Bei allem, was sie unterscheidet, haben Winfried Kretschmann und Malu Dreyer einiges gemeinsam. Sie haben Charakter, der sie glaubwürdig macht. Sie zeigen Gelassenheit und nehmen sich nicht so ernst, wie viele andere, die vor Kraft kaum laufen können. Sie bleiben in ihrem Land verwurzelt und schielen nicht nach höheren Weihen. Vielleicht hätte Kretschmann Bundespräsident werden können. Sicherlich hätte Dreyer SPD-Vorsitzende werden können. Wollten sie nicht, in richtiger Einschätzung seiner Chancen der eine und in richtiger Einschätzung ihrer Kräfte die andere.
Für ihren Erfolg ist auch entscheidend, dass sie nicht in ihrer Partei aufgehen, ohne sie zu verleugnen. Dreyer wie Kretschmann haben sich Eigensinn bewahrt, kommen den pragmatischen Notwendigkeiten ihres Amtes nach und gehören doch unverkennbar dem Stall an, aus dem sie herausgewachsen sind.
Mehr noch zeigen sie ihren Parteien, was möglich ist. Nicht zufällig liegt die SPD in Rheinland-Pfalz bei knapp 36 Prozent, einer einsamen Höhe, die nur Peter Tschenscher in Hamburg mit 39,2 Prozent übertraf. Nicht zufällig hat die CDU in Baden-Württemberg auf rund 23 Prozent abgewirtschaftet und in Hamburg auf sage und schreibe 11 Prozent. Es geht rasend schnell ins Tal, wenn eine Reihe falscher Leute steuern dürfen und nur langsam, aber sicher aufwärts, wenn die richtigen Leute die richtigen Themen setzen und auf sympathische Weise dafür einstehen.
Nichts ist garantiert, nichts ist gesichert. Sieben Jahre brauchte die Hamburger CDU, um von 48 Prozent ins Niemandsland abzusacken. Dass ein Grüner je in die Villa Reitzenstein einziehen könnte, vermochten sich die Herren Filbinger/Späth/Öttinger nie vorzustellen. Auf Personen kommt es eben an, wer sie sind und was sie wollen. Wenn ihnen ihre Parteien keine Felsbrocken in den Weg rollen, geht morgen womöglich, was heute absolut unmöglich erscheint. Wer heute oben ist, ist morgen vielleicht schon wieder auf dem absteigenden Ast. Wo landen die Grünen ohne Winfried Kretschmann? Wo bleibt die SPD ohne Malu Dreyer?
Alles ist möglich und auch das Gegenteil. Deshalb ist es verdammt schwer, solide Rückschlüsse aus den beiden Landtagswahlen für den 26. September zu ziehen. Versuchen wir’s mal.
1.) Die Bundestagswahl wird eine Pandemie-Bilanz sein. Wenn nicht endlich das Impfen in Schwung kommt und das Testen zur Selbstverständlichkeit wird, ergeht es der CDU schlecht. Nicht nur verliert sie den Rest an Merkel-Bonus, sie rutscht dann ziemlich sicher unter die heiligen 30 Prozent. Wer profitiert davon? In erster Linie die FDP und in zweiter Linie die Grünen, am wenigsten die AfD, weil ihre Verantwortungslosigkeit sie um den Kollateralnutzen bringt. In dritter Linie die SPD, bei der Olaf Scholz den Orden wider den tierischen Ernst verdient, weil er frohgemut behauptet, er könne Kanzler werden.
2.) Das Laschet-Bashing dürfte zunehmen, so ist das nun einmal. Sagt er zu wenig, wird es ihm angekreidet, sagt er zu viel, wird das moniert. Zu seinen Vorteilen gehört die Unbeirrbarkeit, mit der er schlechte Zeiten durchsteht, um dann, wenn er lange genug als Verlierer aussah, die Sache zum Erstaunen aller zu gewinnen. Mehr denn je muss er diese Fähigkeit voll ausschöpfen, will er Kanzler werden und das will er, kein Zweifel. Hat er Glück und genug Impfstoff kommt rechtzeitig zu uns, kommt niemand an ihm vorbei. Hat er Pech, wird er dennoch Kanzler, denn warum sollte sich Markus Söder nach vorne drängeln, wenn die Wähler die Union mit dem schlechtesten Ergebnis aller Zeiten abstrafen wollen?
3.) Der AfD könnte es am 26. September ähnlich ergehen wie an diesem Sonntag: einstellig, nicht mehr zweistellig. Dafür sorgt der Schwefelgeruch, der ihr anhaftet und sie spaltet. Davon kann insbesondere die CDU profitieren, auch mit Laschet, natürlich mit Söder. Jedenfalls hat die AfD ihren Schrecken verloren.
4.) Olaf Scholz geht jetzt mit dem Satz hausieren, es gäbe eine Regierung ohne die CDU. Kann in Stuttgart entstehen, wenn Kretschmann will, gibt es wieder in Mainz. Dass dieses Modell auf Berlin übertragbar sein soll, ist von heute ausgesehen eine hübsche Illusion.
5.) Die Frage ist nicht nur Armin oder Markus, sie ist auch Annalena oder Robert. Zwischen ihnen müssen sich die Grünen bald entscheiden. Robert Habeck hat von Annalena Baerbock gelernt, dass schiere Sachlichkeit beeindruckt und nimmt sein Ego ähnlich zurück wie Markus Söder. Aber natürlich werden es sich die Grünen nicht entgehen lassen, den Anzugmännern mit ihren Alphatier-Ritualen eine Frau beizugesellen. Und dass Annalena Baerbock die chancensteigernde Kombination aus Charakter, Eigensinn und Heiterkeit verbindet, ist ja nun offensichtlich. Damit ist nicht gesagt, dass sie Kanzlerin wird, obwohl ja nun mal so ziemlich alles möglich ist, doch aufs Außenministerium bereitet sie sich ersatzweise schon umsichtig vor und das ist ja auch ein schönes Amt.
Jetzt schon kann man sagen, dass uns eine unberechenbare Wahl bevorsteht. Richtig freuen kann man sich darüber nicht.
Veröffentlicht auf t-online.de, heute.