei für neue Sanktionen gegen Russland zu haben, falls europäische Staaten, die noch immer Gas aus dem Hause Putin bezögen, darauf verzichten sollten.

So viel Differenzierungsfähigkeit bringt Donald Trump nur widerwillig auf, wie wir inzwischen wissen. Der Präsident, der schnell aus der Hüfte schießt, zaudert jedes Mal, wenn es gegen Staatsmänner geht, die er offenfür ihren Eigensinn bewundert. Wladimir Putin gehört dazu, Benjamin Netanyahu auch.

Beide Kriegsherren tanzen Donald Trump auf der Nase herum und er lässt es sich gefallen. Netanyahu wollte in Katar die politische Führung der Hamas umbringen, was wohl misslang. Die Freiheit, die ihm der US-Präsident gewährt, nutzt er eben, egal ob in Syrien oder im Libanon, in Katar oder Gaza.

Was Wladimir Putin anbelangt, muss man sich kurz noch mal die Bilder aus Alaska vor Augen führen – die Vorzugsbehandlung, das Umschmeicheln, das Weltschmierentheater.  Was Trump damit bezweckt haben mag, beeindruckte Putin wenig. Er führt den Krieg in der Ukraine nach seinem Willen und seinen Vorstellungen weiter. An ihm perlen die eitlen Wünsche des US-Präsidenten nach ein bisschen Waffenstillstand, nach einem Treffen mit Wolodymyr Selenskji ab.

Aus Alaska mag Putin abgereist sein in der Gewissheit, dass Amerika so dekadent ist, wie er es sich ausgemalt hat. Nicht anders hält es Benjamin Netanyahu, der es nicht für nötig erachtete, Trump vor seinem Angriff auf Katar zu informieren – genau dort, wo die USA ihren wichtigsten Stützpunkt im Nahen Osten unterhalten. 

Trump brachte sogar noch Verständnis auf, als Drohnen auf Polen niedergingen. Zunächst machte er sich die Kreml-Version zueigen, dass es sich um verirrte Angriffe kraft elektronischer Ablenkung gehandelt habe, mutmaßlich durch Störmanöver der Ukraine. Tatsächlich waren wohl keine spezifisch polnischen Ziele programmiert.

Es dauerte quälend lange, bis Trump Überlegungen anstellte, die auf Sanktionen zielen. Dafür hätte es der Drohnen gar nicht bedurft. Der bloße Umstand, dass der russische Präsident sich an keinerlei Zusagen gebunden sieht, die er dem amerikanischen Präsidenten am Telefon oder eben in Alaska machte, sind Grund genug für härtere Konsequenzen.

Es wäre natürlich eine Ironie der Weltgeschichte, wenn Putin dank seiner zynischen Sicht der Dinge Trump dazu bringen würde, die Nato nicht zu sprengen, sondern zu erhalten. Da wir dem US-Präsidenten alles zutrauen sollten, was wir ihm zutrauen können, können wir auch nicht ausschließen, dass die USA plötzlich wieder als Vormacht im Bündnis auftreten.

Donald Trump verliert aber nach unserer Erfahrung das Interesse am Weltgeschehen, wenn es sich nicht nach seiner Kurzzeitaufmerksamkeitsspanne entfaltet. Nicht zu vergessen ist die tiefenscharfe Behauptung seines jungen Vize J.D. Vance, dass Putin es nicht gewagt hätte, 2022 die Ukraine zu überfallen, wenn der Präsident nicht Joe Biden, sondern Trump geheißen hätte – aus Angst vor ihm nämlich. So infantil stellen sie sich im Weißen Haus  Weltpolitik vor.

In China gab es dereinst einen Kindkaiser. Donald Trump ist ein Kindpräsident. Er will unbedingt den Nobelpreis gewinnen, aber wofür? Dass Putin weiterhin macht, was er will, weil er Amerika nicht ernst nehmen muss? Dass Netanyahu macht, was er will, egal was Trump will?

Auch Viktor Orbán und Robert Fico kommen dem US-Ideal einer autokratisch geführten Nation, die den Rechtsstaat stranguliert und die Medien gängelt, äußerst nahe. Nur sind Ungarn und die Slowakei genau die beiden EU-Staaten, die unbeirrt Gas und Öl aus Russland beziehen. Also verlangen die USA, dass diese beiden Staaten von ihrem Sonderweg abgehen. Oder ist das nur ein Vorwand, weil Donald Trump keine Lust hat, neue Sanktionen über Russland zu verhängen?

Ob Donald Trump meint, was er sagt, oder nur etwas sagt, damit er keine Konsequenzen gegen Russland ziehen muss, werden wir in den nächsten Tagen erfahren. Aber unabhängig davon sollte die Europäische Union darüber nachdenken, ob Ungarn und die Slowakei nicht aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden sollten. Oder wie viel offene Verachtung lässt sich die EU gefallen?

Veröffentlicht auf t-online.de, am Montag.

Strampeln gegen miese Stimmung

Es passt ins trübe Bild, dass die deutsche Fußballnationalmannschaft das Spiel gegen die Slowakei kläglich verloren hat, das sie nach unserer Erwartung gewinnen musste. An wem hat es gelegen? Der Trainer hatte sich ein System ausgedacht, dass die Spieler nicht anwenden konnten, zumal sie ziemlich außer Form waren, was zu Saisonbeginn ungewöhnlich ist. Nichts passte zusammen, daran lag es.

Man soll ja Vergleiche nicht überstrapazieren, aber es fällt auf, dass den Deutschen momentan nicht viel gelingt. Die Bahn fuhr neulich pünktlich in Berlin ein – noch nicht mal auf prinzipielles Zuspätkommen kann man sich verlassen. Unsere Prachtautos will niemand mehr kaufen, wer hätte das gedacht. Die Wirtschaft stagniert und sucht die Verantwortung nicht unbedingt bei sich selber. Drei Millionen Menschen sind arbeitslos, oha. Und die Regierung mag strampeln, so viel sie will – auf einen grünen Zweig kommt sie deswegen noch lange nicht.

Der Mangel an Vertrauen lässt sich an den Meinungsumfragen ablesen. CDU/CSU stagnieren, die AfD rückt der Union bedenklich auf die Pelle. Nackte Zahlen sagen aber nichts über die Grundstimmung im Lande aus. Ist es Wut über die regierende Mitte? Schadenfreude über den Aufstieg der Rechten? Melancholie über die Vielzahl der Krisen und ständigen Veränderungen?

Salomonisch lässt sich deuten: Wahrscheinlich kombiniert sich hier eine Gemengelage zusammen, die sich mittlerweile verselbständigt hat und sich nicht mehr leicht auflösen lässt. Stimmung und Lage passen sich einander an – mies, eher pessimistisch, einigermaßen beklommen und empörungsbereit auf der Suche nach Schuldigen für das schale Lebensgefühl.

Darin liegt ein Grund dafür, dass die Bundesregierung und ihr Bundeskanzler für ihre Bemühungen nicht belohnt werden. Es läuft  innenpolitisch nicht rund, das stimmt, aber es fällt eben auch auf, dass nicht nur die Medien darauf lauern, dass sich diese Koalition genauso zerlegt wie die unselige Ampel vor ihr. 

Besonders produktiv ist diese negative Erwartungshaltung wohl kaum. Nun kann man sagen: Ja, so sind sie, die Menschen und vor allem die Medien. Und warum sollten sie nicht vom Misslingen ausgehen? Doch gibt es zwei Gründe, die gegen eine fatale Wiederholung der raschen Selbstzerstörung sprechen. Erstens verfügt diese Regierung über viel Geld, während das Bundesverfassungsgericht der Ampel den Geldhahn zugedreht hatte. Und Friedrich Merz macht zumindest außenpolitisch eine ungewöhnlich gute Figur, was man von Olaf Scholz leider nie sagen konnte.

Unter anderen Umstände würden wir vermutlich sogar konzedieren: Ist ja auch nicht einfach, mit dem Irrlicht im Weißen Haus und den Zöllen und dem Krieg in der Ukraine und auch dem im Gaza. Wer sich in dieser Krisenserie einigermaßen behauptet, und das kann man der deutschen Regierung zugute halten, kann so schlecht nicht sein.

Unter anderen Umständen würde man vermutlich auch guten Willen unterstellen, das Konfliktpotential innenpolitisch zu entschärfen. Viel wäre ja schon gewonnen, wenn die Koalition beim Umbau des Wohlfahrtstaates so pragmatisch vorginge, wie sie es sich vorgenommen hat. Immerhin steht der Haushalt, zu dem die Ampel nicht mehr imstande war. Und gegen die schlechte Stimmung könnte man ja auch darauf hoffen, dass sich die Investitionen in die Infrastruktur im Herbst freundlich auf das Wirtschaftswachstum auswirken.

Für jedes zarte Pflänzchen Hoffnung muss man schon dankbar sein. Und zugleich auf Schlimmes gefasst sein, auch das ist wahr, wenn man an die Wahl in einem Jahr in Sachsen-Anhalt denkt oder auch an die in Baden-Württemberg kurz vorher. Wenn zwei Ministerpräsidenten abtreten, erscheint vieles möglich.

Am kommenden Sonntag sind erst einmal Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen. Eigentlich kein Großereignis, aber wie die Dinge liegen, wird jede Wahl, zumal im größten Bundesland, symbolisch aufgeladen. Wo landet die Union, wie hoch kommt die AfD? Die SPD, die einst identisch mit NRW war, vor allem im Ruhrgebiet, wird sich freuen, wenn sie vor der AfD landet.

Auch diese Wahl wird sich auf die Berliner Verhältnisse auswirken, das versteht sich. Mal schauen, wieviel Rechtfertigung Friedrich Merz abgenötigt wird. Die deutschen Fußballer haben immer mal wieder gewonnen – glanzlos und damit der Stimmung im Lande entsprechend.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Geh nicht zu weit, wir brauchen dich

Zehn Jahre ist es her, dass dieser Satz fiel: Wir schaffen das. Mir gefiel er damals. Aus ihm sprach Humanität und er zierte die deutsche Bundeskanzlerin, die für Sentimentalität  nicht bekannt war. Er löste eine Welle der Hilfsbereitschaft aus, bei der das, was wir die Zivilgesellschaft nennen, die Geflüchteten mit dem Nötigsten ausstatteten und ein freundliches Bild der Deutschen draußen in der Welt vermittelten, das ungewohnt war. Niemand hätte damals für möglich gehalten, dass daraus eine nationalkonservative Partei erstehen könnte, die unsere Demokratie mit Verachtung straft.

Heute wissen wir, dass damals die Gegenfrage ausblieb: Wie schaffen wir das? Und wer seid ihr, die da jetzt da plötzlich hier sind? 

Überhaupt finde ich, dass über die Jahre eine bestimmte politische Feinarbeit verloren gegangen ist. Willy Brandt beherrschte diese Dialektik noch: Wandel durch Annäherung praktizierte seine Entspannungspolitik und richtete sich auf lange Sicht ein. Helmut Schmidt erfand Ender der 1970er Jahre den Nato-Doppelbeschluss, der darauf hinauslief: Stellt ihr eure SS-20-Raketen auf, stellt das atlantische Bündnis seine neuen Mittelstreckenraketen auf. Auch Gerhard Schröders Agenda 2010 verband Reformen auf dem Markt mit Reformen in der Sozialpolitik.

Leider blieb diese Doppelspiel der Langzeitkanzlerin Angela Merkel fremd. Deshalb überließ sie es erst einmal den Ländern und den Behörden, mit 1.091.894 Geflüchteten im Jahr 2015 fertig zu werden. Im Jahr darauf entstand das Abkommen mit der Türkei, das die Zahl der Geflüchteten denn auch wirklich dramatisch reduzierte. Es hielt aber nur bis ins Jahr 2020. 

Es hätte länger halten können, länger halten müssen. Die Türkei versprach sich von diesem Abkommen Annäherung an die Europäische Union, was legitim war. Dann aber kam dieser seltsame Putsch im Jahr 2017, den Präsident Recep Tayyip Erdogan zum ziemlich brutalen Umbau der Demokratie in eine Autokratie nutzte. Die EU, obwohl sie auf die Hilfe der Türkei bei der Kontrolle über die Einwanderung angewiesen war, bedeutete  Erdogan: So nicht, so wollen wir dich nicht in unserem Klub haben. Deshalb verlor er das Interesse am Abkommen.

Wenn es aber deutschen Bundeskanzlern möglich gewesen war, Verträge mit der Sowjetunion und deren Verbündeten mitten im Kalten Krieg zu schließen, wäre es doch auch angebracht gewesen, stärkeren Einfluss auf den Nato-Partner Türkei auszuüben – zum Beispiel mit der Botschaft: Geh nicht zu weit, wir brauchen dich und die EU steht dir im Prinzip offen, aber halte dich an unser Abkommen und die Grundregeln der Demokratie.

Das dialektische Doppelspiel blieb aber damals aus. Vor allem aus heutiger Sicht lässt sich feststellen, dass der deutsche Moralismus damals den deutschen Interessen in die Quere kam.

Zur Wahrheit gehört, dass es auch die anderen Länder der Europäischen Union an Solidarität fehlen ließen. Jeder wollte ab 2015 seines machen, jeder hielt seine Grenzen dicht, jeder freute sich darüber, dass die Geflüchteten nach Deutschland strebten und ließ sie gerne durchziehen. Jeder der damals noch 28 Staaten hätte eine gewisse Zahl an Geflüchteten aus den türkischen Lagern aufnehmen müssen, dachte aber nicht daran. Deutschland und Frankreich hätten in jenen Tagen erheblich mehr Druck auf die Abtrünnigen ausüben müssen, was sie aber nicht taten. Den Schaden haben heute alle.

In England jagt Nigel Farage, der den Brexit organisierte, die Labour-Regierung vor sich her. In Österreich stellt die rechte FPÖ schon jetzt die stärkste Fraktion im Parlament. In Frankreich lauert Marine LePen und der Rassemblement National auf ihre Chance nach Emmanuel Macron. In Polen kämpft Donald Tusk fast verzweifelt gegen die Wiederkehr der antieuropäischen Nationalkonservativen. 

Die Parteien der Mitte haben sich in vielen Ländern unglaubwürdig gemacht, weil sie Versprechungen eingingen, die sie nicht einhalten konnten. Mitten in diesem Experiment befindet sich gerade die Regierung Merz/Söder/Klingbeil, die ihre Abwehr illegaler Einwanderung besonders an der Grenze  zu Österreich organisiert und Straftäter auch nach Afghanistan ausfliegt. 

Es sieht nicht danach aus, als ob sich auf diese Weise die Kontrolle über die Immigration zurückgewinnen lässt. Entscheidend sind nach aller Erfahrung die Außengrenzen. Und wirksam war nun einmal das Abkommen mit der Türkei.

Auf Dauer kommt die deutsche Bundesregierung gar nicht daran vorbei, über ein neues Abkommen nachzudenken. Sie muss sich das dialektische Denken angewöhnen.

Die europäische Rechte ist da schon weiter. Mit Faszination schaut sie nach Amerika, was sich dort ereignet. Ihr Modell ist Donald Trump radikaler Umgang mit illegalen Einwanderern. Vermummte Beamte aus dem Heimatschutzministerium und dem FBI greifen auf den Straßen der Städte zu, führen sie ab und fliegen sie nach El Salvador oder Guantanamo aus oder stecken sie in Übergangslager. 

In Österreich und Deutschland redet die Rechte von Remigration, womit die Entfernung der Eingewanderten gemeint ist. Der amerikanische Präsident macht vor, wie Remigration aussehen kann.

Zehn Jahre her ist es, dass Angela Merkels schöner Satz fiel. Zehn Jahre sind eine lange Zeit. Deutschland hat sich in dieser Spanne verändert, die Demokratie ist ins Schlingern geraten, sie steckt in Legitimationsproblemen. Die Regierung Merz/Söder/Klingbeil ist die letzte Koalition der Mitte in Europa, die Kontrolle durch Kompetenz zurückgewinnen will. Dreieinhalb Jahre bleiben ihr zu erreichen, woran etliche andere europäischen Länder so gut wie gescheitert sind.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Immer weiter, immer weiter

Die ersten israelischen Soldaten sind in den Ausläufern von Gaza City gesichtet worden, in jener Stadt, in der die nächste Offensive ansteht. Die Menschen dort sollen sich aus dem Staub machen, damit sie nicht zu zivilen Opfern werden, wenn der Angriff startet, vermutlich Anfang September.. Dazu fordert sie die israelische Armeeführung auf.

Über die dort herrschenden Verhältnisse hat sich eine Gruppe Wissenschaftler, auf die sich die Vereinten Nationen verlassen, vor kurzem informiert. Sie kommt zur Schlussfolgerung, dass mindestens eine halbe Million Einwohner unter Hungersnot und akuter Mangelernährung leidet. Die anderen zwei Millionen Menschen leiden „nur“ Hungers, was nach zwei Jahren Krieg und der israelischen Versorgungs-Blockade kein Wunder ist.

Was sagt die israelische Regierung zu dieser Einschätzung? Es handle sich um „eine grobe Lüge“, sagte Premierminister Benjamin Netanyahu routiniert. Er nennt sämtliche Vorwürfe wahlweise Lüge oder Hamas-Propaganda und weist das Offensichtliche weit von sich – dass Israel Hunger als Waffe einsetzt.

Netanyahu ist zum dritten Mal Ministerpräsident und gehört seit 30 Jahren zu den prägenden Figuren im Nahen Osten. Schon immer bestand sein Geschick darin, dass er sich als Retter Israels vor seinen Feinden darstellen konnte. „König von Israel“ nennen ihn seine glühenden Verehrer. Er lässt sich gerne schmeicheln.

Die Frage ist nur, ob er, der große Antreiber seit dem Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023, nicht selbst ein Getriebener ist. Und damit ist nicht einmal das schwebende Verfahren wegen Korruption im Amt gemeint.

Antreiber ist Netanyahu in der Vielzahl der Kriege, die Israel seit Oktober 2023 geführt hat. Im Gaza. Im Libanon. In Iran. In Syrien. Gegen die Houthis. Netanjahus Verdienst wird es bleiben, dass er die Feinde Israels gedemütigt und geschwächt hat. So ist Israel zur militärischen Vormacht im Nahen Osten aufgestiegen. Eine erstaunliche Wendung in dieser Region.

Was Netanjahu nicht ist, könnte sich auf mittlere Sicht zum Nachteil Israels auswirken: Er ist kein großzügiger Sieger.

Wenn er nur wollte, könnte er, mit den USA im Rücken, den Nahen Osten neu ordnen. Dazu würden zum Beispiel diplomatische Beziehungen zu Saudi-Arabien gehören. Eine Zäsur wäre das.

Rachsüchtige Sieger, die nicht zu Frieden finden, sind in der Geschichte oft genug in die Sackgasse geraten. Ihre Überlegenheit blieb nicht von Dauer und schlug irgendwann um. Die lange Feindschaft zwischen Deutschland und Frankreich bietet Anschauungsmaterial für die Dialektik, wie ein Sieg in eine Niederlage münden kann – und auch für überraschende Befriedung, wenn sich die richtigen Anführer finden.

Ob noch die Mehrheit der Israelis hinter ihrem Premier steht, lässt sich nur schwer einschätzen. Die Riesendemonstration gestern in Tel Aviv aus Protest gegen die geplante Offensive im Gaza und die Vernachlässigung der Geiseln war eindrucksvoll, keine Frage. Ins Gewicht fällt auch, dass Armee und Geheimdienst vergeblich vor einer Invasion Gaza warnten.

Netanjahu aber lässt sich weder von den politischen Gegnern noch von Generälen reinreden. Er glaubt, vielleicht zu recht, dass die Mehrheit der Israelis hinter ihm steht. Deshalb macht er unbeirrt weiter und weiter.

Solange der Krieg im Gaza andauert, bleibt er Ministerpräsident. Offene Erpressung üben zwei nationalkonservative Minister aus; sie heißen Itamar Ben Gvir und Belazel Smotrich. Beide treten für die Gesamtbesiedlung des Westjordanlandes ein und für die Annexion Gazas. Ihr Ziel ist ein Großisrael, das Teile Libanons und Syriens umfasst, auch Teile Jordaniens. Palästina gibt es aus ihrer Sicht nicht. Die Palästinenser haben in dieser Logik kein Bleiberecht im erweiterten Israel.

Auch Antreiber können Getriebene sein. Netanyahu steht unter dem Diktat der wilden, bunten radikalen Regierung, die ihm die Macht sichert. Er kann es sich nicht leisten, dass ihm auch noch die beiden radikalen Minister den Rückken kehren. Denn zwei der für israelische Verhältnisse typischen Kleinst-Klientelparteien haben das schon Kabinett verlassen, beide aus dem gleichen Grund.

Da Israel, ein Land mit 6,8 Millionen Einwohnern, heute Soldaten und Reservisten für die Offensive im Gaza, für die besetzten Teile Libanons und an der Grenze zu Syrien braucht, sollen auch die Kinder aus orthodoxen Familien Wehrdienst leisten – wie alle anderen Israelis. Aber diese Neuerung führt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen und zerreißt das Land noch mehr, als es ohnehin schon zerrissen ist. 

Die Kinder aus orthodoxen Familien waren bisher vom Dienst in der Armee befreit. Sie durften ihr Leben dem Studium der hebräischen Bibel widmen. In den Anfängen Israels waren sie nur eine winzige Minderheit. Heute aber umfassen die orthodoxen Familien eine Million Menschen, das sind 13 Prozent aller Israelis.

80 000 Thora-Schüler zwischen 18 und 24 kommen für den Wehrdienst in Frage. 2 940 haben sich freiwillig einschreiben lassen. Die Armee benötigt aber jährlich mindestens 4 800 Rekruten aus diesen Familien, sagt Brigadegeneral She Tayeb, damit die Armee den Aufgaben gewachsen bleibt. 

So zwingt der Krieg Netanyahu zu einem Vorgehen, das er bislang aufs Schärfste abgelehnt hat. Das Ende der Sonderregelung ist ein Einschnitt in der Geschichte Israels und bringt die schlagkräftige Gemeinschaft der Orthodoxen gegen ihren König auf. Deren Parteien dürften bei der nächsten Wahl, spätestens im Herbst 2026, für ihren kompromisslosen Widerstand belohnt werden.

Netanjahus Regentschaft spaltet das Land, kann man sagen. Oder aber ist Netanjahus Regentschaft Ausdruck dafür, wie gespalten das Land ist? Für beide Varianten finden sich gute Gründe.

Aber gibt es eine Alternative? Benny Gantz war Verteidigungsminister im Kriegskabinett. Vor einem Jahr trat er wegen der Gaza-Kriegsführung zurück. Nun unterbreitet er den Vorschlag, eine Regierung der nationalen Einheit zu bilden. Sie soll die Verhandlungen mit der Hamas führen und die Geiseln endlich befreien. Klingt gut, wäre vielleicht sinnvoll, würde das zerrissene Land womöglich etwas mehr einen.

Netanyahu aber dürfte das Angebot ablehnen. Er müsste ja damit rechnen, dass seine Regierung von der Opposition abhängig würde. Kein Zweifel, dass ihm diese Alternative gegen den Strich geht.

Morgen, am Dienstag, wird das Kabinett tagen und voraussichtlich den Plan für die Invasion Gazas billigen. Aus Katar liegt, unter Vermittlung der USA und Ägypten, wieder ein Abkommen zur Waffenpause vor, das angeblich die Hamas unterzeichnen will. Auch darüber wird geredet werden.

Was für eine Alternative: Annexion oder Waffenpause. Wofür sich die Hungernden im Gaza entscheiden würden, liegt auf der Hand. Benjamin Netanyahu aber wird seinen Weg weitergehen.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Er mag mich und ich ihn sowieso

Wenn zwei Figuren der Weltpolitik nach einem Treffen Andeutungen über eine Einigung fallen lassen und von Weiterungen munkeln, dann kommt unweigerlich Misstrauen auf, dass sie zu Lasten aller anderen geheime Vereinbarungen getroffen haben könnten.

Wladimir Putin muss man aus Erfahrung alles zutrauen. Er ist der Machtpolitiker alten Schlags, der seinen Interessen kaltblütig folgte. Der Westen ist sein Feind, was aber keineswegs einschließt, dass er mit dem Feind keine Deals vereinbaren würde. Aus seiner Sicht war der Hitler-Stalin Pakt 1939 ein voller Erfolg.

Donald Trump ist grundsätzlich zu allem fähig. Er nimmt jede Form des Politischen persönlich. In seiner Verblendung, dass er kraft seiner Persönlichkeit die Macht der Interessen überwinden kann, ist er unübertroffen. Erinnert sich noch irgendjemand an das lächerliche Treffen mit Kim Jong-un, dem Monsterbaby aus Nordkorea, im Februar 2019? „Er mochte mich. Ich mochte ihn. Wir kamen sehr gut miteinander aus,“ sagte Trump hinterher.

Er mag mich, ich mag ihn sowieso, sagte Trump sinngemäß nach dem Treffen in Anchorage über Putin, den er ab jetzt nur noch Wladimir nennt, wie rührend. Liegt in dieser demonstrativen Sentimentalität das Ergebnis dieses pompösen Weltereignisses – in der Art des Handschlags, dass sie gemeinsam im Lincoln aus den US-Stützpunkt fuhren, in dem Bilderhagel zweier lächelnd einander zugeneigter Männer? Ansonsten nichts passiert?

Groß in gefühlter Atmosphäre, klein an politischer Substanz. Und die Ironie daran ist, dass wir in Europa und vor allem die Ukraine froh darüber sein müssen, wenn es dabei bleibt.

Ein Rätsel aber ist weiterhin, weshalb Donald so viel Rücksicht auf Wladimir zu nehmen bereit ist. Die Inszenierung von Anchorage mag Trumps Gefallen finden, blendet jedoch bestimmt nicht Putin, der weiß, wie sich mit Symbolpolitik Bedeutung simulieren lässt. 

Für ihn zählt, dass er weniger denn je Konsequenzen für seine Kriegsführung befürchten. In seiner Einschätzung, dass der Westen dekadent ist und Amerika von nun an Europa sich selber überlässt, kann er sich bestärkt sehen. Ihm bleibt freie Hand in der Ukraine, darauf kommt es ihm an. Dieses Ergebnis ist ihm wichtiger als das Auftauchen auf der Weltbühne, das natürlich auch die russischen Medien bis zum Abwinken ausschlachten.

Nicht einmal Trump gibt vor, dass nach Alaska die Geschichte neu geschrieben werden muss. Ersatzweise labt er sich in der Schmeichelei, dass nun auch Putin bekannt hat, dass der Krieg in der Ukraine unter einem Präsidenten Trump ausgeblieben wäre. Für einen Zyniker wie Putin ist so ein abgeschmacktes Zugeständnis ein leichtes Spiel.

Vielleicht finden die Historiker irgendwann heraus, was Trump im Umgang mit Russland hemmt. Denn eigentlich bewundert dieser Präsident Autokraten wie Kim Jong-un oder Xi Jinping oder Putin für ihre Stärke und verachtet Verlierer. Doch Putin ist alles andere als ein Sieger.

Denn wo er Vakanzen nutzen wollte, wie im Nahen Osten nach dem Rückzug der USA, als er sich in Syrien und Iran als Helfer anbot, geht die Zeit über Russland hinweg. Wo er glaubte, ein Land rasch zu annektieren, in der Ukraine, hat er sich als miserabler Großstratege erwiesen. Und im übrigen erlitt er gerade die Schmach, dass Trump zwischen Armenien und Aserbeidschan vermittelte – zwei Ländern im eigenen Vorhof.

Was also bleibt? In einem Interview hat Trump wieder gesagt, was er immer mal sagt, das Weitere hänge nun von Wolodymyr Selenskji ab. Eigentlich eine Kapitulation, da Donald dem Wladimir keinerlei Zugeständnis abringen kann.

Der Krieg geht weiter. Paradoxerweise liegt darin eine gute Nachricht für die Ukraine. Der befürchtete Deal auf ihrem Rücken bleibt aus – bis auf weiteres. Selenskji hat Recht behalten, dass Putin zu keinerlei Konzession bereit ist und ja auch nicht dazu gezwungen wird. 

Das Kerneuropa um Deutschland und Frankreich verhielt sich im Vorfeld von Anchorage bravourös. Friedrich Merz und die anderen müssen weiterhin das fast Unmögliche verfolgen, nämlich Einfluss auf Trump zu üben, so dass er weder Sanktionen gegen Russland aufhebt noch die militärische Unterstützung für die Ukraine aufgibt. Zugleich müssen sie Vorkehrungen für den Fall treffen, dass Trump das Interesse an der Ukraine verliert, weil er nicht der Friedensstifter sein darf, der er unbedingt sein will.

Auf Trump war bis jetzt schon kein Verlass und ist es fortan noch weniger. Was nun aus der Kapitulation vor Wladimir folgen wird, weiß niemand, wahrscheinlich der amerikanische Präsident auch nicht. So lange er von dem Blendfeuerwerk in Anchorage beeindruckt den darf, muss er kein neues aufziehen. Und danach?

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.

Kanzler allein zu Haus

Der Kanzler hat seine Israel-Politik verändert, gut so. Die Ankündigung der Regierung Netanyahu, Gaza ganz zu besetzen und ihre Absicht, die Bewohner von dort zu vertreiben, zwingt förmlich zum Umdenken. Hätte Friedrich Merz so getan, als wäre nichts passiert, hätte er sich unglaubwürdig gemacht. Vor allem England und Frankreich wunderten sich schon länger über den deutschen Langmut.

Die Mehrheit der Deutschen hält übrigens das Waffenembargo für richtig. Dieser Umstand ist erstaunlich, weil ansonsten die Werte für die Regierung und den Kanzler mal wieder bergab gehen. Daraus könnte man schließen, dass die Stimmung labil ist und sich morgen verändern kann.

Die CSU hängt an Umfragen wie der Junkie an der Nadel. Diesmal ließ sie in ihrem Feinsinn wissen, sie sei in die Entscheidung des Kanzlers nicht eingebunden gewesen – will sagen, Markus Söder wartet merkelmäßig ab, wie der Wind weht und weht dann mit. 

Die SPD nimmt übel, dass ihre Kandidatin für das Verfassungsgericht resignierte. Lars Klingbeil hat vermutlich eine Meinung über Israels Vorgehen im Gaza, behält sie aber für sich. Im Schweigen war schon Olaf Scholz groß.

Empörung rührt sich in der CDU. Nun gut, es sind zumeist Hinterbänkler, deren Namen jenseits ihrer Fraktion keiner kennt. Darunter ist aber auch Roderich Kiesewetter, Oberst a.D., geübt in Talkshows als Erklärer des Ukraine-Krieges. Nun ist es aber so, dass Kiesewetter zu seinem Unglück bei der Verteilung herausgehobener Posten leer ausgegangen war. Dass ihn das Übergehen schmerzt, ist verständlich. Dass er die Lücke jedoch als externer Pressesprecher Benjamin Netanjahus füllt, geht zu weit.

Kiesewetter hält dem Kanzler entgegen, Deutschland beuge sich „einem antisemitischen Mob der Straße und der gnadenlosen Hamas-Propaganda“. So bleibe die deutsche Staatsraison, die Israels Existenz einbedenkt, „eine leere Hülle“. Dieses Echo schallt auch aus Israel herüber.

Menschen mit Phantom-Schmerzen gehören in den Umkreis jedweder Regierung. Was jedoch in diesen Tagen auffällt, ist die Vielfalt der Besserwisser. Das lauernde Beobachten, die empörungsbereite Gemütswallung, die das Lande beherrscht, greift auf die Regierungspartei CDU über. Ihre Bereitschaft, den Kanzler zu tragen, besonders wenn es kritisch wird, war einst ihr Markenzeichen.Jetzt sinkt sie allmählich auf SPD-Maß. 

Man muss den Kanzler nicht bemitleiden. So sind nun mal die Verhältnisse, so geht es heute zu in der Politik. Solidarität oder auch Loyalität sind Schrumpfwerte. Auf den pragmatischen Vorsatz der zuverlässigen Zusammenarbeit, von Klingbeil und Söder beschworen, kann sich Merz nicht unbedingt verlassen. Diese Einsicht wird ihm nach bald 100 Tagen regieren nicht verborgen geblieben sein.

Ich persönlich finde, dass Friedrich Merz eine gute Figur abgibt. Er übt das Amt mit einiger Selbstverständlichkeit aus und hat rasch Autorität auf internationaler Bühne gewonnen. Wäre die Unruhe im Land weniger groß und die Zahl der Krisen geringer, wäre Merz ein populärer Kanzler.

Aber die Umstände, sie sind nicht so. Die Frage ist nur, was daraus folgt.

Umfragen haben zu allen Zeiten eine gewisse Rolle gespielt. Zur Selbstbeweihräucherung. Als Chance, den Kanzler zu kritisieren. Heute schauen die Parteien wie die Kaninchen auf die Schlange, wenn die Demoskopen neue Zahlen haben – vor allem für die AfD.

Dabei verhalten sich Union und AfD wie kommunizierende Röhren. Geht die Union hoch, geht die AfD runter. Geht die Union runter, geht die AfD hoch. Die Erkenntnis ist nicht neu. Neu ist nur, dass Regierungsparteien ihr Verhalten davon abhängig machen.

Unser politisches System war mal groß darin, neue Parteien zu integrieren. Der Anpassungsdruck wirkte einst auf die Grünen, die auch mal ein räudiger Haufen waren. Damit ist es vorbei. Bei der Rechten wirkt die Kraft nicht – unter anderem deswegen, weil die Parteien der Mitte sie nicht mitmachen lassen.

Die Entscheidung kann man für falsch halten, muss es aber nicht. Nur sollte dann die Mitte, ohnehin geschrumpft, dauerhaft auf Volldampf schalten und sich an ihre Vorsätze halten. Ja, die Regierung hat groß gedacht und sich solides Regieren vorgenommen. Ja, sie hat gut angefangen. Ja, es kommen Fehler vor, wie die ausgesetzte Wahl der Bundesrichter, was denn sonst.

Die Ampel stritt sich wie die Kesselflicker. Diese Regierung besteht aber aus einem Solisten, dem Kanzler, und periodisch abtauchenden Koryphäen wie Lars Klingbeil und Markus Söder. Aber ob sie wollen oder nicht, sie hängen drin, sie werden mitverantwortlich gemacht, wenn etwas unrund läuft. Sie gehen mit unter, wenn die Mitte untergeht.

Seit 100 Tagen ist die Regierung an diesem Donnerstag tätig. In der Außenpolitik hat Deutschland an Gewicht gewonnen. In der Innenpolitik gibt es Besserungsbedarf. Auf den Kanzler kommt es jeweils an, schon wahr, aber auf die beiden anderen Herren eben auch.  

Veröffentlicht auf t-online.de, am Montag.