Es muss wehtun, aber wie?

Wenn jemand einen anderen Mensch ermorden will, wird er vor Gericht gestellt und verurteilt. So geht es im richtigen Leben zu. Wenn der russische Geheimdienst in London oder im Tiergarten zuschlägt oder wenn er Alexey Nawalny vergiftet, ist es schon schwieriger, die Täter vor Gericht zu ziehen und deren Auftraggeber anzuklagen, selbst wenn es eine lückenlose Beweiskette geben sollte. Was macht man dann?

Man prüft seine Optionen. Man sucht sich Verbündete fürs politische Vorgehen. Man schaut sich nach Präzedenzfällen um. Man versucht, aus moralischer Empörung Politik zu machen. Allerdings ist das praktische Vorgehen ziemlich schwierig. Als Maßstab dient: Es muss wehtun, Wladimir Putin soll sich besinnen müssen. Zugleich verbieten sich Illusionen, wie wir wissen, gerade im Umgang mit Russland.

Es ist aber einfach zu viel passiert, um den Giftanschlag zu ignorieren. Die Erklärungen, die jedes Mal aus Moskau zu hören sind, sind zu banal, um sich damit zufrieden zu geben. Mich persönlich macht immer noch fassungslos, dass eine Soldateska von Putins Gnaden ein Passagierflugzeug über der Ostukraine abschossen. Das war am 17. Juli 2014, knapp 300 Menschen starben, darunter 80 Kinder.

Dazu Syrien. Libyen. Die Annexion der Krim. Der Kleinkrieg in der Ostukraine. Die Cyberangriffe. Die bevorzugte Behandlung für Rechtsextreme. In Belarus ziehen Panzer auf. Ohne Rückendeckung unternimmt Alexander Lukaschenko nichts mehr. Putin nutzt jede Gelegenheit, um seine destruktive Kraft zu entfalten. Was man in Berlin oder London oder Paris davon hält, ist ihm egal. Wenn es sein muss, schickt er seinen Außenminister Sergey Lawrow vor, den Zen-Meister des Zynismus, der unterhaltsam wäre, wenn er nicht rechtfertigen würde, was er nicht rechtfertigen kann.

Alexey Nawalny ist ein mutiger Mann. Oft genug landete er im Gefängnis. Err lässt sich nicht einschüchtern. Vielleicht hat er gedacht, seine Prominenz schützt ihn. Seit Tagen liegt er im Koma in der Charité.

Was sind die Optionen? In einem Interview mit „Bild am Sonntag“ hat der deutsche Außenminister Heiko Maas vorsichtig den Horizont abgeschritten.  Wenn schon Sanktionen gegen Täter und Urheber, dann nicht alllein von Deutschland, sondern als europäische Initiative, sagt er. Der versuchte Mord an Nawalny verstößt ja auch gegen die internationale Ordnung, die  in der Charta der Vereinten Nationen oder der OSZE niedergelegt ist. 

Dazu gibt es Nordstream 2, die so gut wie fertige neue Pipeline, auf dem Grund der Ostsee in zwei Strängen verlegt, 1230 Kilometer lang. 55 Milliarden Kubikmeter Gas sollen direkt nach Deutschland fließen und in Lubmin bei Greifswald ankommen. Ab Januar 2021 kann es losgehen. Könnte.

Der Bau begann im Jahr 2011. Die Krim war noch nicht besetzt, der Arabische Frühling stand aus, der Krieg in Syrien stand im Anfang. Erst unter dem Einfluss der Weltpolitik wurde Nordstream 2 zum Politikum, vor allem für die  USA. Sie droht Deutschland mit Sanktionen, falls die letzten paar Kilometer der Pipeline fertig gestellt werden sollten. Besonders Donald Trump findet verächtliche Worte dafür, dass sich Deutschland einerseits von Russlands Öl und Gas abhängig macht und andererseits vor Russland militärisch geschützt werden will.

Der Vorwurf ist nicht aus der Luft gegriffen. Jetzt schon bezieht Deutschland 51 Prozent seiner Energieversorgung aus Russland. Durch Nordstream 2 wird das nicht weniger, versteht sich. Was tun?

Norbert Röttgen, der CDU-Kandidat für die Kanzlerschaft, verlangt danach, dass die Regierung Merkel Nordstream 2 stoppt. Manfred Weber, der CSU-Europapolitiker meint das Gleiche, formuliert im „Spiegel“-Interview nur vorsichtiger: „Das Ende von Nordstream 2 darf nicht mehr ausgeschlossen werden.“

Der Hang zu radikalen Konsequenzen wächst mit der Entfernung zur Regierung. So ist das nun einmal. Röttgen wie Weber könnten ihr Argument schärfen, indem sie sagen, Deutschland müsse grundsätzlich über seine Energieversorgung nachdenken, weil wir uns in die Abhängigkeit von Russland begeben haben. Machen sie nicht und das spricht gegen sie.

Dummerweise ist die Welt voller unerfreulicher Staats- und Regierungschefs, die leider auch noch unübersehbar sind. Der Umgang mit ihnen ist ebenso unerfreulich wie nötig. China: betreibt rücksichtslose Machtpolitik im südchinesischen Meer und gegenüber Hongkong. Saudi-Arabien: unterdrückt Frauen, führt Krieg im Jemen, tötet einen Journalisten in seiner Botschaft. USA: Trump. Russland: Putin.

Sie machen, was sie wollen, scheren sich nicht um den Aufschrei im Westen. Sie sind entweder groß oder wichtig oder beides und wir können ihnen nichts anhaben. Und mittelgroße Länder wie Deutschland müssen mit ihnen zurecht kommen, ob es will oder nicht.

Die Welt ist, wie sie ist. Moralische Empörung ist nur zu verständlich. Die Gründe für den Wunsch nach Bestrafung nehmen mit der Zahl der Fälle nicht ab, sondern zu. Die Rückwirkung auf den Pragmatismus als Normalfall des Regierungshandelns ist nicht zu übersehen: Ihn bringt der herrschende Zynismus um sein ideelles Fundament.

Wie die Dinge stehen, verbieten sich Illusionen. Maximalismus ist ein frommer Wunsch. Oft geht nicht mehr als Minimalismus, so trostlos das auch bleibt. Deshalb ist es nur folgerichtig,  dass Heiko Maas lieber über europäische Sanktionen redet als über das Ende für Nordstream 2. Deutschland steckt im Dilemma: Hier Amerika mit wüsten Drohungen, dort Russland mit seinen gewaltigen Reserven. Was macht man dann?

Zeit gewinnen. Wenn es gut geht, ist Donald Trump ab 3. November nicht mehr Präsident, wird die Pipeline zu Ende gebaut. Putin ist da und bleibt da. Die Europäische Union sollte Sanktionen gegen Täter wie Urheber des Anschlags auf Alexey Nawalny verhängen. Das ist das Mindeste, weil mehr nicht geht, wie schade.

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern