Sie zerren an den Ketten

Man kann Friedrich Merz manches vorwerfen, aber um den heißen Brei redet er nicht herum. Schon bei seinem Kurzaufenthalt in der jordanischen Hafenstadt Akaba stellte er zwei Bedingungen an Israel: Erstens die Zwei-Staaten-Lösung nicht aufzugeben, was, zweitens, die Nicht-Annexion des Westjordanlandes einschließt.

Damit befindet sich Deutschland wenigstens am Ende des europäischen Geleitzuges, der weiterzieht. Reihenweise haben Kanada, Portugal und andere Staaten Palästina als Staat anerkannt. Dem Druck auf Deutschland entzog sich Merz, indem er auf das besondere Verhältnis zu Israel hinwies.

Solche Verhaltensweisen haben eines gemeinsam: Sie stehen im Spannungsfeld zwischen Wunsch und Wirklichkeit, zwischen Realpolitik und Symbolpolitik.

In der Wirklichkeit lässt sich Benjamin Netanyahu nicht von der Uno und auch nicht von der Europäischen Union hineinreden. Entweder ignoriert er Ermahnungen oder er nennt sie Antisemitismus. Als auch noch Großbritannien den Staat Palästina anerkannte, kommentierte er sinngemäß, damit belohne Premier Keir Starmer die Terroristen der Hamas für ihre Blutorgie am 7. Oktober 2023. 

Natürlich gibt es den Staat Palästina nicht. Natürlich kann man dieses Vorgehen als fiktive Diplomatie abtun. Aber allein die hohe Zahl der Staaten, die sie betreiben, lässt aufhorchen: 150 der 193 Mitgliedsländer der Uno betreiben diese Symbolpolitik. Deutschland und die USA lehnen sie ab.

Worin liegt der Sinn der Anerkennung? Israel daran zu erinnern, dass einer ihrer Ministerpräsidenten, Jitzak Rabin, für zwei Staaten eintrat und dass mit dem Oslo-Abkommen Verhandlungen über die doppelte Staatsgründung beginnen sollten. Diese Realpolitik liegt 32 Jahre zurück. Rabin wurde deswegen umgebracht, nicht etwa von einem Palästinenser, sondern von einem nationalreligiösen Siedler. Jigal Amir, so hieß er, wird heute von einigen Ministern der Regierung Netanyahu als Held verehrt.

Vor und während seiner Israel-Reise betonte der Bundeskanzler auffällig oft, wie schwierig sein Unterfangen sei. Recht hat er. Wegen der geschichtlichen Verantwortung für den Holocaust gilt seit Angela Merkel die Sicherheit Israels als Teil der deutschen Staatsraison. Damit ist die Reichweite der Außenpolitik begrenzt. Es müsste schon viel passieren, bis eine deutsche Regierung die Selbstbindung lockern könnte – zum Beispiel die Annexion des Westjordanlands.

Dazu hat Außenminister Johann Wadephul einen interessanten Satz gesagt, der die verdiente Beachtung nicht gefunden hat: Für Deutschland dürfe es keine „Zwangssolidarität mit Israel“ geben. Wen meint er damit? Sich selber, weil ihm die  Selbstverpflichtung zur Solidarität inzwischen zu weit geht? Oder verwahrt er sich gegen Vorwürfe der israelischen Regierung, der sogar die maßvolle Kritik, die er und der Bundeskanzler üben, zu weit geht?

Manchmal wirkt es so, als würden Merz und Wadephul an den Ketten zerren, die ihnen angelegt sind. Womöglich ist ihnen unbehaglich, wenn sie für ihre Zurückhaltung Unverständnis in Norwegen und Spanien, in Kanada oder Australien ernten.

In der Wirklichkeit haben nur die USA Einfluss auf Israel. Ob Deutschland die Waffenlieferung einstellt oder nicht, ob die Europäische Union das Assoziationsabkommen, das die wirtschaftliche, wissenschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit regelt, aussetzt oder nicht, ob Israel am ESC teilnimmt oder nicht, ist im Zweifelsfall nur symbolisch bedeutsam. Anders die USA.

Das Weiße Haus zwang Netanyahu zum Waffenstillstand im Gaza und zum Ende der Bombardierung Teherans. Ohne Donald Trump wären die Geiseln wohl heute noch nicht frei. Ohne die Rückendeckung der USA wäre Israels Existenz gefährdet.

Deutschland ist für Israel das wichtigste Land in Europa. Die bloße Tatsache, dass Merz vorbeikam, ist ein Erfolg für Netanyahu. Seit Trumps triumphalem Einzug in Jerusalem im Oktober war der Bundeskanzler der erste hochrangige Gast. Der israelische Premier kann jetzt argumentieren: So isoliert sind wir eben doch nicht.

Was aber nimmt Merz mit? Vielleicht die Erkenntnis, dass auch in Israel von einem „Nie wieder“ zu hören ist – nie wieder schwach wie am 7. Oktober. Vielleicht auch die Einsicht, dass in Tel Aviv oder Jerusalem das Mitleid mit den vielen Toten im Gaza erstaunlich unterentwickelt ist, weil der Wunsch nach Rache über Parteigrenzen hinweg machtvoll ist. Dass Symbolpolitik mächtig und ohnmächtig zugleich ist.

Dieser Besuch endete ohne Missklang, das gilt heute schon als Erfolg. An der deutschen Außenpolitik dürfte sich deshalb nichts ändern. Und Israel hat Empfehlungen über seinen Umgang mit den Palästinensern bestenfalls genervt zur Kenntnis nehmen. Hat irgendjemand mehr erwartet?

Veröffentlicht auf t-online.de, am Montag.