Die Zahl der Infizierten geht auf die Million zu, die Zahl der Toten auf 15 000. Das ist die schlechte Nachricht. Die gute Nachricht lautet: Die Zunahme ist nicht mehr exponentiell. Der Lockdown light hat Wirkung erzielt. Und mehr als 80 Prozent aller Deutschen finden immer noch okay, was die Bundesregierung und die Landesregierungen ihnen auferlegen. Begeistert sind sie nicht, wie auch, aber sie sehen die Notwendigkeit ein, das genügt.
Nicht alles ist wie aus einem Guss. Keine Ahnung, warum ich Golf spielen darf, aber nicht Tennis in der Halle. Weshalb ich eine Galerie besuchen kann, jedoch nicht ein Museum. Wer sucht, findet jede Menge Widersprüche. Darüber kann man sich aufregen, damit kann man sich jedoch genau so gut abfinden, weil nun mal derart tiefgreifende Verordnungen in einer hochdifferenzierten Gesellschaft nicht nur überzeigend ausfallen können.
Friedrich Merz hat in einem Interview gesagt, dass er sich nicht vom Staat vorschreiben möchte, in welcher Zahl und mit wem er Weihnachten feiert. Sehr naseweis, wer möchte sich da schon dreinreden lassen. Es gehört auch wenig Mannesmut dazu, der Kanzlerin im einen oder anderen Punkt zu widersprechen, denn darum geht es ihm ja: In meinem Freiheitsdrang bin ich nicht aufzuhalten, schon gar nicht von der Angela Merkel, die ich liebend gern wissen lasse, dass ich klüger bin als sie – bin ich nicht großartig?
Ist er nicht. Kleines Karo. Dieser Mann will zuerst Bundesvorsitzender werden und dann Kanzlerkandidat. Also muss er sich heute schon daran messen lassen, was er morgen sein möchte. Erkennen lässt sich ein Muster: Flottes Dahinreden und ein ewiges Abarbeiten an der Kanzlerin, die ihn vor Jahr und Tag abgesägt hatte. Darüber scheint er nicht hinweg zu kommen. Deshalb dieses viele Ich, Ich, Ich. Folglich redet er fahrlässig vor sich hin im Glauben, dass ihm ausschließlich Substantielles aus dem Mund perlt. Mehr hat er nicht zu bieten?
Ja, wir bleiben eingeschränkt. Bars und Kneipen und Restaurants: geschlossen. Pleiten en masse wird es geben, nicht alle werden durchhalten, auch wenn der Staat mit Geld nur so um sich wirft, was nun mal richtig ist. Silvesterfesten fallen allenfalls klein aus. Immer weniger Länder auf der Erde lassen sich besuchen. Blöde. Unangenehm. Langweilig. Aber schlimm?
Schaut euch doch mal um: Österreich, Frankreich, England, Spanien, Balearen. Amerika. Asien. Wer ist da wohl besser dran als wir? Wer beneidet da wohl wen?
Und, hey, zweitens, vielleicht schon in dieser Woche kommt in den USA der Impfstoff aus dem Mainzer Labor des Ehepaares Sahin/Türeci auf den Markt. Er wird nicht der einzige bleiben, das ist jetzt schon klar. Ab jetzt geht es rasant voran. Es ist schon abzusehen, dass die Pandemie eingedämmt
werden kann. Wenn wir ganz kühn sein wollen, ist es im Hochsommer mit alledem vorbei. Kein Lockdown mehr. Restaurants: offen. Bars und Kneipen auch. Theater spielen wieder, Orchester spielen wieder., Musicals etc. spielen wieder. Das Leben hat uns wieder. Können wir uns nicht mal in Zuversicht üben?
Ich vermute mal, das erstaunlich ungebrochene Vertrauen in die Regierung hängt mit dieser Aussicht auf das Ende der dicken und dünnen Lockdowns zusammen. Vermutlich denken sich die Leute mit ihrem gesunden Menschenverstand, was die Kanzlerin in ihrer übergroßen Vorsicht auf den Pressekonferenzen nicht sagt. Wenn sie ab und zu mal Reden zur Lage der Nation hielte wie andere Regierungschefs, was sie aber eben nicht tut, weil sie ist, wie sie ist, dann könnte sie uns zur Geduld mahnen mit dem Ausblick auf das Impfen in absehbarer Zukunft.
So wird es noch eine Weile zugehen wie zuletzt. Die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten setzen sich an diesem Mittwoch wieder zusammen, streiten über das Ausmaß der Maßnahmen in Anbetracht der neuesten Zahl an Infizierten und Gestorbenen und einigen sich am Ende auf Kompromisse, die dann mehr oder weniger überzeugen. Und diejenigen, die sich Querdenker nennen, ziehen daraufhin durch die Städte auf der Suche nach maximaler Provokation.
Dazu gehören Figuren wie Jana aus Kassel, die sich für Sophie Scholl hält, weil sie den Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie nicht kennt. Dazu gehören die Eltern einer Elfjährigen, die ihren Geburtstag nicht so feiern durfte, wie sie wollte, und ihr einredeten, sie sei so arm dran wie Anne Frank. Dazu gehören auch die Abgeordneten der AfD, die Pöbler und Hetzer in den Bundestag einschleusen, damit sie Politiker, die nicht der AfD angehören, beschimpfen und belästigen konnten.
Die AfD hat erreicht, was sie seit Monaten erreichen wollte: Sie hat Einfluss auf die außerparlamentarische Opposition gewonnen, die sich in den Corona-Monaten gebildet hat. Ums Dabeisein ging es ihr zuerst. Ums Kapern ging es ihr dann, als drei Polizisten Eindringlinge in den Bundestag abwehrten.
Die Entschuldigung von Alexander Gauland im Bundestag („unzivilisiert und ungehörig“) ist vielleicht sogar ernst gemeint, aber sie bleibt unangemessen und zeigt am ehesten, dass seine Autorität geschrumpft ist. Das ist kein gutes Zeichen. Die AfD öffnet sämtliche Schleusen und hereinströmen nicht nur Impfgegner und Spiritualisten und einzelne Durchgeknallte wie Attila Hildmann, die es nach fünf Minuten Ruhm drängt, sondern Nazis, Reichsbürger und was auch immer antidemokratisch sein will. In derAngst, abgehängt zu werden, verändert sich die AfD zur Kenntlichkeit: als Pöbel-Partei.
In 31 Tagen ist Weihnachten. Wie es aussieht, wird für die Feiertage die eine oder andere Sanktion gelockert werden. Dann beginnt das neue Jahr mit der Aussicht, dass wir uns gegen Corona impfen lassen. Wir sollten geduldig bleiben und aufs Beste hoffen, auch darauf, dass die Demokratie gestärkt aus der Pandemie hervorgeht.
Veröffentlicht auf t-online.de, heute.