Mit meinen Eltern unterhielt ich mich öfter darüber, wie das war, damals als Krieg herrschte und Juden aus den Städten verschwanden und in Konzentrationslager umgebracht wurden und später, als die Bomben auf die Städte fielen. Sie sagten, es sei unendlich schwer, mit mir darüber zu reden, dem erspart blieb, was ihnen nicht erspart geblieben war.
Erfahrungen können trennen. Erlebnisse können Gräben aufreißen. Wer verstehen will, muss genau hin hören und umsichtig urteilen. Ziemlich schwierig für Historiker oder Journalisten.
Aus der Grenzziehung machten andere Zeitgenossen meiner Eltern später ein politisches Argument: Nur wer damals gelebt hätte, könne über diese Jahre angemessen urteilen. Es war ein Konterargument gegen linke und liberale Historiker und Journalisten, die gegen Politiker oder Journalisten wegen deren Nazi-Vergangenheit anschrieben.
Heute würde man sagen: Es ging schon damals um Identitätspolitik, bei der eine Gruppe von Menschen auf dem Recht ihrer Biographie beharrt und sich die Anklage einer anderen Gruppe verbittet und sich als deren Opfer darstellt.
Identitätspolitik schwingt in der Aufregung über den Artikel einer jungen TAZ-Journalistin mit. Hengameh Yaghoobifarah, 29, hatte sich Gedanken darüber gemacht, was aus den 250 000 deutschen Polizisten werden sollte, wenn zwar nicht der Kapitalismus, wohl aber die Polizei abgeschafft werden sollte. Sie verwarf eine Reihe von Möglichkeiten: Sozialarbeit, Ärzte, Justiz, Politik, auch Post oder Pediküre oder Bio-Bauernhöfe und kommt am Ende zum Ergebnis, dass Müllhalden, auf denen Polizisten „wirklich nur von Abfall umgeben sind“, der richtige Ort sind, da sie sich „unter Ihresgleichen bestimmt auch selber am wohlsten“ fühlten.
Der Text ist vor allem deshalb wichtig, weil er in den folgenden Tagen in Vergessenheit geriet. Die Verteidiger erklärten ihn zur Satire. Satire ist ein entlastendes Argument, weil Satire bekanntlich fast alles darf. Satire ist auch ein tückisches Argument, indem es einen politischen Text entpolitisiert. Der TAZ-Autorin kann eigentlich nicht gefallen, dass ihr Text gezielt verharmlost wurde.
Dann beging Horst Seehofer die Torheit anzukündigen, er werde die Autorin vor Gericht ziehen. Ein Innenminister muss die Polizisten verteidigen, das ist sein Job, wenn eine Journalistin sie mit Müll gleichsetzt. Wie er aber hätte wissen können, löste er mit seiner Drohung eine Welle der Solidarität aus, hinter der der Text nun gänzlich verschwand. Wo es um Pressefreiheit geht, geht es ums Ganze, egal wie man zu einem Artikel steht, das ist der Reflex.
Am Ende der Woche ebbte die Empörungserregung ab. Seehofer will nun keine Anzeige mehr abgeben. Und Yaghoobifarah, die Polizisten auf der Müllhalde entsorgen wollte, bat um Polizeischutz, weil sie bedroht wurde.
Wer einen Sinn fürs Paradoxe, fürs Widersprüchliche und fürs Ironische besitzt, konnte sich amüsieren. Aber wenn es um Identität geht, kommt Spaß zu kurz.
Auf einer anderen Ebene geht der Konflikt weiter. Mohamed Amjahid, auch ein Journalist, hat ein Buch geschrieben, das „Unter Weißen“ heißt. Als die Auseinandersetzung um den Text Yaghoobifarahs tobte, startete er eine Petition zu ihrer Unterstützung. Zu Nils Minkmar, der im „Spiegel“ über den Konflikt schrieb, sagte er: „Leider haben viele Entscheidungsträger in deutschen Redaktionen noch nicht verstanden, dass bei allen Texten und Genres immer die Positionierung des Autors oder der Autorin eine Rolle spielt. Fair wäre es, immer diese Positionierung mitzudenken – anstatt auf objektive Instanz zu machen.“
Die Entscheidungsträger in den Redaktionen sind die Älteren, das ist nun mal so. Sie machen auf objektive Instanz, schon wahr. Man muss sich nur die Titel dieser Woche im „Spiegel“ oder in der „Zeit“ anschauen: Hier heißt es in maximaler Zuspitzung „Tatort Tönnies – Wie das brutale Geschäft mit dem Billigfleisch zur Gefahr für den Menschen wird“. Dort heißt es in abendländischer Zugeneigtheit: „Der Wert der Sprachen. Sie machen einfühlsamer, weltoffener und frischer – bis ins hohe Alter.“
Die Älteren unter uns, wie ich, sind damit aufgewachsen, dass sie sich, pathetisch gesprochen, wenigstens um Wahrheit bemühen wollten, auch wenn sie sich nicht erreichen lässt. Für uns ist es selbstverständlich, im Schreiben von unserer Befindlichkeit oder sozialen Herkunft oder politischen Haltung zu abstrahieren, im Wissen, dass sie davon nicht ganz abstrahieren lässt. Das Ergebnis, wenn es gut geht, ist so etwas wie Fairness oder Abgewogenheit im Urteil.
Trump hat auch mal Recht. Die Kanzlerin ist auch mal zu loben. Polizisten sind in der Mehrheit keine Rassisten. Kritik ist kein Selbstzweck. Subjektivität schwingt mit, ist aber auch kein Selbstzweck.
Die Alternative zum Vorwurf, auf objektive Instanz zu machen, ist auf subjektive Instanz zu machen. Das hat Yaghoobifarah exemplarisch vorgeführt und vor allem unter jüngeren Journalistinnen und Journalisten Verständnis gefunden. Aus ihrer Sicht ist die eigene Biographie ausschlaggebend für das Urteil – eben ihre Identität.
Wer schlechte Erfahrungen mit Polizisten bei irgendwelchen Demos oder Razzien gemacht hat, darf sie auf die Müllhalde wünschen. Die Konsequenz aus diesem Identitäts-Denken wäre: Wer weiß ist, kann nicht über Schwarze schreiben, weil er ihre elementare Erfahrung nicht teilt. Wer nicht queer ist, kann nicht über Queere schreiben, an deren Erfahrung er nicht heranreicht.
Und im Übrigen hieße es auch, dass nur Rechte über Rechte schreiben könnten, weil sie die gleiche Identität haben. Deshalb verwahrten sich die alten Nazis vor 50, 60 Jahren gegen die Kritik der jungen Linken oder Liberalen mit dem Argument, die wüssten gar nicht was es heißt, in einer Diktatur zu leben.
Der entscheidende Einwand gegen Subjektivität als Instanz besteht darin, dass sie nichts darüber aussagt, wo jemand politisch steht. Subjektivität kann rechts sein oder links oder einfach beliebig. Und natürlich kann die Vorliebe für eine objektive Instanz genau so links oder rechts oder beliebig sein.
Entscheidend für journalistische Arbeit ist der Text, was denn sonst. Über ihn lässt sich streiten, egal ob es sich um eine Titelgeschichte über Tönnies oder die Bedeutung von Fremdsprachen oder um einen ätzenden Kommentar über die Polizei oder um diese Kolumne handelt. Ein Text kann zu weit gehen oder nicht weit genug. In ihm schwingt Subjektivität mit, die in der Bemühung um Objektivität nicht untergehen muss.
Was heute in den Redaktionen tobt, ist ein Generationenkonflikt, in dem es auch um Macht geht. Die Jungen wollen etwas anderes als die Alten. Die Alten verteidigen, was sie für richtig halten. Am Ende dürfte, wenn es gut ausgeht, ein Kompromiss stehen zwischen denen, die auf objektive Instanz machen und denen, die auf subjektive Instanz machen.
Veröffentlicht auf t-online, gestern