Die ersten israelischen Soldaten sind in den Ausläufern von Gaza City gesichtet worden, in jener Stadt, in der die nächste Offensive ansteht. Die Menschen dort sollen sich aus dem Staub machen, damit sie nicht zu zivilen Opfern werden, wenn der Angriff startet, vermutlich Anfang September.. Dazu fordert sie die israelische Armeeführung auf.
Über die dort herrschenden Verhältnisse hat sich eine Gruppe Wissenschaftler, auf die sich die Vereinten Nationen verlassen, vor kurzem informiert. Sie kommt zur Schlussfolgerung, dass mindestens eine halbe Million Einwohner unter Hungersnot und akuter Mangelernährung leidet. Die anderen zwei Millionen Menschen leiden „nur“ Hungers, was nach zwei Jahren Krieg und der israelischen Versorgungs-Blockade kein Wunder ist.
Was sagt die israelische Regierung zu dieser Einschätzung? Es handle sich um „eine grobe Lüge“, sagte Premierminister Benjamin Netanyahu routiniert. Er nennt sämtliche Vorwürfe wahlweise Lüge oder Hamas-Propaganda und weist das Offensichtliche weit von sich – dass Israel Hunger als Waffe einsetzt.
Netanyahu ist zum dritten Mal Ministerpräsident und gehört seit 30 Jahren zu den prägenden Figuren im Nahen Osten. Schon immer bestand sein Geschick darin, dass er sich als Retter Israels vor seinen Feinden darstellen konnte. „König von Israel“ nennen ihn seine glühenden Verehrer. Er lässt sich gerne schmeicheln.
Die Frage ist nur, ob er, der große Antreiber seit dem Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023, nicht selbst ein Getriebener ist. Und damit ist nicht einmal das schwebende Verfahren wegen Korruption im Amt gemeint.
Antreiber ist Netanyahu in der Vielzahl der Kriege, die Israel seit Oktober 2023 geführt hat. Im Gaza. Im Libanon. In Iran. In Syrien. Gegen die Houthis. Netanjahus Verdienst wird es bleiben, dass er die Feinde Israels gedemütigt und geschwächt hat. So ist Israel zur militärischen Vormacht im Nahen Osten aufgestiegen. Eine erstaunliche Wendung in dieser Region.
Was Netanjahu nicht ist, könnte sich auf mittlere Sicht zum Nachteil Israels auswirken: Er ist kein großzügiger Sieger.
Wenn er nur wollte, könnte er, mit den USA im Rücken, den Nahen Osten neu ordnen. Dazu würden zum Beispiel diplomatische Beziehungen zu Saudi-Arabien gehören. Eine Zäsur wäre das.
Rachsüchtige Sieger, die nicht zu Frieden finden, sind in der Geschichte oft genug in die Sackgasse geraten. Ihre Überlegenheit blieb nicht von Dauer und schlug irgendwann um. Die lange Feindschaft zwischen Deutschland und Frankreich bietet Anschauungsmaterial für die Dialektik, wie ein Sieg in eine Niederlage münden kann – und auch für überraschende Befriedung, wenn sich die richtigen Anführer finden.
Ob noch die Mehrheit der Israelis hinter ihrem Premier steht, lässt sich nur schwer einschätzen. Die Riesendemonstration gestern in Tel Aviv aus Protest gegen die geplante Offensive im Gaza und die Vernachlässigung der Geiseln war eindrucksvoll, keine Frage. Ins Gewicht fällt auch, dass Armee und Geheimdienst vergeblich vor einer Invasion Gaza warnten.
Netanjahu aber lässt sich weder von den politischen Gegnern noch von Generälen reinreden. Er glaubt, vielleicht zu recht, dass die Mehrheit der Israelis hinter ihm steht. Deshalb macht er unbeirrt weiter und weiter.
Solange der Krieg im Gaza andauert, bleibt er Ministerpräsident. Offene Erpressung üben zwei nationalkonservative Minister aus; sie heißen Itamar Ben Gvir und Belazel Smotrich. Beide treten für die Gesamtbesiedlung des Westjordanlandes ein und für die Annexion Gazas. Ihr Ziel ist ein Großisrael, das Teile Libanons und Syriens umfasst, auch Teile Jordaniens. Palästina gibt es aus ihrer Sicht nicht. Die Palästinenser haben in dieser Logik kein Bleiberecht im erweiterten Israel.
Auch Antreiber können Getriebene sein. Netanyahu steht unter dem Diktat der wilden, bunten radikalen Regierung, die ihm die Macht sichert. Er kann es sich nicht leisten, dass ihm auch noch die beiden radikalen Minister den Rückken kehren. Denn zwei der für israelische Verhältnisse typischen Kleinst-Klientelparteien haben das schon Kabinett verlassen, beide aus dem gleichen Grund.
Da Israel, ein Land mit 6,8 Millionen Einwohnern, heute Soldaten und Reservisten für die Offensive im Gaza, für die besetzten Teile Libanons und an der Grenze zu Syrien braucht, sollen auch die Kinder aus orthodoxen Familien Wehrdienst leisten – wie alle anderen Israelis. Aber diese Neuerung führt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen und zerreißt das Land noch mehr, als es ohnehin schon zerrissen ist.
Die Kinder aus orthodoxen Familien waren bisher vom Dienst in der Armee befreit. Sie durften ihr Leben dem Studium der hebräischen Bibel widmen. In den Anfängen Israels waren sie nur eine winzige Minderheit. Heute aber umfassen die orthodoxen Familien eine Million Menschen, das sind 13 Prozent aller Israelis.
80 000 Thora-Schüler zwischen 18 und 24 kommen für den Wehrdienst in Frage. 2 940 haben sich freiwillig einschreiben lassen. Die Armee benötigt aber jährlich mindestens 4 800 Rekruten aus diesen Familien, sagt Brigadegeneral She Tayeb, damit die Armee den Aufgaben gewachsen bleibt.
So zwingt der Krieg Netanyahu zu einem Vorgehen, das er bislang aufs Schärfste abgelehnt hat. Das Ende der Sonderregelung ist ein Einschnitt in der Geschichte Israels und bringt die schlagkräftige Gemeinschaft der Orthodoxen gegen ihren König auf. Deren Parteien dürften bei der nächsten Wahl, spätestens im Herbst 2026, für ihren kompromisslosen Widerstand belohnt werden.
Netanjahus Regentschaft spaltet das Land, kann man sagen. Oder aber ist Netanjahus Regentschaft Ausdruck dafür, wie gespalten das Land ist? Für beide Varianten finden sich gute Gründe.
Aber gibt es eine Alternative? Benny Gantz war Verteidigungsminister im Kriegskabinett. Vor einem Jahr trat er wegen der Gaza-Kriegsführung zurück. Nun unterbreitet er den Vorschlag, eine Regierung der nationalen Einheit zu bilden. Sie soll die Verhandlungen mit der Hamas führen und die Geiseln endlich befreien. Klingt gut, wäre vielleicht sinnvoll, würde das zerrissene Land womöglich etwas mehr einen.
Netanyahu aber dürfte das Angebot ablehnen. Er müsste ja damit rechnen, dass seine Regierung von der Opposition abhängig würde. Kein Zweifel, dass ihm diese Alternative gegen den Strich geht.
Morgen, am Dienstag, wird das Kabinett tagen und voraussichtlich den Plan für die Invasion Gazas billigen. Aus Katar liegt, unter Vermittlung der USA und Ägypten, wieder ein Abkommen zur Waffenpause vor, das angeblich die Hamas unterzeichnen will. Auch darüber wird geredet werden.
Was für eine Alternative: Annexion oder Waffenpause. Wofür sich die Hungernden im Gaza entscheiden würden, liegt auf der Hand. Benjamin Netanyahu aber wird seinen Weg weitergehen.
Veröffentlicht auf t-online.de, heute.