Kanzler allein zu Haus

Der Kanzler hat seine Israel-Politik verändert, gut so. Die Ankündigung der Regierung Netanyahu, Gaza ganz zu besetzen und ihre Absicht, die Bewohner von dort zu vertreiben, zwingt förmlich zum Umdenken. Hätte Friedrich Merz so getan, als wäre nichts passiert, hätte er sich unglaubwürdig gemacht. Vor allem England und Frankreich wunderten sich schon länger über den deutschen Langmut.

Die Mehrheit der Deutschen hält übrigens das Waffenembargo für richtig. Dieser Umstand ist erstaunlich, weil ansonsten die Werte für die Regierung und den Kanzler mal wieder bergab gehen. Daraus könnte man schließen, dass die Stimmung labil ist und sich morgen verändern kann.

Die CSU hängt an Umfragen wie der Junkie an der Nadel. Diesmal ließ sie in ihrem Feinsinn wissen, sie sei in die Entscheidung des Kanzlers nicht eingebunden gewesen – will sagen, Markus Söder wartet merkelmäßig ab, wie der Wind weht und weht dann mit. 

Die SPD nimmt übel, dass ihre Kandidatin für das Verfassungsgericht resignierte. Lars Klingbeil hat vermutlich eine Meinung über Israels Vorgehen im Gaza, behält sie aber für sich. Im Schweigen war schon Olaf Scholz groß.

Empörung rührt sich in der CDU. Nun gut, es sind zumeist Hinterbänkler, deren Namen jenseits ihrer Fraktion keiner kennt. Darunter ist aber auch Roderich Kiesewetter, Oberst a.D., geübt in Talkshows als Erklärer des Ukraine-Krieges. Nun ist es aber so, dass Kiesewetter zu seinem Unglück bei der Verteilung herausgehobener Posten leer ausgegangen war. Dass ihn das Übergehen schmerzt, ist verständlich. Dass er die Lücke jedoch als externer Pressesprecher Benjamin Netanjahus füllt, geht zu weit.

Kiesewetter hält dem Kanzler entgegen, Deutschland beuge sich „einem antisemitischen Mob der Straße und der gnadenlosen Hamas-Propaganda“. So bleibe die deutsche Staatsraison, die Israels Existenz einbedenkt, „eine leere Hülle“. Dieses Echo schallt auch aus Israel herüber.

Menschen mit Phantom-Schmerzen gehören in den Umkreis jedweder Regierung. Was jedoch in diesen Tagen auffällt, ist die Vielfalt der Besserwisser. Das lauernde Beobachten, die empörungsbereite Gemütswallung, die das Lande beherrscht, greift auf die Regierungspartei CDU über. Ihre Bereitschaft, den Kanzler zu tragen, besonders wenn es kritisch wird, war einst ihr Markenzeichen.Jetzt sinkt sie allmählich auf SPD-Maß. 

Man muss den Kanzler nicht bemitleiden. So sind nun mal die Verhältnisse, so geht es heute zu in der Politik. Solidarität oder auch Loyalität sind Schrumpfwerte. Auf den pragmatischen Vorsatz der zuverlässigen Zusammenarbeit, von Klingbeil und Söder beschworen, kann sich Merz nicht unbedingt verlassen. Diese Einsicht wird ihm nach bald 100 Tagen regieren nicht verborgen geblieben sein.

Ich persönlich finde, dass Friedrich Merz eine gute Figur abgibt. Er übt das Amt mit einiger Selbstverständlichkeit aus und hat rasch Autorität auf internationaler Bühne gewonnen. Wäre die Unruhe im Land weniger groß und die Zahl der Krisen geringer, wäre Merz ein populärer Kanzler.

Aber die Umstände, sie sind nicht so. Die Frage ist nur, was daraus folgt.

Umfragen haben zu allen Zeiten eine gewisse Rolle gespielt. Zur Selbstbeweihräucherung. Als Chance, den Kanzler zu kritisieren. Heute schauen die Parteien wie die Kaninchen auf die Schlange, wenn die Demoskopen neue Zahlen haben – vor allem für die AfD.

Dabei verhalten sich Union und AfD wie kommunizierende Röhren. Geht die Union hoch, geht die AfD runter. Geht die Union runter, geht die AfD hoch. Die Erkenntnis ist nicht neu. Neu ist nur, dass Regierungsparteien ihr Verhalten davon abhängig machen.

Unser politisches System war mal groß darin, neue Parteien zu integrieren. Der Anpassungsdruck wirkte einst auf die Grünen, die auch mal ein räudiger Haufen waren. Damit ist es vorbei. Bei der Rechten wirkt die Kraft nicht – unter anderem deswegen, weil die Parteien der Mitte sie nicht mitmachen lassen.

Die Entscheidung kann man für falsch halten, muss es aber nicht. Nur sollte dann die Mitte, ohnehin geschrumpft, dauerhaft auf Volldampf schalten und sich an ihre Vorsätze halten. Ja, die Regierung hat groß gedacht und sich solides Regieren vorgenommen. Ja, sie hat gut angefangen. Ja, es kommen Fehler vor, wie die ausgesetzte Wahl der Bundesrichter, was denn sonst.

Die Ampel stritt sich wie die Kesselflicker. Diese Regierung besteht aber aus einem Solisten, dem Kanzler, und periodisch abtauchenden Koryphäen wie Lars Klingbeil und Markus Söder. Aber ob sie wollen oder nicht, sie hängen drin, sie werden mitverantwortlich gemacht, wenn etwas unrund läuft. Sie gehen mit unter, wenn die Mitte untergeht.

Seit 100 Tagen ist die Regierung an diesem Donnerstag tätig. In der Außenpolitik hat Deutschland an Gewicht gewonnen. In der Innenpolitik gibt es Besserungsbedarf. Auf den Kanzler kommt es jeweils an, schon wahr, aber auf die beiden anderen Herren eben auch.  

Veröffentlicht auf t-online.de, am Montag.