Was Corona für Celan bedeutete

In den vergangenen Tagen habe ich immer mal wieder in einem Gedichtband geblättert. Ich mag Gedichte. Einige habe ich in einer Phase meines Lebens auswendig gelernt, als ich dachte, ich bräuchte etwas für mich allein, ohne die permanente Ausrichtung auf den Zweck, der damals übermächtig war. Also habe ich nach dem Zufallsprinzip angefangen. Die Bürgschaft übte ungemein, weil sie so lange ist. Rilke wegen der Denkgedichte. Benn und Brecht, Goethe sowieso, natürlich Kästner, Morgenstern etc.

Lange habe ich keines mehr gelernt und das schmerzte mich plötzlich, als ich diese Zeilen las:

Aus der Hand frisst der Herbst mir das Blatt; wir sind Freunde. / Wir schälen die Zeit aus den Nüssen und lehren sie geh’n: /Die Zeit kehrt zurück in die Schale. / Im Spiegel ist Sonntag, / im Traum wird geschlafen, / der Mund redet wahr.

Kenner werden längst wissen, dass wir Celan vor uns haben. Weiter geht es so:

Mein Aug steigt hinab zum Geschlecht der Geliebten: / wir sehen uns an, / wir sagen uns Dunkles, / wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis, / wir schlafen wie Wein in den Muscheln, wie das Meer im Blutstrahl des Mondes. / Wir stehen umschlungen im Fenster, / sie sehen uns zu von der Straße: / es ist Zeit, dass man weiß! / Es ist Zeit, dass der Stein sich zu blühen bequemt, dass der Unrast ein Herz schlägt. / Es ist Zeit, dass es Zeit wird. / Es ist Zeit.

Das Gedicht gehört in den Zyklus „Mohn und Gedächtnis“ und erschien im Jahr 1952. Die Interpretation überlasse ich anderen. Mich verblüffte der Titel: Corona. In der „Welt“ schrieb Hans-Christian Buch im Frühling dieses Jahres darüber und zitierte aus Petris Fremdwörterbuch von 1889, was unter Corona zu lesen steht: Krone, Kranz, Tonsur, Mannschaft, Sippschaft, syphilitischer Ausschlag. Er schreibt dazu: „Keine dieser Bedeutungen passt zu Celans Gedicht, wohl aber der Hinweis auf die von Perseus verlassene Ariadne, die ihm mit ihrem Wollknäuel zur Flucht aus dem Labyrinth verhalf. Der Weingott Dionysos verliebte sich in Ariadne und versetzte sie nach ihrem Tod an den Nachthimmel, ins Sternbild der Corona.“

Wie tröstlich, dass Corona ein Sternbild ist, von Celan in ein Gedicht verwandelt.