Was für ein Mensch

Eine Zeitlang habe ich mich mit Norbert Elias beschäftigt. Nicht zum ersten Mal, aber diesmal gründlicher als vor etlichen Jahren. Seine Theorie der Zivilisation imponiert mir in der Sache, in der er empirisches Material verwendet, das keiner vor ihm zur Kenntnis genommen hatte – mittelalterliche Zuchtbücher über das Verhalten am Tisch. Welch weiten Weg wird gehen müssen, um Sitten und Gewohnheiten zu verfeinern, ist erstaunlich. Jedes Kleinkind durchschreitet den Prozess der Zivilisation erneut.

Mehr noch als der Empiriker imponiert mir der Theoretiker. Elias sieht kein Telos, waltend in der Geschichte, keine Eschatologie, nichts. Seine zweibändige Geschichte der Zivilisation gründet auf der Einsicht, dass der Geschichtsprozess ungerichtet, ungeplant, aber folgerichtig verläuft. Der Überschuss an Offenbarung, der sich bei Hegel oder Marx äußert, findet hier keinen Platz.

Elias, 1997 in Breslau geboren, studierte nach dem Ersten Weltkrieg, an dem er als Kriegsfreiwilliger teilgenommen hatte, Philosophie und Medizin in Breslau. In der zionistischen Jugendbewegung lernte er Erich Fromm, Leo Strauss und Leo Löwenthal kennen. Nebenbei arbeitete er als Leiter der Exportabteilung in ein Fabrik für Kleineisenteile. Er war jemand, der sich im Leben auskannte, eher eine Rarität unter Philosophen.

Medizin brach er nach dem Physikum ab. Seine philosophische Dissertation, 1924, beschäftigte sich mit Idee und Individuum. Danach ging er nach Heidelberg, suchte und fand Zugang zum Max-Weber-Kreis, den dessen Witwe und dessen Bruder Alfred hegte und pflegte. Er wollte sich bei Alfred Weber habilitieren, was ihm aber zu lange dauerte. Die Kandidaten mussten sich bei den Koryphäen anstellen, so war das damals. Deshalb ging er mit dem wenig älteren Karl Mannheim nach Frankfurt. Im Jahr 1933 war seine Habilitation („Der höfische Mensch“) fertig; nur noch die Vorlesung fehlte, als Hitler an die Macht kommen durfte. Elias, Jude, ging zuerst nach Paris ins Exil und dann weiter nach London.

Der Irrsinn, den Hitler-Deutschland über die Welt brachte, verhinderte wie nebenbei die Laufbahn, die Elias kraft seiner Intelligenz und seiner großartigen Ideen zustand. Die historische Verzögerung war enorm. Seine Frankfurter Habilitation erschien erst im Jahr 1969, 36 Jahre nach Fertigstellung. Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs hatte er seine zwei Bände über den Prozess der Zivilisation vollendet. Sie wurden erst im Jahr 1976, als sie in einer Taschenbuchausgabe vorlagen, so rezipiert, wie sie es verdienten.

Die vielen Jahre dazwischen hatte sich Elias an englischen Volkshochschulen und unbedeutenden Colleges durchgeschlagen. Spektakulär ist seine Studie (mit John L. Scotson) über Winston Parva, einem fiktiven Vorort einer englischen Industriestadt, mit der wohl Leicester gemeint war. In Winston Parva leben Menschen, die sich weder sozial noch politisch noch ethnisch noch religiös unterscheiden. Die einen haben sich früher angesiedelt als die anderen – darauf kommt es an, das ist entscheidend. Aus diesem profanen Grund schauen sie herunter auf die Spätankömmlinge. Sie fühlen sich überlegen, lassen es spüren und erzielen durchschlagenden Erfolg damit, weil die Neuen sich unterlegen und schwächer fühlen. Sie verinnerlichen die Vorurteile, die ihnen entgegenschlagen.

Die Studie heißt: „Etablierte und Außenseiter“. Sie handelt von den Jahren 1959/60 und ist zum Klassiker der Soziologie geworden. Anstatt Klassen oder andere großräumige Begriffe zu verwenden, ging es um Figurationen, um das Verhältnis der Menschen zueinander, das es empirisch zu erfassen gilt.

Ich habe mich gefragt, wie Elias all die Jahre durchstand, dieses furchtbar lange Interim, ohne ein Jota an seiner Brillanz zu verlieren. Es muss diese Unbeirrbarkeit des inneren Anspruchs geben. Die Kompromisslosigkeit gegenüber Verzweiflung, Dunkelheit, Depression. Das Abwenden von der Gegenwart in den Raum der Geschichte. In seinen Lebenserinnerungen und späteren Interviews klingt an, dass er als Jude im Außenseitertum bewandert war. Was für ein Paradoxon, dass ihm die Leidensgeschichte so geläufig war, dass er seine Haltung bewahren konnte.

Erst spät im Leben wurde ihm Gerechtigkeit in der Wissenschaft zuteil. Da lebte er in Amsterdam, wo er auch begraben liegt. Er kam zurück nach Deutschland, nahm Ehrungen entgegen. Zum Beispiel bekam er den Theodor W. Adorno Preis – ironischerweise muss man sagen, da seine Wissenschaftsauffassung so ziemlich das Gegenteil der Adornoschen war. Sein Nachlass liegt im Marburger Literaturarchiv. Unbearbeitet ist die Korrespondenz zwischen Elias und Pierre Bourdieu („Die feinen Unterschiede“). Die beiden hatten sich sicherlich einiges zu sagen und haben sich bestimmt als Brüder im Geiste geschätzt.

Ich hoffe, der Briefwechsel wird bald herausgegeben und wenn ich demnächst in Amsterdam sein werde, besuche ich Elias‘ Grab. Ein großer Mann, ein ungewöhnlicher Denker, ein unabhängiger Mensch.