Unterfordern oder überfordern

Die Union hat sich in altbewährter Manier ein Programm gegeben, mit dem sie die Bundestagswahl gewinnen will. Wer ein altersbedingt längeres Gedächtnis besitzt, hätte es selber schreiben können. Maß und Mitte. Sowohl als auch. Ein bisschen von allem. Allen wohl und niemandem wehe.

Das Land modernisieren ja, aber weder zu viel noch zu schnell. Digitalisierung ja klar, vielleicht auch keine Kurzflüge mehr, da ist die Union offen. Beides drängt sich auf und deshalb ist es ungefährlich, dafür einzutreten. Vor allem aber, liebe Mitbürger: keine Steuererhöhung, sogar Entlastung für kleine und mittlere Einkommen und Vorzugsbehandlung für Unternehmensgewinne, die im Unternehmen bleiben.

Wer es genauer wissen möchte, wie es nach der Pandemie und Angela Merkel weitergehen wird, dürfte sich unterversorgt fühlen, um das Mindeste zu sagen. Weder zu den Trassen aus dem Norden des Landes in den Süden noch zu Nord Stream 2 liest man Genaueres. Mit Erdogan soll kritisch und konstruktiv geredet werden – ach wirklich? Und war nicht gerade eben Joe Biden auf dem Kontinent und überbrachte ein paar bedenkenswerte Botschaften, China und Russland betreffend?

Vielleicht hatten CDU und CSU das Programm zu diesem Zeitpunkt schon geschrieben. Vielleicht wollten die Herren Laschet und Söder keinesfalls ins Weite schweifen. Das wäre zwar dringend notwendig, aber in einem Wahlkampf nicht ungefährlich. Zu den ehernen Überzeugungen gehört es, dass man von der Außenpolitik bei Wahlen die Finger lassen soll. Also bleiben Laschet und Söder lieber im Lande und halten sich an das Althergebrachte. 

Haben sie Recht? Für mich liegt die Spannung darin, ob es eine Wahl wie jede andere sein wird, trotz Pandemie und Kanzlerinnenabschied, oder diesmal eben doch andere Bedingungen herrschen. Wir wissen ja, dass es absehbar um Grundsätzliches geht, in Deutschland, in Europa und der Welt. Im Verhältnis von Ökologie und Ökonomie. Im Umbau der Industriegesellschaft und der Energieversorgung.

Ziemlich viel auf einmal, stimmt schon. Ist aber eben so.

Vielleicht gibt es sogar eine erkleckliche Zahl an Bürgern im Land, vor allem unter den Jung- und Erstwählern, die ernsthaft Antworten auf das Grundsätzliche erwarten. Vielleicht haben sie in der Pandemie Zutrauen zum Staat gewonnen haben, der nicht alles, aber einiges richtig gemacht hat. Gut möglich, dass sie sich eher vom Staat als vom Markt erhoffen, das Notwendige zu tun. 

Im Kern geht es am 26. September darum, ob die Grünen mit ihren zwar maßvollen, aber ehrgeizigen Zielen den Nerv der Zeit treffen, oder die Union mit ihrer Beschwichtigung, dass Stabilität wichtiger ist als Modernisierung.

Überforderung oder Unterforderung, das ist die Frage.

Armin Laschet wirkte bei der Vorstellung des Programms massiv zufrieden. Die despektierlichen Bemerkungen in den Medien und aus Bayern sind erst einmal verstummt. Auch Friedrich Merz schießt momentan nicht quer. Markus Söder säuselt, weil er nicht schuldig zu sein begehrt, falls es am 26. September schief gehen sollte.

Die CDU ist wie ein stiller See. Die CSU hält an der Mütterrente fest, na gut, aber in entspanntem Ton. 

Die Union ist eine Organisation zum Zwecke der Erhaltung der Macht und deshalb tendiert sie ab jetzt zu Ruhe und Frieden. Schafft es Laschet, ist er der Größte. Und es sieht gut aus, dafür spricht die Arithmetik plus einige rote Linien, die jede Partei gezogen hat.

Kein Bündnis gegen die Union: das ist tatsächlich der allerwichtigste Programmpunkt. Mit der Linken, die aus der Nato aussteigen will, kann niemand regieren. Also fällt Rot-Rot-Grün aus. Die FDP, die durch Mangel an Auffälligkeit in den Umfragen zulegt, hat vorsorglich angekündigt, sie werde Annalena Baerbock nicht zur Kanzlerin wählen. Also scheidet auch Grün-Rot-Gelb aus.

Bleibt Schwarz-Grün. Bleibt ein Kanzler Laschet. Nicht zufällig holt er auf, nicht zufällig fallen die Grünen leicht zurück. Nichts davon aber ist in Stein gemeißelt. Was heute richtig war, kann in ein paar Wochen falsch sein. Wer heute eine gute Phase hat, kann morgen eine schlechte haben. Wahlkämpfe sind unberechenbar und natürlich sind auch die Wähler unberechenbar.

Jetzt beginnt erst einmal die Ferien- und Urlaubszeit. Das Private übernimmt. Die Politik rückt weiter weg. Vieles können wir nachholen, was uns verwehrt geblieben war. Und erst Anfang September beginnt dann der wirkliche Wahlkampf. Schau mer mal, ob die Deutschen wirklich Unterforderung vorziehen.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.