Vor kurzem habe ich ein Buch gelesen, das auf interessante Weise von uns in Zeiten von Corona handelt. Der Titel lautet schön verrätselt: Der Wal und das Ende der Welt. Geschrieben hat es John Ironmonger, ein Brite. Auf Deutsch kam es vor einem Jahr heraus.
Das Buch handelt von einer Pandemie, die der spanischen Grippe am Ende des Ersten Weltkrieges nachempfunden ist. Das Virus rafft die Jungen dahin. Den Ausnahmezustand verschärft eine Krise im Persischen Golf, weshalb Öl ausbleibt und dem Land der Strom ausgeht. Die Versorgung mit Nahrungsmittel versiegt. Jede große Stadt und jedes keine Dorf ist auf sich allein gestellt. Niemand in London weiß, was im sonstigen England los ist.
Was passiert jetzt mit dem Land? Das Buch ist auch ein Gedankenexperiment, das sich darum dreht, ob Thomas Hobbes recht behält, der britische Geschichtsphilosoph, für den der Mensch des Menschen Wolf ist. Die Konsequenz ist ein autoritärer Staat, der den nackten Egoismus bändigt.
Anders als die Pandemie im Buch rafft das Corona-Virus Alte und Kranke dahin. Auch wissen wir, was anderswo passiert. Deutschland kommt bisher dank rechtzeitiger Maßnahmen einer verantwortungsvollen Regierung mit weniger Infizierten und weniger Toten davon als viele andere Länder. Und dennoch stellt sich die gleiche Frage wie im Buch: Nehmen die inneren Konflikte zu, nimmt der Hass zu, auch die politische Spaltung? Wie wirkt sich die Krankheit gesellschaftlich aus?
Ich glaube, dass der Ausgang noch offen ist. Ich glaube auch, dass der Unmut wächst, die Ungeduld. Die Jagd nach Sündenböcken ist eröffnet, wie man an den Verschwörungstheorien absehen kann und am Hass, der sich im Netz gegen Bill Gates genau so wie gegen die Kanzlerin oder Kommunalpolitiker ergießt. An die Spitze hat sich die „Bild“-Zeitung mit ihrer Verleumdungsarie gegen Christian Drosten gesetzt, den Virologen und Berater der Bundesregierung.
Wir leben jetzt in der dritten Phase der Corona-Zeit. In der ersten gab es großes Vertrauen in die Ruhe und Kompetenz der Kanzlerin. Weder ging sie soweit wie Frankreich oder Spanien, die Ausgangssperren verhängten, noch unterschätzte sie das Virus ähnlich wie Boris Johnson oder Donald Trump. Im richtigen Augenblick, das war die zweite Phase, ließ die Kanzlerin Lockerungen zu und trat die Verantwortung für die konkrete Umsetzung an die Ministerpräsidenten ab, so dass Bayern restriktiv handeln darf und Baden-Württemberg oder Thüringen weiter gehen können. So finden nun Geisterspiele in der Bundesliga statt, können wir Restaurants besuchen und Motorboot fahren, die kleinen Kinder stundenweise die Kita schicken und Urlaub planen, immerhin.
In der dritten Phase entscheidet sich, was Deutschland nach der Pandemie für ein Land sein wird. Der Deutungskampf ist schon ausgebrochen, dafür sind die Verschwörungstheoretiker vom Schlage Ken Jebsen oder Attila Hildmann die Vorboten. Ich glaube, dass solche Jahrmarktschreier ihre Stunden haben und danach im schwarzen Loch des Internet verschwinden.
Grundstimmungen ändern sich so schnell nicht, es sei denn den Regierungen unterlaufen schwerwiegende Fehler oder Fehleinschätzungen. Kann passieren, muss aber nicht. Die Rechte hofft darauf, dass sich 2015 wiederholt, als zuerst eine Welle der Solidarität durchs Land ging, bevor die AfD ihre Geburtsstunde als nationalkonservative bis halbfaschistische Partei erlebte. Momentan sieht es nach dem Gegenteil aus, der Wiederauferstehung der CDU/CSU als Volkspartei.
An der Grundstimmung dürfte sich erst einmal nichts ändern. Die Deutschen genießen das Mehr an Beweglichkeit bei schönem Wetter, freuen sich auf ihren Urlaub, der sie vermutlich an andere Orte als gedacht führen wird. Nach den Ferien öffnen Kitas und Schulen. Gesichtsmasken und Abstand bleiben Alltag. Normalität und Ausnahmezustand existieren nebeneinander.
Was wird, entscheidet sich im Herbst. Dann zeichnet sich die Tiefe der Rezession ab und zeigt sich die Wirkung der Milliarden-Programme. Vieles hängt davon ab, wann es Medikamente für die Infizierten gibt und wann einen Impfstoff für uns alle.
Und wie sieht das Deutschland dann aus? Ich hoffe, im Großen und Ganzen wie zuvor, nur ein bisschen geläutert, vielleicht auch ein bisschen demütiger, sogar dankbar für gute Führung in schwieriger Zeit. Demokratien kommen besser mit unbekannten Krisen klar, das sollte eine Corona-Botschaft sein. Parlamentarismus verdient Respekt, weil aus seiner Mitte das richtige Führungspersonal im richtigen Moment aufsteigt.
Im Buch bekommt Thomas Hobbes mit seinem pessimistischen Menschenbild nicht recht. Die Menschen fallen nicht übereinander her, sondern helfen einander. Sie üben Solidarität und werden mit der schrecklichen Krise besser fertig als befürchtet. Das Buch hat ein versöhnliches Ende.
Das lässt hoffen für uns und unsere Krise. Dann bekommt Immanuel Kant Recht, der deutsche Philosoph mit seinem skeptischen Optimismus. Der Mensch mag aus krummem Holz sein, aber er weiß gutes Regieren zu schätzen und er ist gut beraten, wenn er andere Menschen so behandelt, wie er selber behandelt werden möchte.
Dann hätte die Pandemie sogar ein happy ending.
Veröffentlicht gestern auf t-online