Ein melancholischer Außenseiter

Werner Schulz war heute im Schloss Bellevue eingeladen, um den 33. Jahrestag des Mauerfalls zu feiern, wobei er etwas gegen dieses Wort vom Mauerfall einzuwenden hatte, denn die Mauer war ja nicht umgefallen, sie war eingestürzt worden und daran hatten viele Menschen ihren Anteil – eben das Volk der DDR, eben auch er.

Schulz gehört unbedingt zu dieser Feiergesellschaft, denn jene Tage rund um den 9. November 1989 waren die besten Tage seines Lebens gewesen. Er gehörte zu den Bürgerrechtlern, wie sie in der DDR genannt wurden, weil sie sich für die dort verratenen Rechte einsetzten. Der Name blieb an ihnen haften und wurde zu einer Gattungsbezeichnung, die sie gerne akzeptierten Wann immer eine Dokumentation über den Zusammenbruch der DDR oder über die Treuhand oder über Transformationsgesellschaften entstand, war der schmale, melancholische Mann ein gesuchter Zeitzeuge, der wortmächtig die historischen Vorgänge einordnete.

Natürlich ist dieser plötzliche Tod ein schauriges Ereignis und bedarf des Innehaltens. Aber wenn er denn schon eintreten muss und jeden von uns irgendwann holen wird, dann ist es doch ein tröstlicher Gedanke, dass Werner Schulz heute gestorben ist. Bei einer Jubiläumsfeier. Am Tag des Mauereinsturzes. Mehr deutsche Symbolik ist schlechterdings undenkbar. Einen Bürgerrechtler ereilt der Tod am Tag, an dem die Menschen in der DDR den Grundstein für die Wiedervereinigung legten.

Wobei man einschränken muss, dass Werner Schulz am liebsten die DDR mit menschlichen Antlitz behalten hätte; das war nur eine kurze vergebliche  Hoffnung. Danach wollte er sie vor der Übernahme durch die BRD schützen. Im Spätherbst 1989 saß er für das „Neue Forum“ am Runden Tisch und dachte sich Alternativen zur Destruktion durch Annexion aus – zu dem Vorhaben der Regierung Kohl/Genscher, die DDR als Resterampe zu behandeln. So entstand die Idee von einer Treuhandgesellschaft aus den Reihen der Bürgerrechtler, die den Zweck haben sollte, das Vermögen aus Industrie und Wirtschaft für die Bürger der DDR zu retten: Sie sollten Anteilscheine bekommen, die sie entweder verkaufen oder behalten konnten. So hätten sie das Land in die eigenen Hände bekommen.

Daraus wurde nichts. Im Einheitsvertrag findet sich nur noch eine Marginalie über die Coupon-Idee, Die Treuhand privatisierte, sanierte oder wickelte die volkseigenen Betriebe nach kapitalistischen Grundsätzen ab. Niemand fand dafür schärfere Worte als Werner Schulz, der von einem historisch beispiellosen Vorgang sprach, einem Verbrechen, das nicht mehr wettzumachen sei.

Werner Schulz war beides: zivilisiert und zornig. Vielleicht zog er aus seinen Erfahrungen mit der Unfreiheit in der DDR die Schlussfolgerung, dass er sich niemals wieder unterordnen würde. Im vereinten Deutschland blieb er der Außenseiter, der er in der DDR gewesen war. Als Grüner war er bald kein Freund Joschka Fischers mehr. Gerne wäre er 1998 Fraktionsvorsitzender geworden, was ihm Fischer jedoch verbaute. Schulz, dem Nicht-Pragmatiker,  blieb nur eine Nebenrolle, als die Grünen mit der SPD regierten. Seine Parteifreunde brachte er mit bissigen Bemerkungen wie dieser gegen sich auf: Der Bundestag verhalte sich wie die DDR-Volkskammer. Es ging im Jahr 2005 um eine Vertrauensfrage, die der Kanzler gestellt hatte, und da waren SPD und Grüne zur unbedingten Disziplin verdonnert worden.

Werner Schulz blieb verwehrt, was er sich gewünscht hatte. Die DDR ließ sich nicht retten. Die BRD nahm sich, was sie brauchte und verschrottete den Rest. Der Neuanfang im vereinen Land verlief ganz anders als erhofft. Und in der Politik fand er nicht die Rolle, die sein Talent verdient hätte.

Wie schade, dass die Demokratie mit einem wie ihm so wenig anzufangen wusste. Wie tröstlich, dass er am eigentlichen Feiertag der Deutschen starb, jäh und unverhofft.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.