Heute ist der 23. August, der in meinem Leben eine besondere Rolle spielt. Heute vor 52 Jahren wurde ich aus der Lungenheilstätte Kutzenberg in der Fränkischen Schweiz entlassen. Auf eigenem Wunsch und auf eigenes Risiko, denn ich wollte unbedingt Abitur machen und hatte schon genug Zeit verloren.
Ich hatte mir Tuberkulose eingefangen, keine Ahnung wie, keine Ahnung warum. Ich war sportlich, rauchte nicht. Ich fiel einfach am Aschermittwoch 1968 um und wieder um, im Bad, auf der Treppe zu meinem Zimmer. Der Lungenarzt Dr. Pachl war ein Briefmarkenfreund meines Vaters und stellte diese ungeheure Diagnose: Tbc.
Auf meinen 18. Geburtstag hatte ich mich groß gefreut. Ich würde den Führerschein machen, ich würde nicht mehr darum betteln müssen, dass mich mein Vater oder mein Bruder nach Haidt fährt, draußen vor der Stadt Hof, wohin kein Bus fuhr. Unabhängig würde ich sein, frei von unwirschen Chauffeuren. Ich würde Ellen sehen, wann und wie ich wollte.
Am 16. März schüttete es. Ich schaute aus dem Fenster und konnte es nicht fassen. Mir kamen die Tränen, ich war leer, ich hatte Angst. Es war mein erster Morgen in diesem Sanatorium. Ich lag da, ich starrte vor mich hin, warum war ich hier, was blühte mir, warum war ich krank, wann würde ich hier rauskommen, was sollte das?
Tbc hieß Tabletten. Tbc hieß schonen, schonen, schonen. Liegen, liegen, liegen. Im Bett und auf dem Bock. Der Bock war die Liege draußen im Freien, geschützt vor Wind und Regen. Dorthin wechselten wir an jedem Tag, den Gott werden ließ, nach dem Mittagessen. Tbc hieß sterben. Der Seemann starb, mit dem ich einen Samstagnachmittag im Kabuff Bier soff und Zigaretten rauchte, bis mir furchtbar übel war. Der Koch, mein Freund, erwachte nicht aus der Narkose. Herr Halm, der Student, der mir Bücher empfahl und mit mir geistreiche Gespräche führen wollte, ein wunderbarer Mensch, erzählte mir, er sei nicht nur unheilbar krank, sondern auch schizophren. Er starb in einer geschlossenen Anstalt.
Ich hatte Glück. Unfassbares Glück. Am 10. Mai 1968 unterzog ich mich einer Bronchoskopie, bei der die Lunge abgesaugt wird. Die Ärzte wollten schauen, wie viel meiner Lunge sie wegnehmen mussten. Bei dieser Vorstufe zur Operation saugten sie die käseartigen Stücke, die beim Platzen der Lymphknoten an der Lungenwurzel in die Lunge diffundiert waren, vollständig heraus. Ich war nicht geheilt, musste aber nicht operiert werden.
Glück ist immer unverdient. Niemand kann mir erklären, weshalb die einen starben und ich nicht. Glück ist wahllos. Wem es zufällt, kommt unverdient davon. Wen es auslässt, stirbt unverdient. Glück ist unfair.
Das Sanatorium war meine zweite Geburtsstätte. Gegen diese Leere, gegen diese Langeweile half nur das Lesen. Ich las alles, was mir in die Hände fiel. Huxley, Nietzsche, Hesse, Fontane. Wahllos und willkürlich. Ich las wie um mein Leben. Zur Ablenkung, das gewiss auch. Aber ich las nicht gemütlich, sondern existentiell. Ich las nicht vor mich hin, sondern zum Überstehen dieser unermesslich vielen Stunden, die sich heillos müde dahinschleppten.
Die Krankheit war aber auch ein Glück. Ohne sie wäre ich wahrscheinlich Lehrer geworden, das lag in meinem Horizont und dem meiner Eltern. Das spannende, abwechslungsreiche Leben als Journalist hat mir erst meine Krankheit eröffnet. Seither habe ich eine Schwäche für das Paradox. Unglück wird zu Glück. Aus Krankheit erwächst Zukunft. Ein Sanatorium gibt mir die Chance zur Selbstdefinition.
Ich bin nicht allein, trotz alledem, auch das liegt in der Tbc-Erfahrung. Ellen, meine schöne Freundin, kam an jedem Mittwoch mit dem Zug angefahren, ich glaube, sie war vier Stunden hin und zurück unterwegs. An jedem Sonntag kam sie mit meinen Eltern. Sie schrieb mir Briefe, wir telefonierten, selten zwar, es war sehr teuer damals, sie war für mich da, klaglos und zuverlässig und liebevoll. Nie werde ich das vergessen.
Eigentlich sollte ich bis zum Ende des Jahres 1968 in der Lungenheilstätte bleiben, um mich ganz auszukurieren. Meine Ärztin sagte, ich könnte einen Rückfall erleiden. Ich hätte ihr das Blaue vom Himmel versprochen, ich wollte nur raus hier, nach Hause, Abitur machen, meine Freunde sehen, Ellen sehen.
Am 23. August durfte ich gehen. Mein Gott, war ich glücklich.