Immer weiter, immer weiter

Die ersten israelischen Soldaten sind in den Ausläufern von Gaza City gesichtet worden, in jener Stadt, in der die nächste Offensive ansteht. Die Menschen dort sollen sich aus dem Staub machen, damit sie nicht zu zivilen Opfern werden, wenn der Angriff startet, vermutlich Anfang September.. Dazu fordert sie die israelische Armeeführung auf.

Über die dort herrschenden Verhältnisse hat sich eine Gruppe Wissenschaftler, auf die sich die Vereinten Nationen verlassen, vor kurzem informiert. Sie kommt zur Schlussfolgerung, dass mindestens eine halbe Million Einwohner unter Hungersnot und akuter Mangelernährung leidet. Die anderen zwei Millionen Menschen leiden „nur“ Hungers, was nach zwei Jahren Krieg und der israelischen Versorgungs-Blockade kein Wunder ist.

Was sagt die israelische Regierung zu dieser Einschätzung? Es handle sich um „eine grobe Lüge“, sagte Premierminister Benjamin Netanyahu routiniert. Er nennt sämtliche Vorwürfe wahlweise Lüge oder Hamas-Propaganda und weist das Offensichtliche weit von sich – dass Israel Hunger als Waffe einsetzt.

Netanyahu ist zum dritten Mal Ministerpräsident und gehört seit 30 Jahren zu den prägenden Figuren im Nahen Osten. Schon immer bestand sein Geschick darin, dass er sich als Retter Israels vor seinen Feinden darstellen konnte. „König von Israel“ nennen ihn seine glühenden Verehrer. Er lässt sich gerne schmeicheln.

Die Frage ist nur, ob er, der große Antreiber seit dem Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023, nicht selbst ein Getriebener ist. Und damit ist nicht einmal das schwebende Verfahren wegen Korruption im Amt gemeint.

Antreiber ist Netanyahu in der Vielzahl der Kriege, die Israel seit Oktober 2023 geführt hat. Im Gaza. Im Libanon. In Iran. In Syrien. Gegen die Houthis. Netanjahus Verdienst wird es bleiben, dass er die Feinde Israels gedemütigt und geschwächt hat. So ist Israel zur militärischen Vormacht im Nahen Osten aufgestiegen. Eine erstaunliche Wendung in dieser Region.

Was Netanjahu nicht ist, könnte sich auf mittlere Sicht zum Nachteil Israels auswirken: Er ist kein großzügiger Sieger.

Wenn er nur wollte, könnte er, mit den USA im Rücken, den Nahen Osten neu ordnen. Dazu würden zum Beispiel diplomatische Beziehungen zu Saudi-Arabien gehören. Eine Zäsur wäre das.

Rachsüchtige Sieger, die nicht zu Frieden finden, sind in der Geschichte oft genug in die Sackgasse geraten. Ihre Überlegenheit blieb nicht von Dauer und schlug irgendwann um. Die lange Feindschaft zwischen Deutschland und Frankreich bietet Anschauungsmaterial für die Dialektik, wie ein Sieg in eine Niederlage münden kann – und auch für überraschende Befriedung, wenn sich die richtigen Anführer finden.

Ob noch die Mehrheit der Israelis hinter ihrem Premier steht, lässt sich nur schwer einschätzen. Die Riesendemonstration gestern in Tel Aviv aus Protest gegen die geplante Offensive im Gaza und die Vernachlässigung der Geiseln war eindrucksvoll, keine Frage. Ins Gewicht fällt auch, dass Armee und Geheimdienst vergeblich vor einer Invasion Gaza warnten.

Netanjahu aber lässt sich weder von den politischen Gegnern noch von Generälen reinreden. Er glaubt, vielleicht zu recht, dass die Mehrheit der Israelis hinter ihm steht. Deshalb macht er unbeirrt weiter und weiter.

Solange der Krieg im Gaza andauert, bleibt er Ministerpräsident. Offene Erpressung üben zwei nationalkonservative Minister aus; sie heißen Itamar Ben Gvir und Belazel Smotrich. Beide treten für die Gesamtbesiedlung des Westjordanlandes ein und für die Annexion Gazas. Ihr Ziel ist ein Großisrael, das Teile Libanons und Syriens umfasst, auch Teile Jordaniens. Palästina gibt es aus ihrer Sicht nicht. Die Palästinenser haben in dieser Logik kein Bleiberecht im erweiterten Israel.

Auch Antreiber können Getriebene sein. Netanyahu steht unter dem Diktat der wilden, bunten radikalen Regierung, die ihm die Macht sichert. Er kann es sich nicht leisten, dass ihm auch noch die beiden radikalen Minister den Rückken kehren. Denn zwei der für israelische Verhältnisse typischen Kleinst-Klientelparteien haben das schon Kabinett verlassen, beide aus dem gleichen Grund.

Da Israel, ein Land mit 6,8 Millionen Einwohnern, heute Soldaten und Reservisten für die Offensive im Gaza, für die besetzten Teile Libanons und an der Grenze zu Syrien braucht, sollen auch die Kinder aus orthodoxen Familien Wehrdienst leisten – wie alle anderen Israelis. Aber diese Neuerung führt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen und zerreißt das Land noch mehr, als es ohnehin schon zerrissen ist. 

Die Kinder aus orthodoxen Familien waren bisher vom Dienst in der Armee befreit. Sie durften ihr Leben dem Studium der hebräischen Bibel widmen. In den Anfängen Israels waren sie nur eine winzige Minderheit. Heute aber umfassen die orthodoxen Familien eine Million Menschen, das sind 13 Prozent aller Israelis.

80 000 Thora-Schüler zwischen 18 und 24 kommen für den Wehrdienst in Frage. 2 940 haben sich freiwillig einschreiben lassen. Die Armee benötigt aber jährlich mindestens 4 800 Rekruten aus diesen Familien, sagt Brigadegeneral She Tayeb, damit die Armee den Aufgaben gewachsen bleibt. 

So zwingt der Krieg Netanyahu zu einem Vorgehen, das er bislang aufs Schärfste abgelehnt hat. Das Ende der Sonderregelung ist ein Einschnitt in der Geschichte Israels und bringt die schlagkräftige Gemeinschaft der Orthodoxen gegen ihren König auf. Deren Parteien dürften bei der nächsten Wahl, spätestens im Herbst 2026, für ihren kompromisslosen Widerstand belohnt werden.

Netanjahus Regentschaft spaltet das Land, kann man sagen. Oder aber ist Netanjahus Regentschaft Ausdruck dafür, wie gespalten das Land ist? Für beide Varianten finden sich gute Gründe.

Aber gibt es eine Alternative? Benny Gantz war Verteidigungsminister im Kriegskabinett. Vor einem Jahr trat er wegen der Gaza-Kriegsführung zurück. Nun unterbreitet er den Vorschlag, eine Regierung der nationalen Einheit zu bilden. Sie soll die Verhandlungen mit der Hamas führen und die Geiseln endlich befreien. Klingt gut, wäre vielleicht sinnvoll, würde das zerrissene Land womöglich etwas mehr einen.

Netanyahu aber dürfte das Angebot ablehnen. Er müsste ja damit rechnen, dass seine Regierung von der Opposition abhängig würde. Kein Zweifel, dass ihm diese Alternative gegen den Strich geht.

Morgen, am Dienstag, wird das Kabinett tagen und voraussichtlich den Plan für die Invasion Gazas billigen. Aus Katar liegt, unter Vermittlung der USA und Ägypten, wieder ein Abkommen zur Waffenpause vor, das angeblich die Hamas unterzeichnen will. Auch darüber wird geredet werden.

Was für eine Alternative: Annexion oder Waffenpause. Wofür sich die Hungernden im Gaza entscheiden würden, liegt auf der Hand. Benjamin Netanyahu aber wird seinen Weg weitergehen.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Er mag mich und ich ihn sowieso

Wenn zwei Figuren der Weltpolitik nach einem Treffen Andeutungen über eine Einigung fallen lassen und von Weiterungen munkeln, dann kommt unweigerlich Misstrauen auf, dass sie zu Lasten aller anderen geheime Vereinbarungen getroffen haben könnten.

Wladimir Putin muss man aus Erfahrung alles zutrauen. Er ist der Machtpolitiker alten Schlags, der seinen Interessen kaltblütig folgte. Der Westen ist sein Feind, was aber keineswegs einschließt, dass er mit dem Feind keine Deals vereinbaren würde. Aus seiner Sicht war der Hitler-Stalin Pakt 1939 ein voller Erfolg.

Donald Trump ist grundsätzlich zu allem fähig. Er nimmt jede Form des Politischen persönlich. In seiner Verblendung, dass er kraft seiner Persönlichkeit die Macht der Interessen überwinden kann, ist er unübertroffen. Erinnert sich noch irgendjemand an das lächerliche Treffen mit Kim Jong-un, dem Monsterbaby aus Nordkorea, im Februar 2019? „Er mochte mich. Ich mochte ihn. Wir kamen sehr gut miteinander aus,“ sagte Trump hinterher.

Er mag mich, ich mag ihn sowieso, sagte Trump sinngemäß nach dem Treffen in Anchorage über Putin, den er ab jetzt nur noch Wladimir nennt, wie rührend. Liegt in dieser demonstrativen Sentimentalität das Ergebnis dieses pompösen Weltereignisses – in der Art des Handschlags, dass sie gemeinsam im Lincoln aus den US-Stützpunkt fuhren, in dem Bilderhagel zweier lächelnd einander zugeneigter Männer? Ansonsten nichts passiert?

Groß in gefühlter Atmosphäre, klein an politischer Substanz. Und die Ironie daran ist, dass wir in Europa und vor allem die Ukraine froh darüber sein müssen, wenn es dabei bleibt.

Ein Rätsel aber ist weiterhin, weshalb Donald so viel Rücksicht auf Wladimir zu nehmen bereit ist. Die Inszenierung von Anchorage mag Trumps Gefallen finden, blendet jedoch bestimmt nicht Putin, der weiß, wie sich mit Symbolpolitik Bedeutung simulieren lässt. 

Für ihn zählt, dass er weniger denn je Konsequenzen für seine Kriegsführung befürchten. In seiner Einschätzung, dass der Westen dekadent ist und Amerika von nun an Europa sich selber überlässt, kann er sich bestärkt sehen. Ihm bleibt freie Hand in der Ukraine, darauf kommt es ihm an. Dieses Ergebnis ist ihm wichtiger als das Auftauchen auf der Weltbühne, das natürlich auch die russischen Medien bis zum Abwinken ausschlachten.

Nicht einmal Trump gibt vor, dass nach Alaska die Geschichte neu geschrieben werden muss. Ersatzweise labt er sich in der Schmeichelei, dass nun auch Putin bekannt hat, dass der Krieg in der Ukraine unter einem Präsidenten Trump ausgeblieben wäre. Für einen Zyniker wie Putin ist so ein abgeschmacktes Zugeständnis ein leichtes Spiel.

Vielleicht finden die Historiker irgendwann heraus, was Trump im Umgang mit Russland hemmt. Denn eigentlich bewundert dieser Präsident Autokraten wie Kim Jong-un oder Xi Jinping oder Putin für ihre Stärke und verachtet Verlierer. Doch Putin ist alles andere als ein Sieger.

Denn wo er Vakanzen nutzen wollte, wie im Nahen Osten nach dem Rückzug der USA, als er sich in Syrien und Iran als Helfer anbot, geht die Zeit über Russland hinweg. Wo er glaubte, ein Land rasch zu annektieren, in der Ukraine, hat er sich als miserabler Großstratege erwiesen. Und im übrigen erlitt er gerade die Schmach, dass Trump zwischen Armenien und Aserbeidschan vermittelte – zwei Ländern im eigenen Vorhof.

Was also bleibt? In einem Interview hat Trump wieder gesagt, was er immer mal sagt, das Weitere hänge nun von Wolodymyr Selenskji ab. Eigentlich eine Kapitulation, da Donald dem Wladimir keinerlei Zugeständnis abringen kann.

Der Krieg geht weiter. Paradoxerweise liegt darin eine gute Nachricht für die Ukraine. Der befürchtete Deal auf ihrem Rücken bleibt aus – bis auf weiteres. Selenskji hat Recht behalten, dass Putin zu keinerlei Konzession bereit ist und ja auch nicht dazu gezwungen wird. 

Das Kerneuropa um Deutschland und Frankreich verhielt sich im Vorfeld von Anchorage bravourös. Friedrich Merz und die anderen müssen weiterhin das fast Unmögliche verfolgen, nämlich Einfluss auf Trump zu üben, so dass er weder Sanktionen gegen Russland aufhebt noch die militärische Unterstützung für die Ukraine aufgibt. Zugleich müssen sie Vorkehrungen für den Fall treffen, dass Trump das Interesse an der Ukraine verliert, weil er nicht der Friedensstifter sein darf, der er unbedingt sein will.

Auf Trump war bis jetzt schon kein Verlass und ist es fortan noch weniger. Was nun aus der Kapitulation vor Wladimir folgen wird, weiß niemand, wahrscheinlich der amerikanische Präsident auch nicht. So lange er von dem Blendfeuerwerk in Anchorage beeindruckt den darf, muss er kein neues aufziehen. Und danach?

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.

Kanzler allein zu Haus

Der Kanzler hat seine Israel-Politik verändert, gut so. Die Ankündigung der Regierung Netanyahu, Gaza ganz zu besetzen und ihre Absicht, die Bewohner von dort zu vertreiben, zwingt förmlich zum Umdenken. Hätte Friedrich Merz so getan, als wäre nichts passiert, hätte er sich unglaubwürdig gemacht. Vor allem England und Frankreich wunderten sich schon länger über den deutschen Langmut.

Die Mehrheit der Deutschen hält übrigens das Waffenembargo für richtig. Dieser Umstand ist erstaunlich, weil ansonsten die Werte für die Regierung und den Kanzler mal wieder bergab gehen. Daraus könnte man schließen, dass die Stimmung labil ist und sich morgen verändern kann.

Die CSU hängt an Umfragen wie der Junkie an der Nadel. Diesmal ließ sie in ihrem Feinsinn wissen, sie sei in die Entscheidung des Kanzlers nicht eingebunden gewesen – will sagen, Markus Söder wartet merkelmäßig ab, wie der Wind weht und weht dann mit. 

Die SPD nimmt übel, dass ihre Kandidatin für das Verfassungsgericht resignierte. Lars Klingbeil hat vermutlich eine Meinung über Israels Vorgehen im Gaza, behält sie aber für sich. Im Schweigen war schon Olaf Scholz groß.

Empörung rührt sich in der CDU. Nun gut, es sind zumeist Hinterbänkler, deren Namen jenseits ihrer Fraktion keiner kennt. Darunter ist aber auch Roderich Kiesewetter, Oberst a.D., geübt in Talkshows als Erklärer des Ukraine-Krieges. Nun ist es aber so, dass Kiesewetter zu seinem Unglück bei der Verteilung herausgehobener Posten leer ausgegangen war. Dass ihn das Übergehen schmerzt, ist verständlich. Dass er die Lücke jedoch als externer Pressesprecher Benjamin Netanjahus füllt, geht zu weit.

Kiesewetter hält dem Kanzler entgegen, Deutschland beuge sich „einem antisemitischen Mob der Straße und der gnadenlosen Hamas-Propaganda“. So bleibe die deutsche Staatsraison, die Israels Existenz einbedenkt, „eine leere Hülle“. Dieses Echo schallt auch aus Israel herüber.

Menschen mit Phantom-Schmerzen gehören in den Umkreis jedweder Regierung. Was jedoch in diesen Tagen auffällt, ist die Vielfalt der Besserwisser. Das lauernde Beobachten, die empörungsbereite Gemütswallung, die das Lande beherrscht, greift auf die Regierungspartei CDU über. Ihre Bereitschaft, den Kanzler zu tragen, besonders wenn es kritisch wird, war einst ihr Markenzeichen.Jetzt sinkt sie allmählich auf SPD-Maß. 

Man muss den Kanzler nicht bemitleiden. So sind nun mal die Verhältnisse, so geht es heute zu in der Politik. Solidarität oder auch Loyalität sind Schrumpfwerte. Auf den pragmatischen Vorsatz der zuverlässigen Zusammenarbeit, von Klingbeil und Söder beschworen, kann sich Merz nicht unbedingt verlassen. Diese Einsicht wird ihm nach bald 100 Tagen regieren nicht verborgen geblieben sein.

Ich persönlich finde, dass Friedrich Merz eine gute Figur abgibt. Er übt das Amt mit einiger Selbstverständlichkeit aus und hat rasch Autorität auf internationaler Bühne gewonnen. Wäre die Unruhe im Land weniger groß und die Zahl der Krisen geringer, wäre Merz ein populärer Kanzler.

Aber die Umstände, sie sind nicht so. Die Frage ist nur, was daraus folgt.

Umfragen haben zu allen Zeiten eine gewisse Rolle gespielt. Zur Selbstbeweihräucherung. Als Chance, den Kanzler zu kritisieren. Heute schauen die Parteien wie die Kaninchen auf die Schlange, wenn die Demoskopen neue Zahlen haben – vor allem für die AfD.

Dabei verhalten sich Union und AfD wie kommunizierende Röhren. Geht die Union hoch, geht die AfD runter. Geht die Union runter, geht die AfD hoch. Die Erkenntnis ist nicht neu. Neu ist nur, dass Regierungsparteien ihr Verhalten davon abhängig machen.

Unser politisches System war mal groß darin, neue Parteien zu integrieren. Der Anpassungsdruck wirkte einst auf die Grünen, die auch mal ein räudiger Haufen waren. Damit ist es vorbei. Bei der Rechten wirkt die Kraft nicht – unter anderem deswegen, weil die Parteien der Mitte sie nicht mitmachen lassen.

Die Entscheidung kann man für falsch halten, muss es aber nicht. Nur sollte dann die Mitte, ohnehin geschrumpft, dauerhaft auf Volldampf schalten und sich an ihre Vorsätze halten. Ja, die Regierung hat groß gedacht und sich solides Regieren vorgenommen. Ja, sie hat gut angefangen. Ja, es kommen Fehler vor, wie die ausgesetzte Wahl der Bundesrichter, was denn sonst.

Die Ampel stritt sich wie die Kesselflicker. Diese Regierung besteht aber aus einem Solisten, dem Kanzler, und periodisch abtauchenden Koryphäen wie Lars Klingbeil und Markus Söder. Aber ob sie wollen oder nicht, sie hängen drin, sie werden mitverantwortlich gemacht, wenn etwas unrund läuft. Sie gehen mit unter, wenn die Mitte untergeht.

Seit 100 Tagen ist die Regierung an diesem Donnerstag tätig. In der Außenpolitik hat Deutschland an Gewicht gewonnen. In der Innenpolitik gibt es Besserungsbedarf. Auf den Kanzler kommt es jeweils an, schon wahr, aber auf die beiden anderen Herren eben auch.  

Veröffentlicht auf t-online.de, am Montag.

Sie tanzen ihm auf der Nase herum

Wie wir wissen, will Donald Trump den Friedensnobelpreis bekommen. Neid ist im Spiel, auch das wissen wir. Denn Barack Obama erhielt diese ultimative Auszeichung gleich zu Beginn seiner Amtszeit, was durchaus ungewöhnlich war. Mit ihm verband sich die Hoffnung der Welt auf Frieden und Ausgleich. Trump hingegen erweckt diese Illusion nicht unbedingt.

Er scheint immerhin zu wissen, dass er wenigstens einen Krieg beenden muss, um für den Nobelpreis würdig zu sein. Natürlich denkt er bombastisch von seinen Fähigkeiten, auf die Anführer anderer Nationen einzuwirken, und sein Hofstaat bestärkt ihn darin. Vizepräsident J.D. Vance sagte im Frühjahr allen Ernstes, Wladimir Putin hätte es nicht gewagt, die Ukraine anzugreifen, hätte ihm Trump und nicht Joe Biden gegenüber gestanden. Warum nicht? Weil Putin Angst vor ihm hätte.

Na ja, vermutlich wissen es beide inzwischen besser, Trump wie Vance. Auch schlichte Gemüter streift die Wirklichkeit und löst etwas in ihnen etwas aus, zum Beispiel Ärger und eventuell auch Zorn, wenn sich der Gegenstand der Betrachtung ihrer Kontrolle entzieht. Sie nehmen persönlich, wo es eigentlich um unterschiedliche Interessen ihrer Länder geht.

Diesmal war es Dimitri Medwedew, der Trump auf die Palme brachte. Medwedew ist für Putin, was Vance für Trump ist – ein Kettenhund. Er bezeichnete Trump als „Opa“ wegen des Ultimatums von zehn Tagen für das Einstellen der Kriegshandlungen in der Ukraine und drohte seinerseits den USA mit Krieg. Daraufhin beorderte Trump zwei Atom-U-Boote Richtung Russland.

So vollzieht sich Weltpolitik in der Ära Trump/Putin. Man sieht zu und staunt über das Maulheldentum, das womöglich Konsequenzen nach sich zieht.

Momentan ist Donald Trump von Menschen umzingelt, die nicht befolgen, was er ihnen auferlegt. Neben Putin tanzt ihm auch Benjamin Netanjahu auf der Nase herum. Sie sind da, sie bleiben da und sie nehmen Trump weit weniger ernst, als er in seiner Selbstverblendung ahnt.

Nun bekommen keineswegs nur Lichtgestalten den Friedensnobelpreis. Henry Kissinger ist unter den Preisträgern, weil er als Außenminister den Vietnamkrieg beenden half – kein Ruhmesblatt, denn vorher hatte er für Eskalation und Ausweitung plädiert. Oder Yassir Arafat, die Ikone der Palästinenser, der zuvor Frieden als die Vernichtung Israels definiert hatte. 

Zur Wahl empfohlen war im Jahr 2014 zum Beispiel auch Wladimir Putin wegen des Engagements im Syrien-Krieg. Ziemlich absurd, weil Russland dort zynisch den eingekreisten Machthaber stützte, um den eigenen Einfluss auszudehnen. Kein Zufall, dass Baschir al-Assad nach seinem Sturz in Moskau Exil nahm.

Trump wäre übrigens der vierte US-Präsident mit dieser erstrebenswerten Trophäe. Neben Obama 2009 waren es Theodore Roosevelt 1906 und Woodrow Wilson 1920. Eine durchaus illustre Reihe.

Donald Trump tut was für den Nobelpreise – er lernt hinzu. Er stört sich jetzt daran, dass in Gaza Kinder hungern und dass russische Drohnen Nacht für Nacht Zivilisten in ukrainische Städten töten. Für ihn sind beide Einsicht neu. Deshalb schickt er seinen Sondergesandten und Golffreund Steve Witkoff zuerst nach Jerusalem und dann weiter nach Moskau. Er soll den Willen seines Herrn nach ein bisschen mehr Frieden überbringen. 

Die Mittel der amerikanischen Außenpolitik sind bekanntlich Ultimaten und Drohungen. Putin bleibt deshalb bis zu diesem Freitag Zeit, eine Waffenpause in der Ukraine einzulegen. Beugt er sich nicht, sollen Strafmaßnahmen die Abnehmer von russischem Öl und Gas treffen. Das sind interessanterweise vor allem Indien und China. Ob Trump wirklich so weit geht?

Israel muss noch keine Konsequenzen für Unbotmäßigkeit befürchten. Nicht zufällig aber erlaubt Premier Netanjahu in diesen Tagen, dass eine größere Anzahl an Lastwagen Nahrung nach Gaza fahren darf. Nicht genug, um die Hungersnot wirklich zu lindern, aber darum geht es ja auch nicht. Ansonsten ist die Diplomatie momentan machtlos. Die Verhandlungen über eine Waffenpause in Katar, die Amerika vorantreiben wollte, liegen auf Eis.

Trump sieht nun ein, dass Netanjahu auf Krieg, aber nicht auf Frieden aus ist. Natürlich könnte er Konsequenzen ziehen und zum Beispiel Waffenlieferungen aussetzen. Die derzeitige Vorherrschaft Israels über den Nahen Osten beruht auch auf der militärischen Überlegenheit der US-Systeme. Soweit will Trump aber offensichtlich nicht gehen. Wie weit aber dann?

Und wie geht es im Verhältnis zu Russland weiter? Zum Fortschritt in Wirklichkeitssinn gehört, dass Trump nunmehr besser versteht, was Putin im Schilde führt, eben Krieg solange zu führen, bis die Ukraine aufgibt oder der Westen die militärische Unterstützung einstellt – aus Interesselosigkeit am Frieden.

Weltmächte sind geübt darin, ihren Einfluss zu überschätzen. Donald Trump ist zusätzlich daran gewöhnt, im Übermaß groß von sich zu denken. Von seinem ungeliebten Vorgänger Obama hätte er schon früher lernen können, dass sich die Geschichte gelegentlich nicht um die Wünsche des US-Präsidenten schert. 

Trotzdem ist es gut möglich, dass sich das norwegische Nobelkomitee im Herbst dem Gedanken nähern wird, auch diesem US-Präsidenten den Preis zu gewähren. Da sich aber mit seinem Namen keine Illusion auf eine gerechtere Welt verbindet, muss er schon wenigstens demonstrieren, dass er, der geübte Umstürzler bestehender Zustände, wenigstens hier oder dort für ein bisschen Frieden sorgen kann.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Was für ein Mensch

Eine Zeitlang habe ich mich mit Norbert Elias beschäftigt. Nicht zum ersten Mal, aber diesmal gründlicher als vor etlichen Jahren. Seine Theorie der Zivilisation imponiert mir in der Sache, in der er empirisches Material verwendet, das keiner vor ihm zur Kenntnis genommen hatte – mittelalterliche Zuchtbücher über das Verhalten am Tisch. Welch weiten Weg wird gehen müssen, um Sitten und Gewohnheiten zu verfeinern, ist erstaunlich. Jedes Kleinkind durchschreitet den Prozess der Zivilisation erneut.

Mehr noch als der Empiriker imponiert mir der Theoretiker. Elias sieht kein Telos, waltend in der Geschichte, keine Eschatologie, nichts. Seine zweibändige Geschichte der Zivilisation gründet auf der Einsicht, dass der Geschichtsprozess ungerichtet, ungeplant, aber folgerichtig verläuft. Der Überschuss an Offenbarung, der sich bei Hegel oder Marx äußert, findet hier keinen Platz.

Elias, 1997 in Breslau geboren, studierte nach dem Ersten Weltkrieg, an dem er als Kriegsfreiwilliger teilgenommen hatte, Philosophie und Medizin in Breslau. In der zionistischen Jugendbewegung lernte er Erich Fromm, Leo Strauss und Leo Löwenthal kennen. Nebenbei arbeitete er als Leiter der Exportabteilung in ein Fabrik für Kleineisenteile. Er war jemand, der sich im Leben auskannte, eher eine Rarität unter Philosophen.

Medizin brach er nach dem Physikum ab. Seine philosophische Dissertation, 1924, beschäftigte sich mit Idee und Individuum. Danach ging er nach Heidelberg, suchte und fand Zugang zum Max-Weber-Kreis, den dessen Witwe und dessen Bruder Alfred hegte und pflegte. Er wollte sich bei Alfred Weber habilitieren, was ihm aber zu lange dauerte. Die Kandidaten mussten sich bei den Koryphäen anstellen, so war das damals. Deshalb ging er mit dem wenig älteren Karl Mannheim nach Frankfurt. Im Jahr 1933 war seine Habilitation („Der höfische Mensch“) fertig; nur noch die Vorlesung fehlte, als Hitler an die Macht kommen durfte. Elias, Jude, ging zuerst nach Paris ins Exil und dann weiter nach London.

Der Irrsinn, den Hitler-Deutschland über die Welt brachte, verhinderte wie nebenbei die Laufbahn, die Elias kraft seiner Intelligenz und seiner großartigen Ideen zustand. Die historische Verzögerung war enorm. Seine Frankfurter Habilitation erschien erst im Jahr 1969, 36 Jahre nach Fertigstellung. Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs hatte er seine zwei Bände über den Prozess der Zivilisation vollendet. Sie wurden erst im Jahr 1976, als sie in einer Taschenbuchausgabe vorlagen, so rezipiert, wie sie es verdienten.

Die vielen Jahre dazwischen hatte sich Elias an englischen Volkshochschulen und unbedeutenden Colleges durchgeschlagen. Spektakulär ist seine Studie (mit John L. Scotson) über Winston Parva, einem fiktiven Vorort einer englischen Industriestadt, mit der wohl Leicester gemeint war. In Winston Parva leben Menschen, die sich weder sozial noch politisch noch ethnisch noch religiös unterscheiden. Die einen haben sich früher angesiedelt als die anderen – darauf kommt es an, das ist entscheidend. Aus diesem profanen Grund schauen sie herunter auf die Spätankömmlinge. Sie fühlen sich überlegen, lassen es spüren und erzielen durchschlagenden Erfolg damit, weil die Neuen sich unterlegen und schwächer fühlen. Sie verinnerlichen die Vorurteile, die ihnen entgegenschlagen.

Die Studie heißt: „Etablierte und Außenseiter“. Sie handelt von den Jahren 1959/60 und ist zum Klassiker der Soziologie geworden. Anstatt Klassen oder andere großräumige Begriffe zu verwenden, ging es um Figurationen, um das Verhältnis der Menschen zueinander, das es empirisch zu erfassen gilt.

Ich habe mich gefragt, wie Elias all die Jahre durchstand, dieses furchtbar lange Interim, ohne ein Jota an seiner Brillanz zu verlieren. Es muss diese Unbeirrbarkeit des inneren Anspruchs geben. Die Kompromisslosigkeit gegenüber Verzweiflung, Dunkelheit, Depression. Das Abwenden von der Gegenwart in den Raum der Geschichte. In seinen Lebenserinnerungen und späteren Interviews klingt an, dass er als Jude im Außenseitertum bewandert war. Was für ein Paradoxon, dass ihm die Leidensgeschichte so geläufig war, dass er seine Haltung bewahren konnte.

Erst spät im Leben wurde ihm Gerechtigkeit in der Wissenschaft zuteil. Da lebte er in Amsterdam, wo er auch begraben liegt. Er kam zurück nach Deutschland, nahm Ehrungen entgegen. Zum Beispiel bekam er den Theodor W. Adorno Preis – ironischerweise muss man sagen, da seine Wissenschaftsauffassung so ziemlich das Gegenteil der Adornoschen war. Sein Nachlass liegt im Marburger Literaturarchiv. Unbearbeitet ist die Korrespondenz zwischen Elias und Pierre Bourdieu („Die feinen Unterschiede“). Die beiden hatten sich sicherlich einiges zu sagen und haben sich bestimmt als Brüder im Geiste geschätzt.

Ich hoffe, der Briefwechsel wird bald herausgegeben und wenn ich demnächst in Amsterdam sein werde, besuche ich Elias‘ Grab. Ein großer Mann, ein ungewöhnlicher Denker, ein unabhängiger Mensch.

Warum macht sich Merz so klein?

Amerika und Israel haben ihre Unterhändler aus Katar abgezogen, womit die leise Hoffnung auf Waffenruhe und Geiselbefreiung mal wieder zerstoben ist. Der Krieg in Gaza geht weiter, immer weiter. Benjamin Netanyahu setzt ihn fort, auf dass seine Koalition, die ihre Mehrheit in der Knesset eingebüßt hat, nicht noch weiter auseinander fällt.

Gaza ist ein Trümmerfeld. Vermutlich mehr als 60 Prozent aller Häuser sind zerstört. Viele der zwei Millionen Menschen hausen zusammengepfercht in Zeltstädten im Süden. Zu wenige Lebensmittel sind über offene Korridore in den Küstenstreifen gelangt. Selbst wenn mehr Konvois hinein fahren dürften, würden die Menschen ohne Waffenpause weiterhin Hungers leiden.

Die israelischen Streitkräfte kontrollieren ungefähr 70 Prozent des Gebiets. Die Hamas ist besiegt, ihre Anführer sind tot, ihre militärische Kapazität ist nur noch ein schwacher Abglanz im Vergleich zur Zeit vor dem 7. Oktober 2023. Militärisch macht die ständige Fortsetzung des Krieges keinen Sinn.

Präsident Donald Trump schien eine Waffenruhe, in Katar vereinbart, durchsetzen zu wollen. Damit ist er gescheitert. Jetzt ist er mit Wichtigerem beschäftigt als mit Krieg und Frieden – mit Vorwürfen aus den eigenen Reihen wegen der Epstein-Affäre. Da er ja entschlossene Staatenlenker schätzt, bekommt Benjamin Netanyahu wieder freie Hand. 

Was tun? Wie kann man Druck auf den israelischen Premier ausüben, da er Kritik an seiner Person und seiner Politik mit Antisemitismus gleichsetzt?

Emmanuel Macron sprach schon länger von der Option, Palästina völkerrechtlich anzuerkennen. Das Zögern hing damit zusammen, dass er hoffte, Großbritannien werde mitmachen. Das Versäumte will Macron im September auf der Uno-Generalversammlung nachholen. Er stellt sich ein entmilitarisiertes Palästina vor, das Israel anerkennt, was zur Sicherheit im Nahen Osten beitragen könnte. Natürlich fordert der französische Präsident Israel und die Hamas zur unverzüglichen Waffenruhe und zur Freilassung der Geiseln auf.

Ist dieser Vorstoß klug oder illusorisch? Wahrscheinlich beides. 

Sinnvoll ist es, auf der Zweistaaten-Lösung zu beharren, gerade weil diese israelische Regierung offensichtlich die gegenteilige Absicht verfolgt – Gaza zu annektieren und die Siedlungen im Westjordanland massiv voranzutreiben. So trifft ein vernünftiger Vorschlag auf die normative Kraft des Faktischen. Und natürlich holt Netanyahu wie gewohnt die ganz große Keule heraus und spricht von der „Startrampe zur Vernichtung Israels“.

Illusorisch ist der Vorstoß, weil, erstens, ein entmilitarisierter Staat schwer vorstellbar ist und weil Europa, zweitens, im Nahen Osten machtpolitisch eine Leerstelle ist. Frankreich betreibt Symbolpolitik, in einem Moment, in dem nichts anderes geht. 

Vermutlich sprach Macron bei seinem Besuch in Berlin das Leiden in Gaza und die Möglichkeit der Anerkennung Palästinas an. Natürlich würde es international maximales Aufsehen erregen, wenn auch Deutschland sich für die Zweistaaten-Lösung ausspräche.

Ist das ganz undenkbar? Vertragen sich die Anerkennung Palästinas mit Israels Existenzrecht als deutscher Staatsraison?

Wenn es mit rechten Dingen zugeht, dann arbeiten Beamte im Auswärtigen Amt und das Team um Kanzler Merz an Optionen, wie weit sie im Verhältnis zu Israel gehen können. Kein Zweifel, die Angst vor der Reaktion in Israel und auch in Deutschland beherrscht die interne Diskussion in der Regierung und deren öffentlichen Einlassungen. Aber schreiten wir doch selber mal den Horizont ab.

Die diplomatische Anerkennung bedeutet keineswegs die Einschränkung oder Preisgabe des Existenzrechts. Sie füllt die Lücke, die Israel ließ, seitdem seine Regierungen die Zweistaaten-Lösung verwarfen. 

Die Gleichsetzung von Anerkennung und Existenzrecht nimmt regelmäßig Premier Netanyahu vor. Der Vorwurf fiele sicherlich verschärft aus, wenn Deutschland dem Beispiel Frankreichs folgen würde. Man kann sich das Echo in Jerusalem ausmalen: Die Deutschen wollen ihre alte historische Schuld los werden und laden jetzt neue historische Schuld auf sich.

Der Überfall am 7. Oktober 2023 löste in Israel blanken Horror aus –  Erinnerungen an finstere Zeiten, was denn sonst. Seither hat sich allerdings einiges günstig gewendet. Die Hamas: zerschlagen. Die Hisbollah: zerschlagen. Iran: geschwächt. Libanon: womöglich auf dem Weg zu einer Etappe mit zivilen Regierungen. Syrien: instabil.

Israel ist zum Hegemon im Nahen Osten aufgestiegen. Seine Streitkräfte sind überlegen, greifen nach Belieben im Libanon und in Syrien ein. Die Rückendeckung aus den USA hat sich im dualen Angriff auf iranische Atomanlagen bewährt. Das Existenzrecht Israels steht momentan nicht auf dem Spiel – oder vorsichtiger formuliert: erheblich weniger als zuvor.

Aus diesem Grund lässt sich Kritik am realen Vorgehen Israels üben, ohne das Gebot der Staatsraison zu verletzen. Die Freiheit nimmt sich die deutsche Regierung allerdings nur maßvoll. Ja, Friedrich Merz rügt milde die Zustände in Gaza. Ja, Außenminister Johann Wadephul macht ebenfalls vorsichtige Anmerkungen über die Opfer in der Zivilbevölkerung. Die Maxime der deutschen Nahost-Politik scheint zu sein: bloß nicht zu weit zu gehen, lieber auf sicherem Gelände bleiben.

Na ja, man kann auch aus lauter Sorge vor dem Echo unter seinen Möglichkeiten bleiben. Vor ein paar Tagen unterschrieben zum Beispiel 29 Staaten einen Aufruf zum sofortigen Ende des Krieges im Gaza und zur Befreiung der Geiseln. Großbritannien und Japan, Italien, Österreich und die Schweiz, die Niederlande und Norwegen gehörten zu den Unterzeichnern des Appells. Nicht etwa verdächtige Israel-Feinde kamen da zusammen, sondern eine illustre Auswahl demokratischer Staaten.

Deutschland fehlte. Deutschland machte nicht mit. Warum eigentlich?

Kritik an einem militärisch sinnlosen Vorgehen wie im Gaza zu üben ist legitim. Die systematische Ausbreitung der Siedlungen im Westjordanland, inklusive Zerstörung arabischer Häuser im Schutz der Armee, als Problem zu benennen, rührt keineswegs an die Grundfesten deutscher Staatsraison. Den Verdacht zu äußern, dass Israel an Frieden nicht gelegen ist, drängt sich auf und grenzt nicht an Antisemitismus.

Unser neuer Kanzler nahm sich vor, dass Deutschland wieder eine hervorgehobene Rolle in Europa und der Welt einnehmen sollte. Dass der Einfluss im Nahen Osten minimal ist, weiß man. Wenn aber andere Staaten nun fordern, was in Katar nicht zustande kam, ist das aller Ehren wert.

Deutschland muss sich im Verhältnis zu Israel nicht kleiner machen, als es ist. 

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Wenn du nicht mehr gebraucht wirst

Achtung und Anteilnahme schlagen dem Unternehmer Wolfgang Grupp entgegen, weil er freimütig über seinen Selbstmordversuch schreibt. Aber warum ist es eigentlich so schwer, dem Leben nach dem Job Sinn abzugewinnen?

Seien Sie skeptisch, wenn Ihnen ein Freund oder ein Bekannter fast schwärmerisch davon erzählt, was er alles machen wird, wenn er erst einmal in Rente ist– dank dieser neu gewonnen Freiheit, dieser Selbstbestimmung. Kann man sich vornehmen, ist aber höchstens die halbe Wahrheit, wie sich im Alltag alsbald herausstellt.

Es sind fast immer gemischte Gefühle, die Menschen am Ende ihres Berufslebens durchströmen. Was soll ich jetzt tun? Wie viele gute Jahre habe ich eigentlich noch? Und wie fülle ich die Lücke, wenn ich nicht mehr wie gewohnt morgens um 7 Uhr aufstehe, frühstücke, das Auto aus der Garage hole oder Bus oder S-Bahn besteige und dann wie jeden Tag mein Büro betrete?

Es ist dieses nagende Gefühl der Endlichkeit, das sich im Leben nach dem Beruf zwangsläufig ausbreitet und ausgehalten sein will. Natürlich wissen wir ein Leben lang, dass am Ende der Tod auf uns wartet. Aber mit 65, 68 oder gar 83 dringt die Tatsache der Sterblichkeit mit ganz anderer Wucht in unser Gemüt ein und kann allerlei auslösen – Unruhe und Schlaflosigkeit, Melancholie und womöglich auch Depression. 

Von diesen Gefühlsstürmen, hat Wolfgang Grupp im Brief an seine Angestellten geschrieben. Zum Eingeständnis der Verzweiflung, in der er Hand an sich legte, gehört viel Mut. Niemand hätte ihm Schweigen über die Tatsache und die Beweggründe  für den Selbstmordversuch verdenken können. Aber der Patriarch, der er immer war, fühlte sich wohl dazu aufgerufen, der Öffentlichkeit zu erklären, was ihn in die Ausweglosigkeit getrieben hatte.

In der Reaktion auf den Freimut, auch im Netz, mischen sich Achtung und Anteilnahme für Wolfgang Grupp. In einem Land, das antikapitalistische Neigungen hat, ist das aller Ehren wert.

Denn Grupp ist ja nicht irgendwer, sondern ein süddeutscher Vorzeige-Unternehmer mit hohem Bekanntheitsgrad. Er war Mr. Trigema, er war der Mann in der Werbung im Dialog mit dem (animierten)  Affen kurz vor der Tagesschau. Makellos gewandet, die Krawatte als Statement, erzählte er in Talkshows stolz, dass seine Firma in Deutschland, und nicht etwa in Asien, Ware fertigen lässt. Wer den Inbegriff eines deutschen Mittelständlers sucht, der das Soziale an der Marktwirtschaft verkörpert, wurde bei Wolfgang Grupp fündig.

Vor zwei Jahren übergab der Patriarch die Firma an Sohn und Tochter. Da war er 81 und wahrscheinlich dazu entschlossen, endlich loszulassen, zurück zu treten, den Kindern nicht drein zu reden. Aber die Generation, der Grupp angehört, im Krieg geboren, definiert sich noch fast ausschließlich durch das Tun, nicht durch das Sein. Ihr fällt es vermutlich besonders schwer, einen Sinn im späten Leben zu finden.

Die großen Fragen, die sich im Alter stellen, sind für alle gleich. Es ist egal, ob man Unternehmer oder Journalist, Handwerker oder Buchhalter war oder auch Millionen-Erbe. Niemand nimmt uns die Antworten ab. Wir müssen sie selber in uns finden. 

Auf unser Gemüt kommt es an – überwiegt die Angst oder die Zuversicht? Von der verbliebenen Kraft hängt einiges ab – was traue ich mir noch zu, was geht nicht mehr? Allem, was wir tun, haftet dieses merkwürdige „noch einmal“ an – noch einmal im Mittelmeer segeln, noch einmal von Hütte zu Hütte hoch oben in den Bergen wandern, noch einmal dies oder jenes.

Es gibt ganze Bibliotheken mit Büchern, die das Glück des Alterns preisen. Vergessen Sie’s. Ein Glück ist das späte Leben nur im Vergleich zur Alternative, dem Tod. Aus meinem kleinen Erfahrungskosmos kann ich Ihnen sagen, dass die einen weitermachen, so lange es geht und das ist nun mal eine Sache der Gesundheit. Die anderen brauchen länger dazu, den Schock über das Nicht-mehr-gebraucht-werden abzuschütteln und manchen gelingt das gar nicht.

So erging es einem Freund, drei Jahre jünger als Wolfgang Grupp, also auch die Generation der Kriegskinder. Der Job war das eigentliche Leben. Das Leben danach aber war ohne Belang. Altersdepression stellte sich ein, gefolgt vom allmählich körperlichen Verfall, schließlich Demenz. Ein Trauerspiel über wenige Jahre, das mich heute noch zu Tränen rührt.

Ein hochbetagter Freund, 91, ist das Gegenbeispiel. Er fliegt noch immer kreuz und quer durch die Welt, kocht regelmäßig köstliche Drei-Gänge-Menüs für Freunde und führt unbarmherzig Tagebuch über die Gemeinheit des Alterns. Bewundernswert.

Und ich? Ich gehöre auch zu denen, die weitermachen, so lange es geht. Wie lange? Keine Ahnung. Schreiben macht mich glücklich. Also schreibe ich, zum Beispiel diese Kolumne und dazu Bücher. 

Zurück zu Wolfgang Grupp. Er scheint froh darüber zu sein, dass sein Lebenstrieb stärker war, als er dachte. Der Respekt, der ihm öffentlich gezollt wird, kann ihm  vielleicht über Untiefen hinweg tragen und noch ein paar gute Jahre bescheren. Zu wünschen ist es ihm.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Spalten kann Spahn

Wir müssen mal ein Rechenexempel anstellen. 630 Abgeordnete sitzen im Bundestag. Für die Wahl neuer Richter in das ehrenwerte Bundesverfassungsgericht ist eine Zwei-Drittel-Mehrheit der anwesenden Mandatsträger erforderlich; das sind im äußersten Fall 420 Abgeordnete.

Die Absprache über drei zu wählende Richter schloss die Grünen ein, so dass insgesamt 413 Abgeordnete aus dieser Oppositionspartei gemeinsam mit der Regierung bereit zu sein schienen, das Bundesverfassungsgericht mit drei neuen Mitgliedern aufzufüllen – zahlenmäßig zu wenige, weil 413 nun mal weniger sind als 420.

Warum eigentlich wiegte sich Jens Spahn, die entscheidende Figur im Rechenexempel, im Glauben, dass die Wahl dennoch gut ausgehen würde? Wo wollte er die fehlenden sieben Abgeordnete herholen, so dass dieses gewünschte Quantum zusammenkäme? Gab es einen Deal – und wenn ja, mit wem? Und was signalisierte er zur Beruhigung des Kanzlers, der ja wohl auch rechnen kann?

Die Regierung ist in eine selbst gestellte Falle gelaufen. Dort drinnen stecken sie in schöner Eintracht – Jens Spahn, Friedrich Merz und Lars Klingbeil. Das dröhnende Schweigen des Oberschwadroneurs Markus Söder zu diesem peinlichen Vorkommnis, das zur Absetzung der Richterwahl von der Tagesordnung führte, ist herrlich beredt. Er begehrt, nicht schuldig zu sein. Er überlässt die Selbstdemütigung großzügig dem unglücklichen Trio.

Es wäre so einfach gewesen. Die Linke drängt sich geradezu danach, mitspielen zu dürfen. Ja, mit ihrem Antikapitalismus, dem Anti-Nato-Kurs und ihrer Russophilie sticht sie unerfreulich heraus. Aber zugleich will sie den Staat mittragen, denn sonst wäre der zweite Kanzler-Wahlgang damals im Mai nicht möglich gewesen. Die Union hätte nur noch einmal, wie etwa bei der Wahl Bodo Ramelows zum Vizepräsidenten des Bundestags, über ihren Schatten springen müssen. Noch besser wäre es, sie würde den  Unvereinbarkeitsbeschluss zur Zusammenarbeit mit der Linken ganz kassieren. Und schon wäre die Regierung aus dem Schneider..

So aber war das Desaster am vergangenen Freitag eine Demonstration, wie schwach es um die Mitte in Deutschland bestellt ist. Numerisch sowieso, denn Union und SPD kommen ja zusammen auf nur 44,9 Prozent, aber eben auch politisch. Vor allem dem Bundeskanzler stünde Konsequenz gut an, anstatt mal so, mal anders aus der Bredouille zu kommen.

Die Abstimmung mit der AfD für eine Verschärfung des Einwanderungsrechts kam im Publikum nicht gut an, so dass Merz die Brandmauer wieder hochzog. Die Linke, um demokratische Legitimation bemüht, behandelte er wieder als Schmuddelkinder, mit denen man nicht spielt, nachdem er sie dringend zu seiner Wahl gebraucht hatte. Wie wäre es mit ein bisschen mehr Geradlinigkeit?

Die Mitte ist nicht länger, was sie mal war – der Stabilitätsanker der Republik. Sie ist schon gar nicht mehr der mythische Ort, wo prinzipiell Wahlen gewonnen werden. Die FDP: abgestraft. Die SPD: marginalisiert. Die CDU: unter ihren Möglichkeiten. Die CSU: in Egomanie erstarrt. Anstatt das Land weiterhin auf gut Glück aus der Mitte zu regieren, muss die Union die Mitte erweitern. Die Alternative lautet aber nun mal: Linke oder AfD.

Für das Freitags-Drama trägt Jens Spahn die Verantwortung. Ureigene Aufgabe des Fraktionschefs ist die Beschaffung der nötigen Mehrheiten für Gesetze oder eben Richter-Wahlen. Vermutlich dämmert dem Kanzler, dass er den Falschen an diesen eminent wichtigen Platz gesetzt hat.

Spahn ist ein Einzelgänger. Ein Provokateur. So ist er zur öffentlichen Figur geworden. Das Spalten liegt ihm näher als das Zusammenhalten. Aus jüngster Zeit im neuen Amt bleibt Folgendes von ihm in Erinnerung:  Mit der AfD sollte man wie man anderen Oppositionsparteien auch umgehen. Und Deutschland müsse eine führende Rolle bei der Diskussion über einen europäischen Atomschutzschild einnehmen. 

Das ist der alte Spahn, dem es aufs Aufsehen ankommt, nicht auf die Sache. Der neue Spahn, auf den Merz gehofft haben mag, ist in weiter Ferne, wie wir seit der abgesetzten Richter-Wahl wissen. Ihm mangelt es auch an Anstand, denn sonst hätte er die SPD-Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf nicht so schmählich als Vorwand für sein Scheitern  missbraucht.

Als sich zu allem Überfluss abgezeichnet hatte, dass einige Unions-Abgeordnete, befeuert von beiden Kirchen, plötzlich unüberwindbare Bedenken überkamen, gefiel es Spahn, die SPD-Kandidatin als Grund zu nennen, weshalb das ganze Verfahren ausgesetzt werden müsse. 

Wenn eine Partei Probleme mit einer Kandidatin oder einem Kandidaten hat, ist es gute Übung, sie diskret im Vorweg zu äußern. Dann wird niemand beschädigt. Dass nun aber die Union erst kurz vor der Abstimmung grundsätzliche Einwände entdeckte, ist armselig. Und dass Spahn einen zu recht hoch umstrittenenen Mann, der sich Plagiatsjäger nennt, als Kronzeugen gegen die Kandidatin heranzog, stellt ihm selber ein vernichtendes Zeugnis aus.

Frauke Brosius-Gersdorf soll sich nun den Unions-Abgeordneten zur Befragung stellen. Warum sollte sie? Muss sie sich für ihre Haltung zum Abtreibungsrecht rechtfertigen? Oder für einen Satz, den sie mit ihrem Mann in ihrer Doktorarbeit geteilt hat? Ich glaube nicht, dass sie zum Rapport antreten wird. Ist sie gut beraten, zieht sie ihre Kandidatur zurück.

Lars Klingbeil muss sich vielleicht bald schon eine andere Kandidatin fürs Bundesverfassungsgericht suchen. Ihm gelingt es nicht, die Krise zu seinen Gunsten zu wenden. Statt dessen macht seine SPD, was sie gerne macht: Sie jammert über die Ungerechtigkeit der Welt und die Infamie der Union. Darüberhinaus fällt ihr nichts ein.

Friedrich Merz und Jens Spahn haben einiges zu bereden. Das Missmanagement, das Rechenexempel betreffend, stellte die Reformen in den Schatten, mit denen die Regierung die deutsche Wirtschaft wieder in die Spur setzen will. Wahrlich eine glanzvolle Leistung.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Einer, dem die Welt zu Füßen liegt

Man kennt das aus Filmen. Ein Attentäter trifft seine Vorbereitungen, denn er will den Präsidenten töten. Er kauft sich eine 1,50 Meter hohe Leiter, die er in seinem Hyundai Sonata unterbringt. Das Schulterstück des Gewehrs lässt sich zusammenklappen und passt so in seinen Rücksack. Der Entfernungsmesser, den er einsteckt, ist unabdingbar für die Feineinstellung auf das Ziel. 

Thomas Mattew Crooks hieß der Attentäter, der heute vor einem Jahr, am 13. Juli 2024, durch einen Belüftungsschacht auf ein schräges Dach stieg. Knapp eine Stunde, bevor er auf Donald Trump schoss, fiel er dem Secret Service erstmals auf. Um 17.52 Uhr sichteten sie ihn, aber ein Baum und die Schräge des Daches behinderte die freie Sicht. Ironischerweise waren unten im Gebäude drei Scharfschützen der Polizei postiert. Sie kamen nicht auf die Idee, das Dach zu inspizieren.

Kurz nach 18 Uhr schoss Cross aus 120 Meter Entfernung mit Kugeln vom Kaliber 5,56 mm. Er traf Donald Trump am linken Ohr, eine Bewegung nach vorne ließ ihn überleben. Ein Besucher der Kundgebung in Butler im Bundesstaat Pennsylvania starb. Den Attentäter erschoss der Secret Service.

Was bleibt, ist dieses ikonographische Foto, das den blutverschmierten Präsidenten, flankiert von einer US-Flagge, mit erhobener Faust zeigt. Mich kriegt ihr nicht, ist die Botschaft dieser Geste, denn ich bin größer als ihr. Hinterher wird er sagen, dass Gott ihn zum Überleben bestimmt hat. Seine Jünger schwadronieren mit seiner Erlaubnis darüber, dass Präsident Joe Biden den Mordbefehl erteilt habe.

Man kann sagen, dass für Donald Trump an diesem 13. Juli 2024 mit dem überstandenen Anschlag auf sein Leben die Glückssträhne begann, die ihn heute noch trägt. Der Triumph über Karmala Harris fiel klarer aus als erwartet. In beiden Häusern des Kongresses besitzt die Republikanische Partei, die aus Gefolgsleuten des Präsidenten besteht, die Mehrheit. 

Trump regiert nach Belieben. Er bekommt, was er will. Er zieht gegen Anwaltsfirmen, die gegen ihn geklagt hatten, vor Gericht und nötigt ihnen Millionen Dollar für seine Bibliothek ab, die er nach der Amtszeit einrichten wird. Er jagt illegale Einwanderer außer Landes oder nach Guantanamo, die Arbeiten verrichteten, die sonst keiner verrichten wollte. Er erhebt Zölle, verschiebt deren Einführung und droht mit mehr. Er erpresst jeden und alle.

Persönliches verknüpft er schamlos mit dem Amt, Geschäft mit Außenpolitik. Seine Söhne und sein Schwiegersohn legen Golfplätze an und ziehen Hochhäuser am Golf hoch, nachdem der Patron politische Deals abgeschlossen hatte. Korruption? Was denn sonst. David Frum, der mal Redenschreiber des Präsidenten George W. Bush gewesen war, nennt ihn „den Mafia-Präsidenten“.

Kein Zweifel, auf Donald Trump scheint die Sonne. Die Welt, mit Ausnahme Chinas und Russlands, liegt ihm zu Füßen. Amerika ist in rasantem Tempo dabei, zur Aristokratie des Hauses Trump zu werden.

Ihm gelingt, was er sich vorgenommen hat. Ihm gestehen die anderen Staats- und Regierungschefs Aufmerksamkeiten zu, die über Schmeicheleien hinausgehen. Er zerlegt Bündnisse und behandelt Freunde wie Feinde. Fehlt nur noch der Friedensnobelpreis, den Barack Obama bekam.

Geht das immer so weiter? Oder bricht die Glückssträhne, die seit dem 13. Juli 2024 anhält, doch irgendwann ab?

Für normale Präsidenten hört zumeist die schönste Phase ihrer Amtszeit nach zwei Jahren bei den Zwischenwahlen auf. Dabei nimmt das Land zumeist Korrekturen vor, so dass entweder im Senat oder im Repräsentantenhaus oder sogar in beiden die Mehrheiten wechseln, in diesem Fall zu den Demokraten.

Donald Trump ist aber kein normaler Präsident. Seine Verächter befürchten, dass er sich rechtzeitig etwas einfallen lassen wird, um die Wahlen zu manipulieren. Kann sein, muss aber nicht sein. Amerika hat sich schon öfter irrwitzige Einlagen über einige Jahre  hinweg geleistet, aber bisher immer rechtzeitig dafür gesorgt, dass die Demokratie über den Versuch, sie auszuhebeln, obsiegte. Auch diesmal?

Kein Zweifel, momentan ist kein Kraut gegen Trump gewachsen. Aber vielleicht werden wir uns irgendwann mal über ihn amüsieren, Grund genug gibt er uns ja. Das schmale Mündchen, die Zementfriseur mit diesen wenigen Haaren, die kindliche Sprechweise, der Florida-Teint: Ist schon komisch, nicht wahr, lädt zum Belächeln ein, auch wenn uns das Lachen jetzt noch im Hals stecken bleibt.

Bis Donald Trump das Glück verlässt und er mehrere Gänge zurückschaltet, kann er noch viel Unheil anrichten, das ihn überdauern wird, schon wahr. Hoffen wir auf die Selbstkorrektur des Amerika, das wir von früher kennen.

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.

Ein Anflug von Realitätssinn

Ab und zu, meistens sehr plötzlich, bekommt Donald Trump einen Anflug von Realitätssinn, zuerst im Nahen Osten und nun auch in der Einschätzung der Lage in der Ukraine. „Wir werden noch weitere Waffen liefern,“ kündigte er an. „Sie müssen in der Lage sein, sich zu verteidigen. Sie werden sehr schwer getroffen.“

Die Ukraine steht Nacht für Nacht unter schwerem Beschuss. Allein im Juni griff Russland mit 5 000 Drohnen, Raketen und Marschflugkörpern Kiew und Charkow, Odessa und Cherson an. Der ukrainischen Armee fehlt es an vielem. Ohnehin grenzt es an ein Wunder, dass sie sich schon seit 1 230 Tagen, Stand heute, gegen die Übermacht an Soldaten und Material verteidigen kann.

Für den Nachschub an elaborierten Waffen sind die USA der Hauptlieferant. Sie verfügen unter anderem über Patriot-Raketen zur Luftabwehr ballistischer Flugkörper, Artilleriegranaten, Hellfire-Raketen und Panzerabwehrwaffen.

All diese Waffen hatten die USA der Ukraine zugesagt. Nun wäre Donald Trump nicht Donald Trump, wenn ihm nicht zwischendurch etwas anderes einfiele. In der vorigen Woche sagte er die Lieferung ab, unter dem Vorwand, das Pentagon muss zuerst einmal Inventur einlegen. 

Was letzte Woche galt, soll also jetzt nicht mehr gelten, was natürlich erfreulich ist. Fragt sich nur, ob die gleichen Waffen, die es gerade eben nicht geben sollte, nun doch ausgeliefert werden oder nur ein Teil davon und wenn ja, welcher?

Niemand interessiert sich mehr als Wolodymyr Selenskji für die Waffensysteme zu Land und in der Luft, die aus den USA kommen sollen. Davon kann er gar nicht genug bekommen, was man natürlich in Washington weiß. Im übrigen tut er alles, um in der Sonne des US-Präsidenten zu stehen.

Seine Botschafterin Oksana Markowa gedenkt er abzuziehen, weil es der Wunsch des Herrn ist. Sie zog sich Unmut wegen ihrer Nähe zu Demokraten zu. Seit 2021 ist sie Botschafterin, der Präsident hieß damals Joe Biden. Sollte sie ihn meiden?

Egal. Was Trump will, bekommt er auch. Selenskji lernte nach seinem legendären Rausschmiss wegen mangelnder Dankbarkeit aus dem Weißen Haus dazu – man kann es ihm nicht verdenken.

Die militärische Lage in diesem langen Krieg ist ja auch ziemlich verzweifelt für die Ukraine. Die kombinierten Drohnen- und Raketenangriffe der russischen Luftwaffe zielen auf Energieanlagen und militärische Infrastruktur in den Städten. Im Südwesten rücken russische Truppen langsam und unter großen Verlusten vor.

Wie viele russische Soldaten schon starben, lässt sich nicht genau sagen. Zahlen bleiben unter Verschluss, da es sich ja nur um eine Spezialoperation handelt. In der ukrainischen Armee und Nationalgarde sind vermutlich 470 000 Soldaten kampfunfähig und 43 000 gestorben.

Der Ukraine mangelt es nicht nur an modernen Panzern und Raketen, sondern auch an Rekruten und an systematischer Ausbildung, für die in Kriegszeiten weniger Zeit bleibt. Ihr mangelt es aber nicht an Drohnen, da ihre eigene Rüstungsindustrie imstande ist, Software für elektronische Kriegsführung, für Drohnen und robotergestützte Waffensysteme herzustellen. 

Zusätzlich liefert Deutschland 4 000 KI-gesteuerte Drohnen. Dänemark und die Niederlande haben zugesagt, dass sie F-16-Kampfflugzeuge stellen werden. Die Finanzierung übernimmt meistenteils die Europäische Union.

Aus zwei Gründen ist die europäische Unterstützung nicht nur großzügig: Je länger der Krieg andauert, desto mehr Zeit bleibt Deutschland und den anderen Ländern dafür, sich für einen möglichen Krieg gegen ein verbündetes Nato-Mitglied vorzubereiten. Und natürlich findet in der Ukraine ein moderner Krieg statt, in dem KI und elektronische Software die Rolle der Zukunft spielen. Deshalb beugen sich die Strategen von morgen über den Krieg heute.

An diesem Donnerstag trifft sich die europäische „Koalition der Willigen“, angeführt von Großbritannien und Frankreich, zur Beratschlagung über den Stand der Dinge in der Ukraine. Tags darauf steht eine Konferenz zum Wiederaufbau der Ukraine an. Man kann nicht behaupten, dass die Europäer zu wenig Solidarität walten lassen. 

Wie lange aber die Ukraine in diesem Krieg durchhalten kann, hängt vom Irrlicht im Weißen Haus statt. Wie man weiß, will er es sich mit Wladimir Putin nicht verderben. Die Unterstützung für die Ukraine bleibt deshalb restriktiv und auch unberechenbar. 

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.