Gegen alle Feinde gleichzeitig

Der Nahe Osten ist eine Region, in der es immer nur bergab zu gehen scheint. Kein Aufatmen, enttäuschte Hoffnungsschimmer. Kein Ende der Erbfeindschaften. Wenn es schlimmer kommen kann, dann kommt es auch schlimmer, nach aller Erfahrung. Und diesmal?

Israel ist offensichtlich die stärkste Militärmacht mit dem besten Geheimdienst in dieser Weltgegend. Gleich in der ersten Angriffswelle kamen zwei prominente Pfeiler der stolzen iranischen Streitkräfte ums Leben. Es handelte sich um den Oberbefehlshaber der Streitkräfte und den Oberbefehlshaber der Revolutionsgarden. Der Mossad hat einen guten Ruf, aber es ist kaum zu glauben, dass er alleine vorging. Er muss wohl hochrangige Helfer im Inneren haben, die wussten, wann sich die beiden Militärs an welchem Ort aufhalten würden.

Jetzt muss sich der geistliche Führer Ali Chamenei fragen, ob sie auch ihn töten könnten und wahrscheinlich wäre die richtige Antwort: gut möglich.

Israel überraschte Iran und die Welt mit seinem Angriff auf Iran. Kriege brauchen längeren Vorlauf und präzise Planung. Dass Iran  geschwächt ist, trieb den Wunsch nach Aktion sicherlich voran.

Israel scheint militärisch und strategisch Iran überlegen zu sein. Nun aber ist Israel gleich in mehrere Kriege verwickelt. Es versucht momentan, den Libanon unter Kontrolle zu halten. Dann setzt es die Bodenoffensive in Gaza fort und führt jetzt auch noch Krieg gegen Iran. Dazu kommt, dass der Ausbau der Siedlungen im Westjordanland ebenfalls militärischen Schutzes bedarf.

Kriege und Konflikte an mehreren Fronten bergen große Risiken und überfordern auch größere Staaten als Israel. Kann das gut gehen?

Israel ist ein kleines Land. Rund 170 000 aktive Soldaten umfassen die Streitkräfte. Dazu kommen 465 000 Reservisten, die sich zur Mehrzahl freiwillig an eine der Fronten melden. Der entscheidende konventionelle Vorteil für Israel ist die High-Tech-Ausrüstung des Militärs, die Überlegenheit im Krieg gegen Iran garantiert. Aber wie lange bleibt das so?

Wie es weitergeht, hängt entscheidend von Donald Trump ab. Ihm wurden gerade wieder einmal die Grenzen seiner Allmacht aufgezeigt. Denn er wollte ja einen Vertrag mit Iran schließen, der das Atomprogramm verzögert hätte. Daher bat er Netanjahu, still zu halten, um den Deal nicht zu gefährden. Aber der israelische Premier setzte sich darüber hinweg. Er informierte den amerikanischen Präsidenten offenbar erst 24 Stunden vorher von seinem Entschluss, die Atomanlagen in Natans, Fordow und Isfahan zu bombardieren. 

Eigentlich müsste Trump, gemäß seinem Naturell, auf Rache sinnen, weil er übergangen worden ist. Er übt jedoch Nachsicht mit Netanjahu, der ihm anscheinend in seiner Kompromisslosigkeit imponiert. Nun droht er Iran mit schrecklichen Konsequenzen, falls die Mullahs auf die Idee kommen sollten, etwa US-Truppen in der Region anzugreifen. Im selben Atemzug bietet er ihnen erneut einen Deal über das Atomprogramm an. 

Trotz des israelischen Alleingangs bleiben die USA die Schutzmacht. Sollte das kleine Land in nächster Zeit in militärische Schwierigkeiten geraten, bliebe Trump wohl nichts anderes übrig, als rettend einzugreifen. Aus dem Friedensstifter, der Trump sein möchte, könnte dann ein widerwilliger Kriegsherr werden. Seinen Vorgängern erging es ähnlich.

Selbstverständlich hängt auch viel von Irans Reaktion ab. Wie es aussieht, lässt sich an der militärische Unterlegenheit nichts ändern. Dieser unerfreuliche Umstand könnte das Regime aber auf andere Ideen bringen, zum Beispiel darauf, die Straße von Hormuz zu blockieren. Durch die Meerenge fahren Tanker aus den Golfstaaten, um Öl und Gas in die Welt zu exportieren. Für die Blockade könnten versenkte Schiffe oder auch Seeminen sorgen. Die bloße Aussicht, dass Iran den Schiffsverkehr lahmlegen könnte, treibt die Ölpreise schon jetzt hoch.

Und Israel? Steckt eigentlich eine umsichtige Strategie hinter Netanjahus Vorgehen? Oder reiht sich Krieg an Krieg, wie es sich eben ergibt?

Der israelische Präsident tritt in doppelter Gestalt auf. Einerseits ist er der Kriegsherr, der die Feinde Israels entscheidend schwächt: im Gaza die Hamas, im Libanon die Hisbollah. Iran ist die Spinne im Netz, die auf Hegemonie in der Region abzielt und mit Atombomben absichern will. Derzeit aber ist das Regime geschwächt. Aus seiner Sicht nutzt Netanjyhu die Gunst der Stunde und nimmt es gleichzeitig mit allen Feinden auf.

Für den Versuch, das Gleichgewicht in der Region zugunsten Israels bleibend zu verändern, erntet Netanjahu im eigenen Land Anerkennung. Der bestmögliche Effekt wäre es, wenn die Hilflosigkeit der Mullahs einen Aufstand im Land auslösen würde.

Ist das realistisch? Meist ist es so, dass Kriege erst einmal auch auch polarisierte Länder zusammen schweißen. Israel nach dem Massaker am 7. Oktober 2023 ist das beste Beispiel für diesen Effekt.

Andererseits will Netanyahu der Schöpfer eines Groß-Israels sein, das sowohl das ganze Westjordanlandes als auch Gaza umfasst. Das ist vor allem der Traum der nationalreligiösen Minister in der Regierung Netanjahu. Sie arbeiten darauf hin, dass für dieses Ziel zwei Millionen Palästinenser aus dem Gaza vertrieben werden.

Was ist zu erwarten? Vieles ist möglich, aber für Prognosen über die Entwicklung des Krieges und seine Folgen ist es noch zu früh. Wie immer im Nahen Osten muss man das Beste hoffen und auf das Schlimmste gefasst sein. 

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Verirrt am goldenen Strand

In meinem Sonnensystem spielten die Beach Boys auf einem eigenen Planeten. Ihre Songs erzähltvom Surfen an Stränden, bevölkert mit schönen Frauen in einem fernen Land, das Kalifornien hieß. Wer diese Lieder in Oberfranken hörte, bekam Sehnsucht nach dieser wunderbaren Welt. Brian Wilson war der Kopf der Beach Boys und wie sich herausstellte, nicht identisch mit den Liedern, die er schrieb und sang.

Mitte der 1960er Jahre explodierte die Pop-Musik und riss uns in ihr Universum. Sonntagabends um 23 Uhr war Gottesdienst mit „Top of the Pops“ auf Radio Luxemburg. Wer cool sein wollte, musste ganz schnell die neuesten Liedtexte auswendig kennen. Unser Taschengeld ging für Platten drauf und wenn es nicht reichte, dann mussten wir sie eben klauen.

Bands kamen aus dem Nichts und verglühten gleich darauf im Orbit. Es gab neue Stars, es gab Bands wie Sand am Meer und immer neue Lieder zum Niederknien. „Good Vibrations“, der beste Song der Beach Boys, höre ich heute noch mindestens einmal pro Woche.

Die Beach Boys erschufen sich ihre eigene Welt und Brian Wilson war ihr Schöpfer. Das Leben war ein einziger Strandtag. Ja, es gab zugleich die Bürgerrechtsbewegung, aber dafür waren andere zuständig, etwa Bob Dylan und Joan Baez. Die Beach Boys sangen choral mit schönen Stimmen Lieder wie „Surfin USA“, „California Girls“, „Fun, Fun, Fun“. Sie beschworen ein wunderbares Idyll herauf, gegen das Schlimme in der Welt.

Das Absurde war, dass Brian Wilson das krasse Gegenteil des braungebrannten Surfers war, den die Frauen belagern. Für den enormen Erfolg, der auf die Beach Boys niederging, war er nicht geschaffen. Er war eine introvertierte Seele und eigentlich ist es erstaunlich, dass er den Irrsinn überlebte. Eines seiner Lieder, „In my room“, erzählt von seinem drängenden Wunsch nach Rückzug an einen verschwiegenen Ort, aus dem die Welt ausgeschlossen bleibt. Der Song hört sich im Nachhinein wie der Vorsatz für ein einsames Leben an.

Die „Beach Boys“ waren ein Familienunternehmen aus drei Brüdern und zwei Cousins. Als sie ganz groß im Geschäft waren, machte Brian nicht mehr mit. Er konnte nicht mehr, er war dem Irrsinn nicht gewachsen. Er zog sich zurück und begann sein Werk der Selbstzerstörung. Er schluckte alles an Alkohol, was es zu schlucken gab. Er warf alles an Drogen ein, was es einzuwerfen gab. Er stopfte Essen in sich hinein, was er in sich hineinstopfen konnte. Der Bassist mit den sonnigen Songs platzte auf zum einem Vier-Zentner-Monstrum.

Brian Wilson war auf dem langen Weg in den Tod oder genauer gesagt in den Selbstmord. Die Geschichte dieser Jahre schilderte er ohne Selbstmitleid in seinen Memoiren. Die Pop-Geschichte ist gepflastert mit Tragödien.

Irgendwann in den 1990er Jahren war Brian Wilson wieder da, gefeiert als Heimkehrer in die Pop-Welt, als wieder geborenes Genie. Aber wie war er da? Die Stimme ruiniert durch den Hyperkonsum an Zigaretten. Auf der Bühne steht er verloren herum; sie ist weniger denn je seine Welt. Fragen beantwortet er einsilbig. Der Jubel über den wiedergekehrten Star geht in verlogenes Mitleid in das Wrack über, das er ist. Sein Leben bleibt das Drama, das es schon so lange war. 

Nun ist Brian Wilson tot. Möge er Ruhe finden, die ihm im Leben versagt war. Was aber für immer von ihm bleiben wird, das ist seine Musik. Wer mag, kann ja „Good Vibration“ auflegen, dieses Lied über das positive Lebensgefühl, das er und die anderen Beach Boys uns geschenkt haben.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Auf menschlich niedrigster Stufe

Friedrich Merz darf sagen, er sei dabei gewesen, als es los ging –  eher verhalten noch, aber mit der Ahnung, dass bald Worte wie Drohnen fliegen würden. Unser Kanzler saß in gelassener Verbindlichkeit auf seinem Stuhl im Oval Office, als Donald Trump in seiner unnachahmlichen Art Fragen von Journalisten so beantwortete: Er sei enttäuscht von Elon, über seine Undankbarkeit, er habe doch so viel für ihn getan. 

Natürlich ist Voyeurismus verständlich, wenn zwei Ausnahmemenschen entfesselt auf einander losgehen und sich mit wüsten Drohungen belegen. Vernichtungsphantasien brechen offenbar immer durch, wenn Elon Musk und Donald Trump Feinde identifizieren. Und zu Feinden sind sie blitzschnell geworden, auch wenn sie gerade noch Zwillinge im Geiste im Kampf gegen Staat und Demokratie waren, um daraus mindestens eine Autokratie zu formen.

Kulturell ist dieser Kampf der Giganten eine Katastrophe. An Schamlosigkeit, an Bösartigkeit, an Unanständigkeit sind sie nicht zu überbieten. Trump will Musk am liebsten finanziell ruinieren, während Musk den Präsidenten nur zu gerne stürzen würde. Trump redet über Musks Drogenkonsum, Musk redet über Trumps Nähe zu einem Päderasten-Ring.

So kann sich Narzissmus auf menschlich niedrigster Stufe austoben. Der Grund für den Machtkampf ist fast vergessen. Musk findet Trumps Steuerreform, die Reiche entlastet und Arme benachteiligt, völlig falsch, weil sie das Horror-Defizit des Staates, 36,5 Billionen Dollar, noch höher treibt.

In einer tieferen Schicht findet derzeit in Amerika eine klassische Auseinandersetzung statt, welche die Demokratie seit je her begleitet. Wem fällt der Primat zu – Politik oder Wirtschaft? Auf den Höhepunkt getrieben wird dieser Machtkampf, weil es sich bei Trump um den Präsidenten einer Supermacht und bei Musk um den reichsten Mann der Welt handelt. Da Trump aber selber seine Macht in Form von Wirtschaftsdeals ausübt und als der Präsident in die Geschichte eingehen dürfte, der beispiellose Selbstbereicherung betrieben hat, entbehrt die Auseinandersetzung nicht einer gewissen Ironie.

Das Feld, auf dem sich diese denkwürdige Auseinandersetzung entfaltet, ist der Kapitalismus. Selbstverständlich bildeten die beiden eine Zweckgemeinschaft vor der Wahl und auch danach. Was Elon Musk in Trumps Kampagne steckte, 275 Millionen Dollar angeblich, will er zurück haben und zwar in Form von Regierungsaufträgen für seine Weltraumfirma SpaceX und von Subventionen für seinen Tesla-Konzern.

Trump zahlte zuerst einmal zurück mit Nähe, so dass Musk im Oval Office ein und ausging, als wäre er ein zweiter Präsident. Dazu bekam er den privilegierten Auftrag zur Zerschlagung der Bürokratie.

Ähnliche Revolutionen, ökonomisch wie kulturell, unternahmen auch andere Präsidenten, zum Beispiel Ronald Reagan. Aber in den 1980er Jahren kam er ohne egomanes Dauerfeuer aus, im eigenen Land wie auch im Verhältnis zu den Verbündeten. Der Feind stand im Osten, die Sowjetunion.

Damals stand der Dualismus von Kommunismus und Kapitalismus vor dem Ende. Beide Systeme hatten jahrzehntelang die bessere Moral, die besseren Werte für sich reklamiert. Seit 1989 gibt es aber nur noch den Kapitalismus, der jetzt konkurrenzlos um sich selber kreist. Die rohe, bedenkenlose, kompromisslose Erscheinungsform wird heute vertreten durch Trump samt seinen Anhängern an der Wall Street und den Tech-Oligarchen an der Westküste, deren Megaphon Musk ist.

Es versteht sich, dass Amerika das Duell liebt. Aber wer gewinnt? Die salomonische Antwort lautet: keiner von beiden. 

Der Präsident droht Musk allerlei an: Die Regulierungsbehörden könnten Untersuchungen über sein Geschäftsgebaren aufnehmen; damit ließ sich ihm schaden. SpaceX, der Raumfahrtkonzern, käme ohne Staatsaufträge in Schwierigkeiten. „Die einfachste Art, Milliarden Dollar im Budget zu sparen, ist es, Elons Subventionen und Kontrakte zu streichen,“ schrieb der Präsident auf seiner Medien-Platform „Truth Social“.

So einfach ist es aber nicht. So schnell kriegt der wütende Präsident den reichsten Mann de Welt nicht los. Dummerweise ist er auf ihn angewiesen.

Denn das Pentagon und die Nasa sind abhängig von SpaceX, das Raketen und Satelliten ins All schicken kann. Sollten die Kontrakte wirklich gestrichen werden, dann könnte Amerika auf absehbare Zukunft keine Astronauten mehr auf die Umlaufbahn schicken. Außerdem wäre damit auch ein Lieblingsprojekt des Präsidenten gefährdet, die „Mission Dragonfly“, eine nuklear angetriebene Drone, die im Weltraum platziert werden soll, um Amerika unverwundbar zu machen. Davon abgesehen, würden enorme Summen für die Beendigung der Verträge fällig.

Der Rachelust, bei beiden gleichermaßen hoch entwickelt, den anderen vom Thron zu stürzen, sind Grenzen gesetzt. Diese Einsicht ist vermutlich in Washington wie im Silicon Valley verbreitet. Deshalb arbeiten dienstbare Geister schon daran, die beiden zur Vernunft zu bringen – was, zugegeben, eine wahrlich undankbare Aufgabe ist.

Denn beide müssen sich an den Gedanken gewöhnen, dass sie nur in ihrer Phantasie allmächtig sind.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

„Ein Zeichen der Schwäche“

Am Donnerstag also wird unser aller Kanzler im Weißen Haus vorstellig werden. Um diesen Termin ist er nicht zu beneiden. Man kann nur hoffen, dass seine Ratgeber im Kanzleramt viele Möglichkeiten durchspielen, die eintreten können.

Trump und sein Vize J.D. Vance finden Gefallen daran, tückisch sein, wie wir wissen. Volodymyr Selenskji fiel aus allen Wolken, als sie im Duo über ihn herfielen. Cyril Ramaphosa erwartete auch kein Video von gepeinigten Weißen in Südafrika sehen zu müssen, die aus dem Land flüchten. Dass Aufnahmen dabei waren, die aus dem Kongo stammten: Stört doch keine großen Geister.

Man muss sich warm anziehen, wenn man in das Drachennest eigeladen wird. Man kann sich auf vieles einstellen, man muss sogar das Unmögliche für möglich halten. Aber letztlich hängt es von Donald Trump ab, wie der Besucher behandelt wird, von seiner Laune, vom Pegelstand seiner Ressentiments.

Die jüngsten amerikanischen Einlassungen zu Deutschland lassen nichts Gutes erwarten. Ginge es nach Trumps Hofstaat, dann würde in Deutschland die AfD regieren, in Österreich die FPÖ, in Polen wieder die nationalkonservative Pis-Partei und in Frankreich Marine LePen Präsidentin sein. Und jeder von ihnen würde nachmachen, was Amerika vormacht. Lauter kleine Trumps.

In diesem Bild von der Welt fiele Europa zurück in die Kleinstaaterei und Brüssel wäre nicht länger die Hauptstadt einer Großmacht, die es nicht schafft, Großmacht zu sein. Soweit sollte es nicht kommen, oder?

Aus Sicht der Trumpisten erscheint in Gestalt von Friedrich Merz ein Deutschland, das auf Kosten der USA lebt, militärisch und ökonomisch. Auch die Nato beutet sein Land aus, weil sich die Mitgliedsstaaten nicht an ihre Verpflichtungen halten und erst unter Dauerfeuer Besserung geloben. Und überhaupt sind Bündnisse des Teufels, wenn die USA für andere einstehen soll. Alles schlechte Deals nach dem Willen und der Vorstellung des 47. Präsidenten der Vereinigten Staaten.

Disruption ist sein Lebenselixier, das wissen wir auch. Aber warum legt er die Axt an erprobte Bündnisse, die für Amerikas Interessen als Weltmacht viele Jahrzehnte vorteilhaft waren?

So harmonisch, wie es im Nachhinein erscheint, war das Verhältnis zischen Deutschland und Amerika nur selten. John F. Kennedy brauchte nach dem Mauerbau fast zwei Jahre für seinen berühmten Besuch in Berlin. Richard Nixon traute der deutschen Entspannungspolitik in den 1970er Jahren nicht über den Weg. Und als Ronald Reagan, wieder in Berlin, im Jahr 1987 seinen prophetischen Satz in Richtung Michail Gorbatschow sagte: „Reißen Sie die Mauer nieder,“, da war die Regierung Kohl/Genscher nicht sonderlich amüsiert. Damals befand sie sich noch im Status quo der Beschwichtigung.

Barack Obama liebten die Deutschen; er war der letzte Präsident, dem echte Zuneigung widerfuhr. Und Donald Trump spricht nun brutal und vulgär  aus, was sich in Washington halblaut über die Jahre an Kritik an Nato und Europäischer Union aufgebaut hatte. 

Es fällt natürlich leicht, den Temperatursturz ausschließlich auf Trump zu schieben. Aber man kann die Dinge auch historisch einordnen.

Vielleicht kommen Historiker dereinst zu dem Ergebnis, dass die große Disruption im Jahr 2025 auf 1989 zurückzuführen ist. Damals wie heute brach eine Weltordnung zusammen. Damals wie heute wurde eine Supermacht degradiert. Denn der Blick auf die Welt, wie sie im Weißen Haus üblich ist, sieht überall nur Verfall. Im eigenen Land sowieso, wobei die Errichtung neuer Zollmauern zur Regeneration beitragen soll. In der Welt auch, da die Globalisierung die USA benachteiligt, so sehen sie es im Weißen Haus.

Natürlich ist die schwere Krise, in der Amerika steckt, mit dem Kollaps des Kommunismus nicht zu vergleichen. Es ist auch wahr, dass 1989 Amerika der große Sieger der Geschichte war und sich auch so fühlte. Wenig später aber leistete es sich zwei Kriege im Irak und in Afghanistan, die ihr endgültig den Zauber nahm, die Weltmacht zu sein, die Demokratie zum Heil der Menschheit verbreitet.

Im Windschatten schwang sich China zur neuen Weltmacht auf, zu einem wahren Konkurrenten, ökonomisch wie militärisch. Und das Trump-Amerika wütet nun gegen die alten Bündnisse, weil sie in der historischen Auseinandersetzung unnütz zu sein scheinen. „Trumps Schocktherapie ist ein Zeichen von Schwäche,“ schreibt die „Neue Zürcher Zeitung“. Der Präsident sorgt für eine neue Weltunordnung, aber sein Irrlichtern deutet darauf hin, dass Amerika seinen Platz darin erst noch finden muss.

Unter diesen Umständen fällt es natürlich schwer, im Weißen Haus über gemeinsame Werte und gemeinsame Interessen zu reden. Versuchen kann es der Kanzler, muss ja sein, aber darin steckt ein Risiko. Vermutlich wird Friedrich Merz viele Fragen stellen, natürlich milde und vorsichtig, um den neuesten Stand der Dinge zu erfahren, zum Beispiel über Trumps Haltung zu Putin, die sich gleich darauf wieder ändern könnte, so ist das nun einmal.

Und vielleicht sollte Merz zur Entspannung gleich eine Einladung aussprechen – ins pfälzische Kallstadt, wo Trumps Ahn nach Amerika aufbrach. Damit es ihm nicht so ergeht wie Selenskji und Ramaphosa.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Als Oskar davon lief

Neulich trat Oskar Lafontaine wieder mal in einer Talkshow auf. Natürlich ist er alt geworden, wie denn auch nicht. Bald wird er 82, die Stimme ist leicht brüchig, aber die Gesten sind unverkennbar und die Thesen wie immer messerscharf. Der Oskar, wie ihn alle noch nennen, bleibt eben der Oskar.

Ein Phänomen ist er in der Geschichte der Nachkriegsrepublik. Niemand ist so oft in eine Partei eingetreten und wieder ausgetreten. Entweder hielten sich die Genossen und Genossinnen an seine Maßgaben oder er warf ihnen Abtrünnigkeit von ihren Zielen vor und ging davon. Niemand außer ihm war Vorsitzender von gleich drei verschiedenen Parteien.

Dabei ist gar nicht zu übersehen, dass die SPD sein Leitgestirn geblieben ist, ein negatives Leitgestirn. Zuerst arbeitete er sich intern an ihr ab, dann extern. Erst wollte er ihr Kanzler sein, dann wenigstens mit ihr regieren. Renegaten leiden eben an der Glaubensorganisation, die sie verlassen und bleiben lebenslang an sie gebunden.

Heute ist es 20 Jahre her, dass Lafontaine seine Mitgliedschaft in der SPD aufkündigte. Eigentlich ein spektakulärer Akt, da er so vieles dank seiner Partei gewesen war: Oberbürgermeister in Saarbrücken in jungen Jahren, Landesvorsitzender, Jungstar und Protégé von Willy Brandt, Liebling der Partei, Kanzlerkandidat, Parteivorsitzender, Finanzminister in der Regierung Schröder/Fischer. Warum bricht so jemand aus?

Weil er sich von der SPD schlecht behandelt fühlte. Weil er für sie sein Leben aufs Spiel setzte und in jenen schlimmen Tagen nach dem Attentat die Genossen ihn nicht getragen, sondern getrieben haben. Und weil sie später zuließen, dass Gerhard Schröder den Machtkampf gegen ihn gewinnen durfte.

Die größtmögliche Zäsur in Oskar Lafontaines Leben ist der  Anschlag auf sein Leben am 25. April 1990, als eine psychisch kranke Frau mit dem Messer seine Halsschlagader nur knapp verfehlte. So ein Ereignis verändert jeden Menschen. Es nahm Oskar Lafontaine, dem furchtlosen Shooting Star der deutschen Politik, dem alles gelang, die Leichtigkeit und das Grundvertrauen.

Lafontaine nahm sich nicht die Zeit zum Regenerieren, zur Besinnung. Seine Partei gönnte ihm auch keine Pause. Sie erwartete von ihm, dass er wie vorgesehen im Dezember 1990 die Bundestagswahl gegen Helmut Kohl gewinnen würde. Dabei übersah sie und übersah auch Lafontaine selber, dass er der falsche Kandidat zur falschen Zeit war, da ihn die Wiedervereinigung kalt ließ. Berühmt der abschätzige Satz, Paris liegt mir näher als Leipzig.

Wer zynisch sein wollte, machte daraus: Honecker, der andere Saarländer, lag ihm näher als Kohl.

Oskar Lafontaine schwamm im Gefühlsstrom der friedlichen Revolution nicht mit. In der Pose des Propheten sah er die ökonomischen Schwierigkeiten voraus, die Massenarbeitslosigkeit, die damit einher gingen. Aber zu diesem Zeitpunkt wollten die ostdeutschen Wähler Kassandra nicht hören und belohnten den Kanzler, der ihnen blühende Landschaften versprach.

Oskar Lafontaine hatte recht, doch bekam er nicht recht. Er fühlte sich schlecht behandelt – von der SPD, von den Wählern, von der Geschichte. Aber noch war er der Liebling der Partei und der linksliberalen Medien. Und natürlich das größte Talent seiner Generation.

Aber da war noch ein anderer, der ihm 1998 sogar die erstrebte Kanzlerschaft wegnahm und ihn dann im Kabinett als Finanzminister sogar maßregelte. Gerhard Schröder war Lafontaine nicht an Machtbewusstsein überlegen, sondern an Zielstrebigkeit und an Einsicht ins Notwendige. Wer Kanzler war, konnte nicht gegen die Konzerne regieren. Wenn die Arbeitslosigkeit 10,5 Prozent erreichte, musste die Agenda 2010 her. 

Oskar Lafontaine fand Rücksicht auf die Wirtschaft grundsätzlich falsch und warf hin – als Finanzminister, als Parteivorsitzender. Ikonographisch das Foto mit seinem Sohn auf den Schultern, schief grinsend vom Balkon seines Hauses, auf das sich Hunderte Kameras richteten. Ihr könnt mich mal, war die Botschaft.

Im Grunde brach Oskar Lafontaine schon im April 1999 mit der SPD. Erst sechs Jahre später sah er aber eine Alternative für sich. Bald war er Vorsitzender der WASG, der Ex-Sozialdemokraten und Gewerkschaftler angehörten. Als sie mit der PDS zu „Die Linke“ fusionierte, war Lafontaine wieder Vorsitzender. Als ihm auch diese Partei zu lasch wurde, dachte er sich mit seiner Frau Sahra Wagenknecht das BSW aus. Bei der Gründung hielt nicht sie, sondern er die Hauptrede.

Was sollte das Ganze? Lafontaine wollte irgendwann mal mit der SPD eine Regierung bilden, die sich wirklich für die Entrechteten und Wurzellosen einsetzen sollte, damit sie nicht zur AfD überliefen. Daraus ist nichts geworden. Vor wenigen Jahren bedauerte Lafontaine sogar, dass er aus der SPD ausgetreten sei. Manchmal scheint sie ihm zu fehlen, die alte Bedeutung.

Und fehlt er der SPD? Ja und nein. Ihr fehlt der unruhige Geist, der Entwicklungen früh erkennt und Konsequenzen einfordert. Schon 2017 verlangte Oskar Lafontaine nach härterem Übergang mit Geflüchteten und schlug vor, das Asylrecht zu ändern. Der SPD fehlt auch ein ähnlich charismatisches Talent, das sogar sehr.

Ihr fehlt aber nicht der irrlichternde Rechthaber, der noch wenige Tage vor dem Überfall auf die Ukraine von Kriegspropaganda des Westens fabulierte und heute noch Putin in Schutz nimmt. Die Mischung aus Antiamerikanismus und Pro-Russlandismus bringt Lafontaine heute in die Nähe der AfD.

Alles in allem ist der  Oskar Lafontaine der letzten 20 Jahre ein Gescheiterter. Viel versucht, wenig geglückt. Viel gewechselt, wenig gewonnen. An Verstand und Charisma mangelte es ihm nicht. An Stetigkeit schon und auch an der Größe, aus Niederlagen zu lernen. Sonst wäre er nicht aus der SPD ausgetreten und hätte sich ein paar Irrläufe erspart.

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.

Treib’s nicht zu weit

Benjamin Netanyahu hat gerade eine neue Offensive im Gaza angekündigt und will „bis zum Ende gehen“, wobei man sich fragen muss, was sich in diesem Jammertal noch militärisch eskalieren lässt. Seit März dürfen keine Lastwagen mit Lebensmitteln, Medizin usw. hineinfahren. Das Elend, das die Hamas mit ihrem mörderischen Angriff vor 19 Monaten ausgelöst hatte, schreit zum Himmel. Längst geht es um die dauerhafte militärische Besetzung des Küstenstreifens mit dem Ziel der partiellen Entvölkerung. In Washington reden sie davon, dass eine Million Palästinenser aus dem Gaza nach Libyen umgesiedelt werden sollen. Niemand weiß, ob es sich nur um ein Gerücht handelt oder um ernsthafte Bestrebungen und was Donald Trump davon hält.

Morgen treffen sich die Außenminister der Europäischen Union, um über ihr Verhältnis zu Israel zu diskutieren. Holland und Frankreich treten dafür ein, das Assoziierungsabkommen sofort auszusetzen. Dieses Abkommen aus dem Jahr 2000 regelt die Zusammenarbeit mit Dialog auf Ministerebene, mit Kapiteln über wirtschaftliche Kooperation, die Finanzdienstleistungen genauso wie Tourismus umfasst. In Artikel 2 steht aber auch ein Hinweis auf die Einhaltung der Menschenrechte, die in Gaza grell unberücksichtigt bleiben.

Zur Aussetzung oder gar Kündigung des Abkommens wird es jedoch nicht kommen. Dazu wäre die Zustimmung aller 27 Mitgliedsländer nötig. Aber Österreich, Ungarn und Deutschland legen ein Veto ein. Dabei quält sich vor allem Deutschland mit dem permanenten Gaza-Krieg, weil die Existenz Israels zum Bestandteil der eigenen Staatsraison gehört. Daher fühlen sich die Regierungschefs und Außenminister in der eigentlichen notwendigen Kritik an Netanyahu gehemmt. 

Ohnehin ist der Einfluss der EU auf den Nahen Osten gering. Daran würde die Aussetzung des Assoziierungsabkommens nichts ändern. Das Monopol auf Einfluss üben die USA aus, wie sich gerade wieder erweist. Und wie Donald Trump dabei vorgeht, muss Israel beunruhigen, wenn nicht alarmieren, denn es geht um Iran und Syrien.

Netanyahu wiegte sich noch vor kurzem in der Illusion, dass Israel unter der Schirmherrschaft der Trump-USA den geschwächten Iran militärisch angreifen und dessen Atomanlagen zerstören würde. Statt dessen legten die Trump-Leute jetzt den Mullahs einen Vertrag vor, der sich mit der Verlangsamung des Atomprogramms zu begnügen scheint. Teheran habe „gewissermaßen den Bedingungen zugestimmt“, sagte Trump. Was immer aus diesem Satz folgen mag, bleibt die bloße Tatsache der Verhandlungen ein schwerer Schlag für den kriegsversessenen Premier Israels.

Auch in Syrien nutzte die israelische Luftwaffe in den vergangenen Wochen die Schwäche der Übergangsregierung mit Luftschlägen auf ausgewählte Ziele aus. Nun aber hat sich Donald Trump mit dem Präsident Ahmed al-Schaara getroffen, den er im Bewunderungston „stark“ und „einen Krieger“ nannte. Ihm stellte er die Aufhebung der Sanktionen in Aussicht. Eine historische Zäsur, was denn sonst.

Aus Israels großem Freund Donald Trump, der Netanyahu freie Hand ließ, ist jetzt nicht etwa ein Feind geworden. Er führt nur vor, was ihm wichtig ist. Unübersehbar ist auch, dass dieser Präsident sich nicht in Kriege hineinziehen lassen will. Deshalb reduziert er das Engagement in den Konflikten mit Ewigkeitspotential, was Syrien ebenso einschließt wie Iran.

Was bedeutet das alles für Israel? Zudem der US-Präsident auf seiner Tour durch die Golfstaaten Israel mied, was einem Affront gleichkommt?

Natürlich bleibt das Sonderverhältnis zur USA bestehen. Es hat aber Grenzen, die Trump nach Bedarf zieht. Dass er sich zu Gaza äußern werde, hat er gerade angekündigt:  „Wir werden uns darum kümmern.“  In Washington grassiert die mögliche Botschaft an Netanyahu: Tu das nicht, treib’s nicht zu weit, lass es sein. Was damit konkret gemeint ist? Weiß Trump vielleicht selber noch nicht.

Soweit Trump eine Doktrin hat, gehört der Rückzug aus Europa und dem Nahen Osten zu deren Bestandteilen. Soweit ein Ziel zu erkennen ist, ist es die Konzentration auf die historische Auseinandersetzung mit China.

Momentan steht Donald Trump unter dem Eindruck der Reise in die Golfstaaten. Deren Herrscher hofierten und umschwärmten ihn so, wie er es liebt, inklusive der Morgengabe einer Boeing 747 für den späteren Privatgebrauch. Saudi-Arabien verspricht, gewaltige Summen in den USA zu investieren und bestellt Rüstungsgüter in Höhe von 148 Milliarden Dollar. Die Emirate versprechen Gleiches.

Trump liebt Autokraten, weil sich mit ihnen unvorstellbare Geschäfte machen lassen. Und nicht nur er persönlich, sondern auch seine Unternehmen haben den Nutzen davon: Nebenbei entstehen zwei Trump-Tower in Saudi-Arabien und ein Trump-Golfplatz in Dubai. Die Verquickung von persönlichen und staatlichen Interessen ist atemberaubend. Es scheint altmodisch zu sein, darin Korruption zu sehen.

Donald Trump hat im Nahen Osten neue Akzente gesetzt. Wie immer bei ihm kann morgen wieder vieles anders sein. Willkür, Spontanität und Unrast des Gemüts setzen sich bei ihm in Politik um. So bleibt vieles vorläufig und ist auf Wiederruf angelegt. Genauso gut kann es aber bei dem Verabredungen am Golf bleiben.

In Trumps Ära ist die Weltgeschichte in ständiger Bewegung und niemand als er steht im Zentrum. Heute will er mit Wladimir Putin telefonieren. Sicherlich hat auch Netanyahu dringenden Redebedarf angemeldet. Und dann wartet der G-7-Gipfel in Kanada auf Trump. Da lässt sich vieles durcheinander schütteln und wir Europäer sind zu gebanntem Zuschauen verdammt.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Nun doch den Taurus liefern?

Was Europa sein kann und wie es seine Interessen gekonnt verteidigt, ließ sich in den letzten Tagen beobachten. Dabei wirkte sich günstig aus, dass Deutschland wieder eine Regierung hat, die ihre Rolle als gehobene Mittelmacht einnimmt.

Den Vorschlag zur gemeinsamen Bahnfahrt nach Kiew unterbreitete der neue deutsche Kanzler. Mit Emmanuel Macron und Keir Starmer verbrachte Friedrich Merz ein paar Stunden im Zug, was zweifellos dem Kennenlernen diente und dann dazu führte, dass der französische Präsident morgens um 7 Ostküstenzeit Donald Trump anrief, um das Einverständnis für eine 30tägige Waffenruhe im Ukraine-Krieg einzuholen. 

„Dies ist die größte diplomatische Initiative, die es in den vergangenen Monaten, wenn nicht Jahren, gegeben hat, um den Krieg in der Ukraine zu beenden“, sagte Friedrich Merz hinterher, was sogar stimmt. Allerdings ließe sich umgekehrt anmerken, dass es nun endlich nicht mehr nur um die Aufrüstung der Ukraine geht, sondern auch ernsthaft Druck auf Russland ausgeübt wird, den Krieg zu beenden.

Darauf besaß bisher Amerika ein Monopol. Donald Trump übertraf sich mit Freundlichkeiten gegenüber Wladimir Putin und servierte ihm die Ukraine auf dem Silbertablett; unvergessen der Rauswurf für Wolodymyr Selenskji aus dem Weißen Haus. Wäre Putin gleich auf Trumps Sirenengesang eingegangen, sähe Europa heute anders aus. 

Nun aber hat eine gewisse Ernüchterung über Putins falsches Spiel eingesetzt. Friedrich Merz beurteilt die gewandelte Einschätzung  in den USA fast euphorisch: „Ich stelle mit Freude fest, dass sich die Haltung der amerikanischen Regierung offensichtlich verändert hat, auch in der Akzeptanz dessen, was wir als europäische Nato-Partner tun.“

Na ja, Donald Trump kann sagen, ich war es ja, der euch dazu gedrängt hat, dass ihr euch auch mal anstrengt und nicht nur an unserem Rockschoss hängt. Der Vorschlag zur Waffenpause ergeht aus Europa, natürlich mit Trumps Wohlwollen. Allerdings trägt Europa dann auch die Bürde, wenn die Initiative scheitert. 

Trotzdem waren es gute erste Tage für Friedrich Merz nach dem Desaster des Anfangs. Auf internationalem Parkett ist er heimisch, dass sah man ihm auf seiner Wirbelwindtour nach Paris, Brüssel, Warschau und Kiew an. Und – man darf seinen Kanzler auch mal loben – es ist in diesen Zeiten gut, einen Kanzler zu haben, der nicht mit wichtigen Bündnispartnern fremdelt.

Die Außenpolitik ist in diesen Tagen ungeheuer wichtig. Dabei wirken Erfolge zurück aufs Innere und können dazu beitragen, die Stimmung im Land zu heben. Ein Kanzler, der wenig Vertrauen erweckt und nur bedingt populär ist, muss die Stimmung drehen, um politisch zu überleben. Merz erweckt den Eindruck, als sei ihm die Notwendigkeit bewusst.

An Selbstvertrauen mangelt es ihm ja nicht, wie man ihm ansieht. Er ist so etwas wie das Comeback-Kid der deutschen Politik – über höllische Niederlagen zur Sonne. Das Neue in seinem Amt schreckt ihn nicht, auch das ließ er sich in Warschau wie Kiew, den schwierigsten ersten Reisen anmerken. Er wirkt so, als sei er dort angekommen, wo er hingehört – in der Weltpolitik.

Ende Juli wird der neue Kanzler nach Washington reisen. Besuche in Trumps Reich sind unberechenbar, ein Test auf Reaktionsvermögen und Umgangsstil. Zu viel Ehrerbietung hilft vielleicht im Weißen Haus, schadet aber dem Renommee daheim und draußen in der Welt. Ein Drahtseilakt. 

Bis dahin wird Merz wissen, was aus dem Vorschlag zur Waffenpause geworden ist. Wie es seine Art ist, ging Wladimir Putin zunächst nicht darauf ein, sondern schlug seinerseits die Wiederaufnahme der Gespräche in Istanbul ein. Ein klassisches Ausweichmanöver: Worüber ich nicht reden will, davon schweige ich und wechsle das Thema.

Putin liegt Frieden fern, soviel scheint nun auch Donald Trump klar zu sein. Die russischenTruppen sind in der Ukraine auf dem Vormarsch. Warum sollte Putinunter diesen Umständen die Waffen schweigen lassen? Deshalb ist es geschickt, von Präsident Selenskji, beides miteinander zu verbinden, Verhandlungen in Istanbul, aber nur mit 30 Tagen Waffenruhe ab sofort.

Geht Russland nicht auf das Angebot ein, drohen die Europäer mit weiteren Sanktionen und neuen Waffen für die Ukraine. „Wir werden die Ukraine so unterstützen, dass sie die Chance hat, diese Aggression weiter abzuwehren“, sagt Merz und fügt hinzu: „Und da wird Deutschland nicht zurückstehen.“ 

Was meint er damit? Liefert Deutschland den Marschflugkörper Taurus, der eine Reichweite von mehr als 500 Kilometer hat, exakt die Entfernung zwischen der ukrainischen Grenze und Moskau? Scheut er, anders als Olaf Scholz, nicht davor zurück, den Krieg auszuweiten?

Friedrich Merz kündigt an, er werde über den Taurus im Kabinett beraten lassen und die Entscheidung mit den Verbündeten abstimmen. Die Lieferung will wohl bedacht sein, was denn sonst.

Interessanterweise will die Regierung ab jetzt keine Auskunft mehr über einzelne Waffensysteme erteilen, die sie anderen Ländern bereitstellt. Die Liste der Rüstungsgüter auf der Website wird nicht aktualisiert.

Veröffentlicht auf t-online.de, am Montag.

Was für ein Leben, was für ein Mensch

Neulich war sie Ehrengast auf einem Fest in einem brandenburgischen Dorf. Margot Friedländer erzählte mit ihrer leisen warmen Stimme geduldig, warum sie im stolzen Alter von 88 Jahren nach Berlin zurückgekommen war. Sie beantwortete Fragen, über die sich leicht amüsierte, wenn sie mit allzu viel Bewunderung in der Stimme gestellt worden waren. Sie fühlte sich wohl unter diesen freundlichen Menschen, auch wenn die stille Trauer in ihren Augen nie wich, die nicht dem Alter geschuldet war, sondern dem Leben.

Sie war eine kleine Frau mit einem großen Herzen und deshalb war sie auch ein bemerkenswerter Mensch. Man fühlte sich ein wenig beschämt in ihrer Gegenwart, weil sie frei war von Zorn und Bitterkeit über das erlittene Unrecht. Sie war einfach so, ihr Gemüt und ihr Charakter ließen nicht zu, dass Gift in sie eindrangen. Bewunderung war durchaus angebracht, wobei darin eben auch Verwunderung über ihre menschliche Stärke lag.

Margot Friedländer, Geburtsname Margot Bendheim, Jahrgang 1921, lebte drei Leben. Das erste endete 1942, als ihr Bruder Ralf, 17 Jahre alt, verhaftet wurde und deportiert werden sollte. Die Mutter fasste den Entschluss, ihrem Sohn zu folgen und stellte sich freiwillig der Gestapo. Ihrer Tochter gab sie noch den Rat: Versuche, dein Leben zu machen. Der Vater, der sich 1937 hatte scheiden lassen, starb auch in Auschwitz.

Als ihr erstes Leben endete, war Margot 2o Jahre alt. Alt genug, um mit vertanen Chancen zu hadern. Die Bemühungen um Ausreise waren gescheitert, vermutlich auch deshalb, weil Vater Arthur sich nicht konsequent darum gekümmert hatte. Mutter Auguste zog es vor, mit dem Sohn in den Tod zu gehen. Einsam war Margot plötzlich, auf sich allein gestellt, darauf angewiesen, dass sie in Berlin großherzige Menschen fand, die ihr Bett und Brot gaben. Sie wollte ja trotz alledem ihr Leben machen.

Dann wurde sie, das war 1944, verraten, nicht von den Gutherzigen, sondern von „Greifern“, das waren Juden, die von SA oder SS dazu gezwungen wurden, ihnen andere Juden auszuliefern. Der Verrat sollte den „Greifern“ und ihren Familien das Leben sichern. Eine Illusion, fast immer.

Margot Bendheim war knapp 23, als sie ins Lager Theresienstadt deportiert wurde. Sie überlebte, sie traf dort Adolf Friedländer wieder, den sie aus Berlin kannte. Die beiden heirateten und damit begann ihr zweites Leben: in Queens, dem New Yorker Stadtteil, weit weg von Deutschland drüben in Amerika.

Das Ehepaar redete nie über die Vergangenheit, über die Ermordeten, Mutter und Vater und Geschwister. Was war da auch zu sagen? Um diese schreckliche, mörderische Vergangenheit hinter sich zu lassen, waren sie ja  aus Deutschland weggegangen. In Queens lebten sie ein ruhiges, zurückgezogenes Leben. Margot arbeitete in einer Änderungsschneiderin und als Reiseagentin, Adolf für das „Jüdische Kulturzentrum“. Ihr Mann wurde am Ende seines Lebens blind; er starb im Jahr 1997 im Alter von 87 Jahren und liegt in Westchester begraben.

Ihr drittes Leben begann eher zufällig. Vielleicht um sich nicht der Trauer zu überlassen, belegte Margot Friedländer einen Kurs im „Jüdischen Kulturzentrum“, in dem Menschen ihre Erinnerungen aufschreiben sollten. Meist schrieb sie nachts, wenn sie nicht schlafen konnte. Dann tauchte alles wieder auf, der Bruder, der sein Leben nicht leben durfte. Die Mutter, von der sie nur eine Bernsteinkette mit ihrem Konterfei im Medaillon besaß. SA, SS, die Deportationen, die 15 Monate Illegalität. Als sie das Erinnerte im „Kulturzentrum“ vorlas, wurde es still, sehr still.

Der Zufall fügte es, dass sie damit einen deutschen Filmemacher auf sich aufmerksam machte, der in Brooklyn lebte. Er drehte einen Dokumentarfilm über Margot Friedländer, den er „Don’t call it Heimweh“ nannte. Nun wurde auch der Berliner Senat auf die Holocaust-Überlebende drüben in Amerika aufmerksam und lud sie zur Vorführung des Films in ihre Geburtsstadt ein. Im Jahr 2003 kehrte sie zum ersten Mal nach fast 6o Jahren zurück. Ihr Mann hatte es immer abgelehnt, in die alte Heimat zu fahren: Deutschland sei zwar ein schönes Land, aber nur ohne die Deutschen!

Margot Friedländer ging hochambivalent durchs neue Berlin. Da waren diese schönen Erinnerungen an Kindheit und Jugend, aber auch diese Schreckensbilder – knallende SA-Stiefel, zerstörte Ladenfenster, geplünderte Geschäfte und dann die Jahre in der Illegalität, als sie sich ihre Nase „arisieren“ ließ und von der Angst beherrscht wurde, jeden Augenblick aufzufliegen.

Hier in Berlin begann ihr drittes Leben. Im Sommer 2009 zog sie um. Ihre Erinnerungen flossen in ein Buch ein, das sie „Versuche, dein Leben zu machen“ nannte – eben der letzte Satz ihrer Mutter an sie. Berlin und der Bund überhäuften sie mit Ehrungen. Sie erhielt die deutsche Staatsbürgerschaft zurück, die ihr die Nazis entzogen hatten, auch das Bundesverdienstkreuz bekam sie.

In den letzten Jahren ihres Lebens besuchte sie Schulen in ganz Deutschland und beschwor die Kinder, wachsam zu sein und vor allem menschlich zu sein, denn es gebe kein christliches oder jüdisches oder muslimisches Blut, sondern nur menschliches. Eine Stiftung richtete sie ein, die den Preis, der ihren Namen trägt, vergeben soll. Sie nannte es „meine Mission“, Zeitzeugenschaft abzulegen, unermüdlich und intensiv.

Wenn Margot Friedländer Vertrauen gefasst hatte, dann erzählte sie auch von den ewigen Schuldgefühlen der Überlebenden gegenüber den Ermordeten. Warum hatte nicht ihr kleiner Bruder überlebt, der Primus seiner Klasse und Freund von Hans Rosenthal? Warum war ihr Glück beschieden und nicht Ralf? Fragen, die sich nie beantworten ließen und die doch nie verstummten. Die Trauer in ihren Augen erzählte von der Marter der Erinnerung.

Im 104. Lebensjahr ist sie nun gestorben. Was für ein Leben, was für ein Mensch! Eigentlich wollte sie neben ihrem Mann in Westchester begraben werden. So hatte Margot Friedländer gedacht, bevor sie zurück nach Berlin kam. Hierher gehört sie, hier sollte sie ein Ehrengrab bekommen.

Die Weltgeschichte kann Merz überrollen

Der eine geht, der andere kommt. Der eine bekommt heute einen Großen Zapfenstreich zum Abschied, der andere Blumen beim Anfang. Der eine, der jünger ist, hat viele Staatsämter hinter sich. Der andere, der älter ist, wird morgen in sein allererstes Staatsamt gewählt.

Olaf Scholz, bald 67, wünscht sich drei Lieder vom Bundeswehrorchester: eines von den Beatles („In my Life“), die ja in Hamburg zu Weltstars heranreiften; eines von Bach wegen seines brandenburgischen Wahlbezirks; und dann Respect“, das Scholzsche Leitmotiv, von Aretha Franklin. Sorgsam ausgesucht, leidenschaftslos, wie wir ihn kennen.

Friedrich Merz, bald 70, hat ein anderes Gemüt, wie wir wissen. Da wallt es, da rumort es, da tobt es stärker als in Scholz oder auch Angela Merkel. Das Leidenschaftliche ist seine Stärke und Schwäche zugleich. Das Hinhaltende, Abwartende, Abtauchende passt nicht zu ihm und das ist auch gut so. Die Weltgeschichte wird ihn überrollen, wie es aussieht. Die Frage ist nur, ob er ihr standhalten kann.

Weltgeschichte mache ich, hat Donald Trump dem liberalen US-Blatt „The Atlantic“ gerade mitgeteilt. Mit den Folgen muss Deutschland, muss Europa leben. Dazu gehört die strategische Dialektik, einerseits rasch und kompromisslos aufzurüsten, weil Amerika nicht länger die alles dominierende Schutzmacht sein will, die es seit 1945 war, und andererseits dafür zu sorgen, dass Amerika trotz aller Distanznahme Europa weiterhin nuklearen Schutz garantiert.

Es ist Zeit, dass es endlich los geht. Das Interregnum zwischen alter und neuer Regierung dauerte zu lange. Deutschland spielte so gut wie keine Rolle bei der Vermittlung zwischen den USA und der Ukraine, die in einen angemessen Vertrag über Rohstoffressourcen mündete. Während der deutschen Abwesenheit haben England und Frankreich die Führung für Europa übernommen, wogegen nichts einzuwenden ist, weil Emmanuel Macron und Keir Starmer Umsicht und Verantwortung walten ließen.

Friedrich Merz erweckt wenig Vertrauen, wie sich in Umfragen nachlesen lässt. Darin liegt eine Chance. Er kann seine Skeptiker überraschen. Die Außenpolitik wird mehr denn je das Kanzleramt übernehmen. Der präsumtive Kanzler ist ein überzeugter Europäer und Atlantiker und mit dem Ehrgeiz ausgestattet, eine Rolle zu spielen, die dem Gewicht Deutschlands entspricht. In Zukunft wird das Viereck London-Paris-Berlin-Warschau die Europäische Union lenken.

Natürlich hängt viel davon ab, ob Merz ein Arbeitsverhältnis zu Donald Trump aufbauen kann. Hilfreich kann sein, dass die CDU über die Jahre Kontakt zum rechten Amerika hielt, so dass sich die Entfremdung eindämmen lassen sollte. Der dann deutsche Kanzler wird gar nicht darum herumkommen, den Präsidenten nach Deutschland einzuladen. Dessen Ahn Friedrich war1885, mit 16 Jahren, aus dem pfälzischen Kallstadt nach Amerika aufgebrochen und brachte es dort mit Restaurants zu einem gewissen Wohlstand. Ob Donald Trump nach Deutschland kommt oder nicht, die Einladung könnte ihn milde stimmen, was ja nun einmal wünschenswert ist, wie wir wissen.

Ein anderes Problem wiegt ebenfalls schwer. Momentan liegt es im Windschatten des Trumpschen Wirbelsturms und bekommt zu wenig Aufmerksamkeit. Es geht um Israel, um die vollständige Besatzung, die Premier Benjamin Netanyahu offensichtlich im Gaza anstrebt. Es geht auch darum, dass seit zwei Monaten keine Hilfslieferungen per Lastwagen in das Kriegsgebiet einfahren dürfen. Nach Uno-Maßstäben liegt darin ein Kriegsverbrechen.

Die neue deutsche Regierung muss dazu wohl oder übel eine Haltung finden. Dass die Existenz Israels zur deutschen Staatsraison gehört, ist das eine. Das andere ist die Regierung Netanyahu und die Unerbittlichkeit ihrer Kriegsführung. Amerika als Mahner und regulative Kraft fällt aus. Der deutsche Einfluss in den Ampel-Jahren war gering. Wie verhält sich die Regierung Merz in diesem heiklen Fall, was traut er sich zu?

Die Außenpolitik dürfte in den nächsten Jahre eine herausgehobene Rolle einnehmen. Erfolge auf diesem Feld können die Stimmung in Deutschland beeinflussen, die sich momentan in Verdrossenheit und Pessimismus verliert.  Die Stimmung aufzuhellen, ist ebenso schwierig wie nötig. Glück gehört dazu, dass man sich bekanntlich verdienen muss.

Wirtschaftlich gesehen, ist offenbar nicht alles so schlecht, wie es scheint. Ja, die Konjunktur steckt in der Flaute, die Prognosen sind schlecht. Ja, die Arbeitslosigkeit ist nicht gering. Ja, die Autobranche leidet, aber zum Beispiel der Maschinenbau berichtet von steigenden Aufträgen und die Baubranche zieht dank fallender Zinsen an.„Womöglich geht es Merz jetzt so wie Angela Merkel, die ihr Amt 2005 ebenfalls zu einem Zeitpunkt angetreten hatte, zu dem eine Phase der Stagnation gerade in eine Wachstumsperiode überging,“ schreibt die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“. Hoffen darf man ja.

Wenn es gut geht, bekommen wir einen Kanzler, der seiner Aufgabe gewachsen ist und seine Vorhaben, seine Ziele erklären kann, nicht nur im Bundestag, sondern auch in Reden an die Nation, die er überzeugen muss, dass er in ihrem Interesse handelt. Damit könnte er zurückerobern, woran es noch mangelt: Respekt, von dem Aretha Franklin heute Abend beim Großen Zapfenstreich kraftvoll singen wird.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Ein Mensch, der Papst war

Jorge Mario Bergoglio, der sich Franziskus nannte, war ein Mensch in einer Organisation, die ohne Machtdenken, Zynismus und Kälte mehr als 2000 Jahre nicht überlebt hätte. Er verstand sich als Reformer seiner Kirche, das schon. Aber seine Ideen waren nicht die Ideen der Gralshüter des Bestehenden, seine Vorstellungen entsprachen nicht den Vorstellungen der Lordsiegelbewahrer der reinen Lehre.

Vielleicht muss man sich diesen Papst als einen Menschen vorstellen, der sich sein Seelenheil bewahrte, obwohl er ein Gefangener eines Systems war, das wenig Rücksicht auf Menschen nimmt und statt dessen die Organisation bedingungslos schützt. Öffnung in kleinem Maße, mehr Zugeständnisse gibt es nicht. Eucharistie für Geschiedene, okay. Zugehen auf LGBT auch, aber Vorsicht! Und Frauen als Priesterinnen kommen keinesfalls in Betracht.

In seiner letzten Zeit nahm entweder sein Elan ab, was man in diesem hohem Alter verstehen kann, oder er selber wurde konservativer. Der eigene synodale Weg der deutschen Katholiken fand jedenfalls sein Missfallen. Das galt sowohl für die systematische Untersuchung der Missbrauchsfälle in der Kirche als auch für die Verkündung des Evangeliums durch Laien.

In Dostojewskis „Brüder Karamasow“ steht die Legende vom Großinquisitor, einem steinalten Mann in Sevilla, der serienweise Ketzer auf den Scheiterhaufen werfen lässt. Eines schönen Tages erscheint Jesus Christus. Er geht tagsüber in den Straßen umher, wird erkannt, die Stadt ist in Aufruhr, der Gottessohn wandelt wieder auf Erden! Der Großinquisitor lässt ihn verhaften und hält ihm eine lange Predigt: Er habe es sich leicht gemacht, er habe an das Gute im Menschen appelliert, aber der Mensch sei nicht so stark und gut, wie Christus behauptet, er sei schwach, verlange nach Führung und Stärke. All das gibt ihm die Kirche, und sie nimmt ihm auch die Bürde des Selbstglaubens und der Selbstbestimmung ab. Sie sagt ihm,  wie er zu denken und zu handeln hat. Und diese Choreographie, diese eingespielte Ordnung bringt Christus fatal durcheinander und deshalb wird er am frühen Morgen auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden und das Volk wird ihm zujubeln – dem Großinquisitor.

Eine Kirche, die 2000 Jahre Bestand hat, lässt sich nicht von einem Papst, der noch so viel Energie für Veränderung aufbringen mag, die Ordnung dauerhaft stören, so viel ist klar. Johannes Paul II., der polnische Papst, lebte in vollem Einverständnis mit seiner konservativen Kirche. Karl Ratzinger, der sich Benedikt XVI. nannte, war der Intellektuelle auf dem Thron, der den Status quo theologisch aufs Feinsinnigste begründete.

Franziskus strahlte Freude aus, Heiterkeit. So weit ein Papst Spaß am Leben haben kann, schien er Spaß zu haben und im Einklang mit sich zu sein. So frohgemut trat er auf, wenn er den Segen urbi et orbi spendete. So jovial und frohsinnig gab er sich, wenn er Besucher und Besucherinnen empfing. Man stellte ihn sich gerne als jemanden vor, der liberaler dachte als seine Kirche, als einen Mann, der jedenfalls Großzügigkeit der Engherzigkeit vorzog. Ein Mensch eben im Papstornat.

Er nannte sich nach Franz von Assisi, den Sohn aus reichem Haus, der sein Erbe, sein Geld und seine Kleidung weggabund einen Orden gründete, der sich um die Armen kümmerte. Mit Vergleichen über mehr als 800 Jahre hinweg soll man vorsichtig sein, aber Jorge Mario Bergoglio bewegte sich ebenfalls erstaunlich lange in der diesseitigen Welt. Er übte triviale Berufe wie Türsteher und Hausmeister aus, ließ sich dann zum Chemietechniker ausbilden und arbeitete in einem Labor. Eine Krankheit, wie bei Franz von Assisi, löste eine innere Krise aus, die in eine fundamentale Lebensveränderung mündete. Als Folge trat er den Jesuiten bei und ließ sich 1969, da war er 33 Jahre alt, zum Priester weihen.

Wer in Zeiten der Militärdiktatur in Argentinien eine nicht ganz unbedeutende Stellung einnahm, konnte wohl gar nicht unschuldig bleiben. Daß Franziskus zwei Jesuiten, die er in die Armenviertel schickte, bald darauf den Schutz entzog, worauf die beiden von der Junta verhaftet und aufs Schlimmste gefoltert wurden, hing ihm an. Schlimmer noch: Er war Mitglied der „Eisernen Garde“, die für die Rückkehr von Juan Perón putschen wollte – für Perón, der eine Vorliebe für Hitler gehabt hatte und 1946 mit Unterstützung emigrierter Nazis erstmals Präsident geworden war.

Kein Ruhmesblatt. Verstörende Phasen in Franziskus` Biographie, die so gar nicht zum Bild des freundlichen, wohlwollenden, entspannten Papstes passen, der er sein wollte. Aber Menschen ändern sich ja, wenn sich die Zeiten ändern. Natürlich wüsste man gerne, wie Franziskus heute über sein Verhalten damals dachte, wozu die Ablehnung der Befreiungstheologie gehörte. Umgekehrt ist es mehr als fraglich, ob er Papst geworden wäre, wenn er ein entschiedener Gegner der Generäle und ein Befürworter der Befreiungstheologie gewesen wäre.

Zuerst und zuletzt war Franziskus eben ein Diener seiner Kirche, die er sich ein bisschen anders gewünscht hätte, eben menschlicher, mehr wollte er vielleicht gar nicht. Den Gott, von dem er sprach, stellte er als barmherzig vor, als nachsichtig, nicht eisern und unversöhnlich wie im Alten Testament. Ihm wollte er schlicht gegenübertreten – in einem einfachen Holzsarg anstelle von drei ineinander passenden Särgen aus Zypresse, Blei und Eiche. Seine letzte Ruhestätte, so wies er an, soll nicht in der Grotte unterhalb des Petersdoms liegen, sondern in der Basilika Santa Maria Maggiore.

Noch einmal segnete Franziskus am Ostersonntag die katholische Christenheit urbi et ora. Da wirkte er hinfällig, kein Wunder nach so langer Krankheit. Diesen Kraftakt verlangte er sich noch ab. Dann war es genug.

Als Franziskus der Tod nahe kam, hat er da auf einen verzeihenden Gott gehofft? Fast wünscht man es ihm, auch wenn die Hoffnung trügerisch gewesen sein sollte.

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.