Fünf Montage lang war ich gespannt, aufgeregt, fieberte ich „The Last Dance“ entgegen. Netflix hatte sich darauf kapriziert, die zehnteilige Serie über Michael Jordan und die Chicago Bulls im Zweierpack anzubieten, anstatt wie sonst alle Folgen auf einmal anzubieten. Dafür gibt es einen Grund. Die Rechte liegen beim amerikanischen Sportsender ESPN, der die Serie in Amerika ausstrahlte. Keine andere Sportdokumentation hatte je so viele Zuschauer.
„The Last Dance“ nannte Phil Jackson die Saison 1997/98. Noch einmal spielten sie zusammen, Michael Jordan und Scottie Pippen, Dennis Roman, Toni Kukoc und Steve Kerr und die anderen. Danach würde es vorbei sein, wie es Jerry Krause, der kleine, runde, gemeine Generalmanager der Bulls Anfang der Saison ankündigte. Egal, ob sie zum sechsten Mal die Meisterschaft gewännen oder nicht, die Mannschaft würde zerschlagen werden. Die Drohung galt in erster Linie Phil Jackson, dem Trainer.
Für diesen Tanz eröffnete Michael Jordan einem Fernsehteam exklusiven Zugang. 10 000 Stunden an Material entstanden, dazu kommt Ungesehenes aus den Jahren zuvor, eine Schatztruhe an Aufnahmen aus dem innersten Zirkel, aus dem Training, kleine Biographien über Pippen, Rodman, Kerr und Jackson. Und immer wieder wilde Szenen unter dem Korb und immer wieder Michael Jordans heraushängende Zunge, wenn er in die Luft steigt, stehen bleibt, während sich sein Gegenspieler schon wieder dem Boden nähert und dann verlässt der Ball seine Hand und swutsch, zischt er durchs Netz. Im Mittelpunkt des ganzen Kunstwerks steht er, der Größte aller Großen, der grandiose Hüter seines Erbes und seines Rufs, bekannt auf der ganzen Welt und nie in Vergessenheit geraten. Jordan behielt sich vor, und durfte es ganz selbstverständlich, dass das Öffnen der Schatztruhe von seiner Zustimmung abhing. Von seiner und von sonst niemandens.
Er erteilte sie im Sommer 2016. Gerade hatten die Cleveland Cavaliers den NBA-Titel geholt, der in amerikanischer Bescheidenheit Weltmeisterschaft heißt. LeBron James holte seinen dritten Ring. Er gilt als der Beste seiner Generation, er hat von Anfang an die Nummer 23 getragen , die Nummer, die MJ gehörte. Er suchte den Vergleich mit MJ, er ließ sich davon anspornen und vorantreiben, er misst sich an ihm. So halten es die Großen, sie definieren ihre eigenen Herausforderungen, sie erfüllen sich ihre eigenen Träume.
Zu unserem Glück fühlte sich Michael Jordan herausgefordert. Die Gefahr, dass James ihn einholt, ist zwar gering. Jordan gewann 6 Ringe, James wechselte in der Saison 2016/17 nach Los Angeles zu den Lakers, um ihn wurde eine neue Mannschaft aufgebaut, die in dieser Corona-Saison beste Chancen auf den Titel gehabt hätte, aber er wird 36, allzu viel Zeit bleibt ihm nicht mehr. MJ jedenfalls muss sich gedacht haben: Wird Zeit, dass ich mich in Erinnerung bringe. Er erteilte sein Placet und aus dem Irrsinnsmaterial entstand ein Meisterwerk der Sportdokumentation, eine Hagiographie, das auch, aber vor allem die Geschichte des Basketballs von einer peripheren Sportart zu einem Milliardengeschäft.
Jordan kam 1984 in die NBA. Damals war Basketball verschrieen als Sport der Schwarzen (so hieß das nun mal in jenen Tagen), die gerne koksten und von Groupies umgeben waren, die sich Kinder machen ließen, weil sie damit ausgesorgt hatten. So unvorteilhaft war der Ruf, so vernichtend das Image, zumindest für die Weißen (so hieß das nun mal in jenen Tagen), die Baseball oder Football vorzogen, eben den Sport, den Weiße dominierten. Bei Basketballspielen waren die Hallen selten ausverkauft, Fernsehübertragungen eine Seltenheit. Das begann sich schon mit Magic Johnson und Larry Bird zu ändern, vor allem aber mit MJ.
Drei Dinge kamen zusammen, damit sich der Basketball rehabilitieren und zu einem typisch amerikanischen Geschäft werden konnte:
- Eine kleine, ehrgeizige Klitsche in Kalifornien strebte damals auf den Markt und suchte dafür eine Galionsfigur. Sie lud den jungen Jordan ein, der keine Lust hatte und lieber einen Vertrag mit Adidas eingegangen wäre, aber sein Vater sagte ihm, lass uns hinfahren und ihnen eine Chance geben. So unterschrieb der unwillige junge Herr Jordan mit Nike einen Vertrag, der zur Grundlage für sein Vermögen geworden ist, mit dem Gehalt der Bulls als Beigabe. Das erste Paar „Nike Air Jordan 1S“ ging vor ein paar Tagen bei Sotheby’s für eine halbe Million Dollar an einen Bieter, dem Fünffachen des Schätzpreises.
- Ein kleiner Spartensender in Connecticut drängte damals ins nationale Geschäft. Ein NBC-Reporter namens Bill Rasmussen gründete ihn und nannte ihn kurz ESPN; Ghetty Oil kaufte sich noch vor dem Start ein. Der Sender war gedacht als private Konkurrenz für die traditionellen Kanäle und die Sportseiten der Tageszeitungen. ESPN erwarb unter anderem die Rechte zur Übertragung von Basketballspielen. Übrigens gab der Sender für den neuesten Vertrag 24 Milliarden Dollar aus.
- 1984 trat ein neuer Geschäftsführer sein Amt bei der NBA an: David Stern, ein fintenreicher, kluger, umsichtiger Mann, der dafür sorgte, dass die 23 Mannschaften auf 30 aufgestockt wurden und sich das Geschäft professionalisierte. Dazu fügte sich, dass Michael Jordan, der aus North Carolina stammt, bei der Lotterie 1984 von den Chicago Bulls gezogen wurde.
Jordan war nie so untadelig, wie ihn die Legende haben wollte. Glaubwürdig ist aber, dass er nicht kokste und von außerehelichen Kindern weiß ich auch nichts. Er wollte immer nur eines: gewinnen, gewinnen, gewinnen; so viele Ringe wie möglich; der Größte aller Zeiten werden. Eine Offenbarung war er schon als Rookie, als Anfänger. Allerdings dauerte es einige Jahre lang, bis eine konkurrenzfähige Mannschaft entstanden war. Es dauerte auch, bis die Bulls 1991 zum ersten Mal die Detroit Pistons schlugen, die überragende Mannschaft, die Nemesis, die den Bulls zweimal die Grenzen aufzeigten, eine Mannschaft, die mit allen Wassern gewaschen war, mit vielen Tricks und noch mehr Tücke und Willenskraft andere Teams weniger besiegte, als in den Wahnsinn trieb. Isiah Thomas war ihr Star und die Inkarnation des schmutzigen Basketballs, den seine Mannschaft aus Mangel an überragendem Talent bevorzugte. Erst als die Bulls Dennis Rodman den Pistons wegnahmen, den überragenden Verteidiger, waren sie komplett – die vielleicht beste Mannschaft aller Zeiten, auch wenn solche Superlative immer ebenso falsch wie richtig sind.
Ohne Scottie Pippen wäre MJ nicht MJ geworden. Ohne Dennis Rodman hätten sie wichtige Spiele verloren. Ohne John Parsons und Steve Kerrs Dreier wären sie nicht in Endspiele gekommen. Jordan war klug genug, seinen Mitspielern in entscheidenen Momenten zu vertrauen. Er zog zwei Gegenspieler auf sich und bediente Paxson und Kerr, die frei standen und in aller Ruhe warfen. Die Mannschaft gewann als Mannschaft.
Nein, nicht die Mannschaft, die Organisation, der Klub, die Bulls gewannen, sagte Jerry Krause, der Generalmanager. Und noch einmal, damit es auch alle verstanden, sagte er laut und deutlich, nicht Mannschaften gewinnen, Organisationen gewinnen. Er war klein, dick und größenwahnsinnig und zog viel Häme auf sich. Aber Recht hatte er doch. Krause machte Phil Jackson zum Trainer, einen ehemaligen Spieler der New York Knicks, der bis dahin nichts vorzuweisen hatte. Er holte Scottie Pippen und die anderen Rollenspieler. Er formte die Mannschaft. MJ musste nicht mehr wie früher jeden Ball haben und jeden Wurf nehmen und dann doch verlieren, obwohl er 40, 50, 60 Punkte machte. Er konnte beweisen, dass er eine Mannschaft besser machen konnte wie Magic Johnson, dass er eine Mannschaft führen konnte wie Larry Bird. Erst unter diesen glücklichen Umständen wurde aus Michael Jordan der König des Basketballs, weltweit verehrt und weltweit gekauft. Der ungeliebte, auftrumpfende, verkannte Jerry Krause krönte den geliebten, genialen Michael Jordan.
Natürlich wäre es zu viel verlangt, wenn Michael Jordan zur Rehabilitation Jerry Krauses beitrüge, der 2017 starb und posthum in die Hall of Fame aufgenommen wurde, immerhin. Mit so viel Souveränität hätte MJ seinen Ruhm allerdings auch mehren können.
„The Last Dance“ ist eine wunderbare Dokumentation, über die sich noch viel mehr schreiben ließe, über Jordan und seinen Vater, über den Jordan, der 2001 sein drittes Comeback für die Washington Wizards feierte, natürlich wenig glücklich, über die Reagan-Jahre, in denen er aufstieg, über seine Abstinenz von jeder Politik, über seine wilde Zockerei. Aber, Freunde, schaut euch einfach die zehn Folgen an, sie sind jetzt alle auf einmal zu haben.