Spalten kann Spahn

Wir müssen mal ein Rechenexempel anstellen. 630 Abgeordnete sitzen im Bundestag. Für die Wahl neuer Richter in das ehrenwerte Bundesverfassungsgericht ist eine Zwei-Drittel-Mehrheit der anwesenden Mandatsträger erforderlich; das sind im äußersten Fall 420 Abgeordnete.

Die Absprache über drei zu wählende Richter schloss die Grünen ein, so dass insgesamt 413 Abgeordnete aus dieser Oppositionspartei gemeinsam mit der Regierung bereit zu sein schienen, das Bundesverfassungsgericht mit drei neuen Mitgliedern aufzufüllen – zahlenmäßig zu wenige, weil 413 nun mal weniger sind als 420.

Warum eigentlich wiegte sich Jens Spahn, die entscheidende Figur im Rechenexempel, im Glauben, dass die Wahl dennoch gut ausgehen würde? Wo wollte er die fehlenden sieben Abgeordnete herholen, so dass dieses gewünschte Quantum zusammenkäme? Gab es einen Deal – und wenn ja, mit wem? Und was signalisierte er zur Beruhigung des Kanzlers, der ja wohl auch rechnen kann?

Die Regierung ist in eine selbst gestellte Falle gelaufen. Dort drinnen stecken sie in schöner Eintracht – Jens Spahn, Friedrich Merz und Lars Klingbeil. Das dröhnende Schweigen des Oberschwadroneurs Markus Söder zu diesem peinlichen Vorkommnis, das zur Absetzung der Richterwahl von der Tagesordnung führte, ist herrlich beredt. Er begehrt, nicht schuldig zu sein. Er überlässt die Selbstdemütigung großzügig dem unglücklichen Trio.

Es wäre so einfach gewesen. Die Linke drängt sich geradezu danach, mitspielen zu dürfen. Ja, mit ihrem Antikapitalismus, dem Anti-Nato-Kurs und ihrer Russophilie sticht sie unerfreulich heraus. Aber zugleich will sie den Staat mittragen, denn sonst wäre der zweite Kanzler-Wahlgang damals im Mai nicht möglich gewesen. Die Union hätte nur noch einmal, wie etwa bei der Wahl Bodo Ramelows zum Vizepräsidenten des Bundestags, über ihren Schatten springen müssen. Noch besser wäre es, sie würde den  Unvereinbarkeitsbeschluss zur Zusammenarbeit mit der Linken ganz kassieren. Und schon wäre die Regierung aus dem Schneider..

So aber war das Desaster am vergangenen Freitag eine Demonstration, wie schwach es um die Mitte in Deutschland bestellt ist. Numerisch sowieso, denn Union und SPD kommen ja zusammen auf nur 44,9 Prozent, aber eben auch politisch. Vor allem dem Bundeskanzler stünde Konsequenz gut an, anstatt mal so, mal anders aus der Bredouille zu kommen.

Die Abstimmung mit der AfD für eine Verschärfung des Einwanderungsrechts kam im Publikum nicht gut an, so dass Merz die Brandmauer wieder hochzog. Die Linke, um demokratische Legitimation bemüht, behandelte er wieder als Schmuddelkinder, mit denen man nicht spielt, nachdem er sie dringend zu seiner Wahl gebraucht hatte. Wie wäre es mit ein bisschen mehr Geradlinigkeit?

Die Mitte ist nicht länger, was sie mal war – der Stabilitätsanker der Republik. Sie ist schon gar nicht mehr der mythische Ort, wo prinzipiell Wahlen gewonnen werden. Die FDP: abgestraft. Die SPD: marginalisiert. Die CDU: unter ihren Möglichkeiten. Die CSU: in Egomanie erstarrt. Anstatt das Land weiterhin auf gut Glück aus der Mitte zu regieren, muss die Union die Mitte erweitern. Die Alternative lautet aber nun mal: Linke oder AfD.

Für das Freitags-Drama trägt Jens Spahn die Verantwortung. Ureigene Aufgabe des Fraktionschefs ist die Beschaffung der nötigen Mehrheiten für Gesetze oder eben Richter-Wahlen. Vermutlich dämmert dem Kanzler, dass er den Falschen an diesen eminent wichtigen Platz gesetzt hat.

Spahn ist ein Einzelgänger. Ein Provokateur. So ist er zur öffentlichen Figur geworden. Das Spalten liegt ihm näher als das Zusammenhalten. Aus jüngster Zeit im neuen Amt bleibt Folgendes von ihm in Erinnerung:  Mit der AfD sollte man wie man anderen Oppositionsparteien auch umgehen. Und Deutschland müsse eine führende Rolle bei der Diskussion über einen europäischen Atomschutzschild einnehmen. 

Das ist der alte Spahn, dem es aufs Aufsehen ankommt, nicht auf die Sache. Der neue Spahn, auf den Merz gehofft haben mag, ist in weiter Ferne, wie wir seit der abgesetzten Richter-Wahl wissen. Ihm mangelt es auch an Anstand, denn sonst hätte er die SPD-Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf nicht so schmählich als Vorwand für sein Scheitern  missbraucht.

Als sich zu allem Überfluss abgezeichnet hatte, dass einige Unions-Abgeordnete, befeuert von beiden Kirchen, plötzlich unüberwindbare Bedenken überkamen, gefiel es Spahn, die SPD-Kandidatin als Grund zu nennen, weshalb das ganze Verfahren ausgesetzt werden müsse. 

Wenn eine Partei Probleme mit einer Kandidatin oder einem Kandidaten hat, ist es gute Übung, sie diskret im Vorweg zu äußern. Dann wird niemand beschädigt. Dass nun aber die Union erst kurz vor der Abstimmung grundsätzliche Einwände entdeckte, ist armselig. Und dass Spahn einen zu recht hoch umstrittenenen Mann, der sich Plagiatsjäger nennt, als Kronzeugen gegen die Kandidatin heranzog, stellt ihm selber ein vernichtendes Zeugnis aus.

Frauke Brosius-Gersdorf soll sich nun den Unions-Abgeordneten zur Befragung stellen. Warum sollte sie? Muss sie sich für ihre Haltung zum Abtreibungsrecht rechtfertigen? Oder für einen Satz, den sie mit ihrem Mann in ihrer Doktorarbeit geteilt hat? Ich glaube nicht, dass sie zum Rapport antreten wird. Ist sie gut beraten, zieht sie ihre Kandidatur zurück.

Lars Klingbeil muss sich vielleicht bald schon eine andere Kandidatin fürs Bundesverfassungsgericht suchen. Ihm gelingt es nicht, die Krise zu seinen Gunsten zu wenden. Statt dessen macht seine SPD, was sie gerne macht: Sie jammert über die Ungerechtigkeit der Welt und die Infamie der Union. Darüberhinaus fällt ihr nichts ein.

Friedrich Merz und Jens Spahn haben einiges zu bereden. Das Missmanagement, das Rechenexempel betreffend, stellte die Reformen in den Schatten, mit denen die Regierung die deutsche Wirtschaft wieder in die Spur setzen will. Wahrlich eine glanzvolle Leistung.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.