Vieles lässt sich leichter ertragen

Gestern bin ich durch unser Viertel geschlendert. Die Sonne schien, hoch der knallblaue Himmel, milde Wärme. Ich musste im Zickzack gehen, denn die Leute saßen in Straßencafés, Restaurants, Bistros, die so viele Tische wie möglich raustrugen und die Gehsteige verkleinerten, aber das war egal. Gute Laune breitete sich wie ein glitzernder See aus, einfach deshalb, weil man wieder draußen essen und trinken und sich unterhalten konnte. Draußen und nicht drinnen. Unter Menschen, unter Fremden, unter Freunden. Vor dem vorzüglichen Eisladen bildete sich eine lange Schlange, die sich geduldig ziemlich langsam nach vorne schob. Kein böses Blut, keine blöde Bemerkung.

Ich lebe in Berlin, das meistens schlecht gelaunt ist, egal ob die Sonne scheint oder der Horizont dunkelt. Viele schrappige Sätze beginnen mit: Hamwa nich, kriegen wa nich, wollen wa nich. In keiner anderen Stadt wird so häufig wüst gehupt, so oft der Mittelfinger in Anschlag gebracht, so oft bei Rot Gas gegeben wie hier. Der beliebteste Volkssport besteht im Lästern über die Stadtregierung, die Verwaltung, die Polizei, von Hertha BSC und jeder Person, die sich dazu aufdrängt wie etwa Franziska Giffey mit ihrer Doktorarbeit.

Wenn Berlin gegen jede Gewohnheit lächelt, muss was Besonderes los sein. Die Macht, die Covid über uns ausübte, lässt nach. Die Macht, die wir über unser Leben haben, nimmt zu. Die Inzidenz fällt, die Zahl der Geimpften wächst. Länder wie Deutschland, in denen nicht übermäßig, aber genügend Vakzine vorhanden sind, bereiten sich auf Lockerungen vor. Wie gut, wenn  Einschränkungen weichen und selbstverständliche Freiheiten nach und nach wieder selbstverständlich werden.

Darf man sich darüber freuen? Darf man. Wenn Menschen schon deshalb aufleben, weil sie wieder andere Menschen treffen dürfen, liegt darin ein gutes Zeichen. Was immer noch das Soziale erschwert, wie das ständige Testen oder der Zwang, den Impfpass bloß nicht zu vergessen, lässt sich verkraften. Es wird besser. Man kann wieder Pläne schmieden, sich was vornehmen. Es geht voran. Warum nicht segeln gehen, Freunde in größerer Zahl treffen, Partys feiern. Es muss ja nicht gleich wieder so ausarten wie in Hamburg oder Stuttgart.

Nicht alles ist schon gut. Noch immer sterben Menschen Tag für Tag an Covid. Das ist schlimm, das ist traurig. Die Gesellschaft darf sie nicht vergessen, das ist wahr. Auch ist die Pandemie nicht vorbei, so lange sie in Brasilien oder Indien wütet und Mutanten (für unsere Sprachpolizisten: Mutanten und Mutantinnen) erbrütet, die auf uns niederkommen. 

Es ist ja einfach so, dass wir immer auf verschiedenen Ebenen wahrnehmen und denken. Über die Freude am Zunahme an Freiheit vergisst doch wohl niemand, dass sie ein Luxusprodukt des Landes ist, in dem wir leben. Das ist unverdientes Glück, es hat sich so ergeben. Dass die dritte Welle der Pandemie bricht, ist eine Folge entschlossenen Handelns, zu dem sich die Regierung nach Zögern und Fehlern aufraffte. Man muss sich nur mal kurz vorstellen, unser Bundeskanzler hieße Jair Messias Bolsonaro – Messias!

Bei allem Genöle über die Kanzlerin und Herrn Spahn, über zu viel Nettigkeit beim Kanzlerkandidaten Armin und zu wenig Erfahrung bei der Kandidatin Annalena: Es gibt Länder, milde gesagt, in denen es erheblich unerfreulicher ist zu leben.

Ich persönlich freue mich jetzt auf die Europameisterschaft und bin gespannt, ob Jogi Löw ein gutes Händchen hat. Die Berlinale findet als Freilichtkinogroßveranstaltung statt, kann was werden, wenn es wärmer wird. Gibt es Gerechtigkeit, dann kreuzt Bob Dylan bald in irgendeiner deutschen Stadt auf und ich ergattere Karten. Mit dieser Aussicht lässt sich dann das Andere leichter ertragen: die Wahl in Sachsen-Anhalt, die Schlimmes befürchten lässt; die anschwellende Hysterie vor der Bundestagswahl; von Lukaschenkos Ruchlosigkeit oder der bizarren Selbstfeier des Herrn Assad gar nicht zu reden.

In diesen Tagen ist es leichter als sonst, sich über die gar nicht kleinen Veränderungen zum Besseren zu freuen. Es geht eben nie nur bergab.

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.