Was jetzt auf dem Spiel steht

Der große alte Mann der Philosophie hat zur Feder gegriffen und in der „Süddeutschen Zeitung“ eine besorgte Analyse über den Meinungskampf in Deutschland geschrieben. Anlass ist natürlich Putins Krieg gegen die Ukraine, der eine Zeitenwende im Westen eingeleitet hat.

Habermas ist Jahrgang 1929, er hat den Krieg als Jugendlicher erlebt und diese Generation wird mehr noch als jede andere von Eindrücken und Erlebnissen eingeholt, die sich in ihr Gedächtnis eingebrannt haben. Dazu ist er Zeit seines Lebens ein Theoretiker der Öffentlichkeit und ihres Wandels geblieben, und diesmal fällt der Wandel rascher und rigoroser aus als vielleicht jemals zuvor – als beim Mauerbau, bei 9/11, bei der Wiedervereinigung. Krieg löst Tiefenschärfe im Gemüt aus und beeinflusst das Verhalten der Menschen. Und ein Krieg, der mit der Drohung einher geht, dass Putin Atomwaffen einsetzt, stellt alles andere in den Schatten.

Habermas, der vor kurzem gewohnt gedankenreich seine zweibändige „Auch eine Geschichte der Philosophie“ vorlegte, interveniert selten öffentlich. Wenn er es tut, etwa mit einem Plädoyer für mehr Europa, sieht er Grund dazu. Für die Älteren unter uns ist er so etwas wie die normative Stimme der Vernunft. Diesmal bewegt ihn der Kontrast zwischen „einer schockierten Öffentlichkeit und einem abwägenden Bundeskanzler“. Beide Phänomene analysiert er auf beispielgebende Weise.

Der Tonfall in der öffentlichen Auseinandersetzung ist schrill, was auch an der Angst vor der Ausweitung des Krieges zum Weltkrieg liegt. Habermas aber irritiert „die Selbstgewissheit, mit der in Deutschland die moralisch entrüsteten Ankläger gegen eine reflektiert und zurückhaltend verfahrene Bundesregierung auftreten“. Daraus entsteht ein Gegensatz, der das Land ausgerechnet in einem geschichtlichen Moment spaltet, in dem nichts unmöglich erscheint.

Der neue Moralismus kommt durch eine radikale Umkehr zustande. Mit der gleichen Emphase, mit der Anton Hofreiter heute Panzertypen herunterrasselt, haben Grüne wie er gestern noch den Roten Milan vor den mörderischen Flügeln der Windräder retten wollen. Erstaunlich ist, dass nicht nur die Springer-Presse sich die Stichworte und den abfälligen Gestus des ukrainischen Botschafters zueigen macht, sondern auch die Scholz-Kritiker. Der neue Moralismus ist der alte Moralismus in anderem Gewand. Auf die erregt-empörte Geste kommt es an, nicht auf das ausgefeilte Argument.

Habermas beschreibt tiefenscharf das Dilemma des Westens: „Der Westen, der ja schon mit der Verhängung drastischer Sanktionen von Anbeginn keinen Zweifel an seiner faktischen Kriegsbeteiligung gelassen hat, muss deshalb bei jedem Schritt der militärischen Unterstützung sorgfältig abwägen, ob er damit nicht auch die unbestimmte, weil von Putins Definitionsmacht abhängige Grenze des formalen Kriegseintritts überschreitet.“

So ist es. Wer Waffen liefert, macht mit im Krieg. Ja, nur indirekt, aber bekanntermaßen sieht das der Mann im Kreml anders. Bei Putin liegt die Eskalationsdominanz, denn er entscheidet darüber, ob Kiew während des Besuchs des Uno-Generalsekretärs bombardiert wird und ob der Widerstand im Stahlwerk von Mariupol mit allen Gewaltmitteln gebrochen wird. Und natürlich liegt es an ihm, welchem Land das Gas abgedreht wird und ob er tatsächlich eine taktische Atombombe zünden lässt.

Viel hängt davon ab, ob Habermas’ besorgte Analyse auch von denen gelesen wird, denen sie gilt. Dies gibt er zu bedenken: „Aber ist es nicht ein frommer Selbstbetrug, auf einen Sieg der Ukraine gegen die mörderische russische Kriegführung zu setzen, ohne selbst Waffe in die Hand zu nehmen? Die kriegstreibende Rhetorik verträgt sich schlecht mit der Zuschauerloge, aus der sie wortstark ertönt. Denn sie entkräftet ja nicht die Unberechenbarkeit eines Gegners, der alles auf eine Karte setzen könnte.“

Der Bundeskanzler stellt das personifizierte Gegenteil der Empörungsdemokratie dar. Man kann ihm vorwerfen, und wahrscheinlich vergeht kein Abendgespräch in deutschen Wohnzimmern ohne Hinweis auf diesen Mangel, dass er seine Entscheidungen öffentlich begründen sollte. Nicht vorwerfen kann man ihm jedoch, dass er über das Dilemma des Westens grübelt und Entscheidungen nicht so rasch fällt, wie es die neu-alten Moralisten ihm abverlangen. Darum nimmt ihn der Philosoph in Schutz.

Jürgen Habermas beschreibt die komplexe Weltlage in all ihren Facetten. Ich wünsche ihm viele Leser, auch für den Appell am Ende seines Beitrags: „Eine Europäische Union, die ihre gesellschaftliche und politische Lebensform weder von außen destabilisieren noch von innen aushöhlen lassen will, wird nur dann politisch handlungsfähig werden, wenn sie auch ,militärisch auf eigenen Beinen stehen kann.“

Veröffentlicht auf t-online.de, am Freitag.